Schweitzer Fachinformationen
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Simon
Dezember 2006
Ich traf den Mann, der mir zweimal das Leben retten sollte - und mein Leben letzten Endes zerstörte -, auf einer mit Schlaglöchern übersäten Straße in der hintersten Ecke von Wales. Er saß am Straßenrand auf einem Seesack, und zu seinen Füßen lagen drei zerdrückte Dosen Cider. Obwohl an den schneebestäubten Hügeln um uns noch morgendlicher Nebel hing, trug er am Oberkörper nur ein T-Shirt mit Harley-Davidson-Aufdruck.
Ich hielt neben ihm an und ließ das Fenster herunter. »Ed?«
Ein barsches Nicken.
»Hi. Ich bin Simon.«
»Du kommst zu spät, Junge. Ich hatte acht gesagt.«
»Tut mir leid, habe mich ein bisschen verfahren. Hier sieht es überall gleich aus, finden Sie nicht?« Ich schenkte ihm mein bestes selbsterniedrigendes Lächeln, das normalerweise auch die eher frostigen Gäste in dem Coffee-Shop auftaute, in dem ich Teilzeit arbeitete. Bei Ed zeigte es keine Wirkung.
Er deutete mit einem Finger auf den zerfurchten Feldweg, der sich auf der anderen Straßenseite durch ein Waldstück schlängelte. »Park da drüben zwischen den Bäumen. Ich will nicht, dass das Auto von der Straße aus zu sehen ist.«
»Wird gemacht.«
Ich lenkte Thierrys Ford Focus unter die Äste eines umgeknickten Baums. Das Kratzen der Zweige am Lack ließ mich zusammenzucken. Mein Atem dampfte, als ich ausstieg, mich streckte und wartete, bis Ed zu mir kam. Ich war völlig durchgefroren (die Heizung des Wagens hatte kurz vor Newport den Geist aufgegeben), und ich verfluchte mich bereits dafür, diese Sache überhaupt ins Rollen gebracht zu haben.
Ed ließ seine Tasche neben das Auto fallen und verabreichte mir einen schwieligen Handschlag. Aus der Nähe betrachtet erkannte ich die aufgedunsene Nase und die gerötete Gesichtshaut eines langjährigen Alkoholikers. Auf seiner Kopfhaut spross dünnes Haar wie das eines Babys. Ich schätzte ihn auf um die sechzig. Willst du diesem mürrischen alten Knacker tatsächlich hinunter in ein Loch folgen, Simon?
»Wo steht denn Ihr Auto, Ed?«
»Habe keins. Bin gestern Abend per Anhalter hergekommen.«
»Den ganzen Weg bis hierher?« Eine beachtliche Leistung: Abgesehen von einem stoischen Schaf war er das einzige Lebewesen, das ich in der letzten Stunde zu Gesicht bekommen hatte. Er roch, als hätte er im Freien übernachtet; seine Kleidung verströmte den Mief von geräuchertem Fleisch. »Ich hätte Sie mitnehmen können, hätte Sie irgendwo aufsammeln können.«
»Schon in Ordnung.«
»Also, ich weiß das echt zu schätzen.«
Ein Schniefen. »Du willst also in die Cwm Pot runter?«
»Ja.«
»Um die Höhlen zu filmen.«
»Genau. In meinen E-Mails habe ich ja schon geschrieben, dass mich interessiert, was in den Achtzigern da unten passiert ist. Dachte mir, das wäre guter Stoff für eine Dokumentation.« Das war natürlich Blödsinn, doch ich hatte nicht vor, ihm den wahren Grund zu verraten, warum ich die Höhlen erkunden wollte, bis ich besser einschätzen konnte, wie er darauf reagieren würde.
»Das Betreten der Höhlen ist verboten. Schon seit zwanzig Jahren.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich Ihnen geschrieben.«
»Und gefährlich ist es auch.«
Verdammt noch mal. »Ja, Ed, ich weiß.«
Er grinste, als wüsste er etwas, von dem ich noch keine Ahnung hatte. Seine Iris waren dunkel, und das Weiß, das sie umgab, hatte einen Gelbstich - Augen wie eingelegte Zwiebeln. »Hast du mein Geld dabei?«
Sag diesem Arschloch, dass du es dir anders überlegt hast, und such verdammt noch mal das Weite. Guter Rat, vernünftiger Rat, doch ich ignorierte ihn. Es war ziemlich aufwendig gewesen, so weit zu kommen, und ich war nicht bereit, das Handtuch zu werfen. Nachdem ich von der Cwm Pot und ihrer grausigen Geschichte erfahren hatte, hatte ich auf der Suche nach einem Führer tagelang in Höhlenkletterforen herumgestöbert und war schließlich auf Ed gestoßen, der als Einziger offen zugab, dass er hin und wieder dort unterwegs war. Er war zweifellos ein alter Miesepeter, doch die anderen Höhlenkletterer im Forum zollten ihm Respekt, deshalb wusste er vermutlich, was er tat. Ich überreichte ihm die dreihundert Pfund, auf die wir uns geeinigt hatten. Er ließ sich Zeit, als er die Scheine zählte. »Und fünfzig extra für die Ausrüstung.«
Mistkerl. »Das war nicht vereinbart.«
»Ist es aber jetzt.«
»Zwanzig.«
»Fünfundzwanzig.«
Er grinste abermals, als ich ihm das Geld gab. Jetzt durfte nichts schiefgehen: In der Hosentasche seiner schmutzigen Jeans waren soeben eine halbe Monatsmiete sowie das Essens- und Bierbudget für die kommende Woche verschwunden. »Hast du Handschuhe und Stiefel mitgebracht, wie ich es dir gesagt habe?«
»Ja. Gummistiefel und Spülhandschuhe, richtig?« Nicht unbedingt das Outdoor-Equipment, das ich gewöhnt war.
Er kramte in seiner Tasche und reichte mir einen Helm, eine Stirnlampe, einen abgenutzten Gürtel, an dem ein altmodischer Karabinerhaken befestigt war, einen gelben Kälteschutzanzug, ein Paar Knieschoner und einen blauen Fleece-Unterzieher, der wie ein riesiger Strampelanzug aussah. »Nimm den als Erstes.«
Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf, und ich gab mir alle Mühe, nicht die wurmartige Narbe anzustarren, die seine eingefallene Brust zweiteilte. Sie und seine graue Körperbehaarung ließen ihn älter wirken, verletzlicher, weniger hartgesotten. »Worauf wartest du, Junge?«
Da ich nicht zimperlich wirken und mich zum Umziehen ins Auto zurückziehen wollte, benutzte ich den Kälteschutzanzug als provisorische Fußmatte, zog mich aus und steckte die Beine vorsichtig in den Fleece-Anzug. Dieser roch genauso nach geräuchertem Fleisch wie Ed.
»Was ist denn mit dir passiert, Junge?« Er beäugte meine Ansammlung von Narbengewebe, das Netzwerk aus erhabenem weißem Fleisch, das meine linke Schulter überzog.
»Kletterunfall. Vor acht Jahren. Ich habe mir das Fußgelenk, den Oberschenkel und das Schlüsselbein zertrümmert. Einen Schädelbruch hatte ich auch.« Ein dummer, vermeidbarer Unfall. Ich hatte vor einer Gruppe Wanderer angegeben und war ungesichert eine einfache erste Seillänge am Cwm Silyn hinaufgeklettert - eine narrensichere Route, die für mich in jungen Jahren ein Spaziergang gewesen wäre. Ich war übermütig geworden und hatte mich bei einem Griff verschätzt, der eigentlich ein Kinderspiel hätte sein sollen, und dann war der Boden auf mich zugerast. »Zwei Monate Krankenhaus.« Ich krempelte das Hosenbein des Anzugs hoch und deutete auf die buckligen Narben an den Stellen, wo Schrauben mein Fußgelenk zusammengehalten hatten.
Wieder ein Grunzlaut. Ein Zeichen von Respekt? Unmöglich zu deuten.
Der gelbe Schutzanzug war eine Nummer zu klein und schnitt unter meinen Achseln und im Schritt ein, hielt die Kälte aber überraschend wirksam ab.
Es wurde Zeit, den Typen an Bord zu holen, schließlich war ich drauf und dran, mit ihm den Tag zu verbringen und äußerst gefährliche Dinge zu unternehmen. »Und, Ed, wie lange sind Sie schon .«
»Wie alt bist du eigentlich, Junge?«
Ich blinzelte. Er hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. »Ähm . achtundzwanzig.«
»Hältst dich für einen hübschen Burschen, oder?«
»Was? Warum fragen Sie das? Nein.«
»Verheiratet?«
»Nein.«
»Freundin?«
»Nein. Was hat das denn damit zu tun, dass .«
»Ein warmer Bruder bist du aber hoffentlich keiner, oder?«
»Nein!« Toll, homophob war er auch noch.
»Bist du sicher, dass du das Zeug dazu hast?«
»Für die Höhlen? Ich denke schon.«
»Du denkst schon?«
»Ich weiß es.«
»Das ist kein Ausflug für Touristen. Es wird anspruchsvoll. Gefährlich.«
»Ich komme schon klar.«
»Erfahrung mit Höhlenklettern?«
»Nein, aber wie ich in meinen E-Mails geschrieben habe, klettere ich schon mein ganzes Leben lang.«
»Was du nicht sagst. Ein paar verweichlichte Wochenendausflüge, habe ich recht? Ein Trip auf den Snowdon und ein bisschen um den Fuß des Ben Nevis spaziert?«
»Ich weiß, was ich tue. Unter anderem habe ich die Aiguilles bestiegen und bin schon mit sechzehn bei Routen der Schwierigkeitsstufe sechs vorgestiegen.« Wichtigtuerisch und eine Übertreibung, aber wenn schon? Er ging mir auf die Nerven.
»Die Aiguilles, hm?« Ein höhnisches Lachen. »Sagt mir gar nichts.«
Meine Verärgerung verwandelte sich in Wut. »Sehen Sie, ich habe für das hier einen weiten Weg zurückgelegt. Wenn Sie mich nicht da runterführen wollen, dann sagen Sie es einfach und geben mir mein verdammtes Geld zurück.«
Ein gackerndes Lachen, ein kurzes Aufblitzen teefarbener Zähne. »Kein Grund, die Beherrschung zu verlieren.« Er rülpste. »Setz dich in Bewegung. Ich will da wieder raus sein, bevor es dunkel wird.«
»Sind Sie sicher, dass Sie mir nicht noch ein paar Minuten lang die Hölle heiß machen wollen?«
»Nein, du bist in Ordnung, Junge. Bevor ich dich mitnehme, musste ich rausfinden, ob du Rückgrat hast.«
»Im Ernst? Sie haben mich nur schikaniert?«
Er zwinkerte mir zu. »Komm von deinem hohen Ross runter. Du bist okay.« Er holte einen Flachmann aus der wasserdichten Tasche, die er über der Schulter trug, und genehmigte sich einen Schluck, dann hielt er ihn mir hin. Ich war kein Fan von harten...
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