Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
2
Idar-Oberstein April - Juli 1827
Als Sophie Keller an diesem Aprilmorgen erwachte, spürte sie schon mit geschlossenen Augen, dass es ein besonderer Tag werden würde. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie das glaubte. Sie wurde einfach durchströmt von der Gewissheit, dass etwas Wunderschönes, noch nie Erlebtes auf sie zukäme. Durch das halb geöffnete Fenster hörte sie Vögel zwitschern, sie roch den Fliederbusch davor, der dieses Jahr früher als sonst blühte. Tief sog sie den frühlingshaften Duft ein. Er vermischte sich mit dem Stroh- und Leinengeruch ihres Lagers. Als sie die Augen aufschlug, sah sie an der lehmverputzten Fachwerkwand das Morgenrot glühen. Noch beim Schlafengehen war Sophie traurig gewesen und hatte zum Herrn gebetet, er möge dafür sorgen, dass ihr Vater freundlicher zu ihr wäre und ihr ebenso viel zutraute wie ihren Brüdern. Danke, Gott!, dachte sie, der Tag fängt gut an.
Sie sprang aus dem Bett, machte Katzenwäsche, kämmte das wellige dunkelblonde Haar, flocht es zu zwei Zöpfen und lief nach unten in die Küche, wo sie ihre Mutter mit den Töpfen klappern hörte. Das regelmäßige Klackklack aus der Eckkammer verriet ihr, dass der Großvater bereits an seinem Webstuhl saß.
»Guten Morgen, Großvater!«, rief sie um die Ecke.
»Gott mit dir, Sophie!«, hörte sie seine vertraute Stimme.
»Morgen allerseits!«
Ihre fünf jüngeren Geschwister hockten der Größe nach um den Küchentisch - Erich, Jakob, Anna, Elisabeth und Georg. Drei von ihnen besuchten schon wie sie selbst auch die Volksschule, doch an diesem Tag waren noch Osterferien. Die Kleinen löffelten ihre knapp bemessene Portion Mehlklößesuppe im Takt aus dem eisernen Kochtopf, der in der Mitte stand. Schon wieder Mehlklöße .
»Vater ist längst in der Schleifmühle«, sagte die Mutter besorgt. »Die Achatschale muss fertig werden. Aber ich weiß nicht, ob wir deinen Bruder damit schicken können. Er hustet so stark.« Wilhelm, der Älteste, hatte sich von einer schweren Erkältung im Winter noch immer nicht erholt. »Es ist besser, wenn er das Bett hütet.«
»Ich bringe die Schale!«, rief Sophie. »Schließlich hab ich Willi schon oft genug zu Meister Severin begleitet.«
Bei Meister Severin arbeitete auch ein tüchtiger Geselle namens Karl. Er war fünf Jahre älter als sie, schon achtzehn. Und er sah nicht nur gut aus, er war außerdem noch klug. Karl wusste eine Menge über ferne Länder, besonders über Brasilien, und hielt immer ein gutes Wort oder einen Scherz für sie bereit.
Sophie wünschte sich den Karl insgeheim als Onkel. Sie hatte schon einen Onkel, Hannes, den Bruder ihrer Mutter, den sie sehr mochte. Er verdiente sein Brot damit, dass er Löcher in Achatperlen bohrte, die später zu Schmuckketten aufgereiht wurden. Onkel Hannes war der lebende Beweis dafür, dass erwachsene Männer auch gut gelaunt sein konnten. Er zauberte mit den Händen für sie und ihre Geschwister Schattenfiguren an die Wand. Auf seinen Knien hatte sie als kleines Mädchen Hoppe, hoppe Reiter gespielt, und er konnte sogar bauchreden. Sie wünschte sich, dass auch Karl mit ihr spielte oder sich von ihr necken ließe. In seiner Nähe spürte sie immer ein aufregendes, angenehmes Kribbeln.
»Geh, frag deinen Vater, ob du ganz allein nach Oberstein darfst«, erwiderte die Mutter zögernd. »Aber zuerst frühstückst du mit uns.«
Brav löffelte Sophie ihre Suppe. Anschließend lief sie gleich zum Idarbach, wo die Schleifmühle ihres Vaters stand. Einen Moment blieb sie am Ufer stehen, tätschelte den Hund, der ihr freudig entgegensprang. Sie liebte es zuzusehen, wie das Wasser des Baches durch das große Holzrad strömte und aufgeschäumt wurde! Wie schön die Wasserspitzer im Sonnenlicht glitzerten, und wie frisch es hier roch!
Aus der kleinen Hütte drangen Rattern und Klackern. Als Sophie die Mühle betrat, lag ihr Vater wie meistens auf dem Bauch in seinem Schleifstuhl und drückte einen schweren Achat gegen den rotierenden Sandstein, über den fortwährend Wasser lief. Es kühlte das durch die Reibung erhitzte Material. Sophie wusste, es war wichtig, damit die kostbaren Stücke aus Achat, Jaspis, Bergkristall, Rauchquarz oder Amethyst nicht überhitzt wurden und Schäden davontrugen. Aber für den Vater war es nicht angenehm.
»Was willst du denn hier?«, brummte er ungehalten.
Er unterbrach seine Arbeit und erhob sich mit steifen Gliedern. Auch ihr Vater hustete öfter, als es gesund sein konnte. Fast alle Schleifer waren krank. Kein Wunder bei der Kälte und ewigen Feuchtigkeit. Zudem legte sich der feine Schleifstaub auf die Lunge. Ihn Tag für Tag einzuatmen schadete den Menschen. Sophie hatte ihrem Vater einmal vorgeschlagen, sich ein Tuch vor Mund und Nase zu binden, doch darüber hatte er nur gelacht. Die Fensterscheiben waren schon wieder zugestaubt, obwohl Sophie ihrer Mutter erst kürzlich beim großen Frühjahrsputz geholfen hatte, sie zu säubern.
»Ich soll für Willi die Schale zum Färben bringen. Er ist noch zu krank«, erklärte Sophie. »Es ist heut schönes Wetter, Vater«, fügte sie hinzu. »Ich kann den Weg gut schaffen.«
Missmutig ging er hin und her. »Na gut«, stimmte er schließlich zu. »Aber pass darauf auf wie ein Luchs! Diese Schale ist für den Oberkammerherrn des Herzogs von Oldenburg bestimmt. Wenn sie kaputtgeht, kriegen wir nicht nur viel Ärger«, er blieb stehen und sah sie finster an, »wir werden dann lange Zeit noch weniger zu beißen haben als jetzt schon.« Er nahm eine runde Schale aus schimmerndem beige- und orangefarbenem Achat von der Fensterbank. »Ich hab sie vorhin erst fertig poliert«, sagte er und fuhr noch einmal mit einem sauberen Lappen über die Kostbarkeit. »Komm, hilf mir beim Verpacken.« Der Vater hüllte die Schale in verschiedene alte Lumpen ein, wickelte einen Bindfaden darum, verknotete ihn mehrfach und verstaute das Paket dann in einem Ranzen, den er Sophie behutsam umschnallte. Er sah sie an, rieb sich an der Nase. Ihr Anblick entlockte ihm ein kleines Lächeln. »Na dann . grüß Meister Severin von mir. Und lass dir von der Mutter noch etwas Wegzehrung mitgeben.«
Das kleine Lächeln war Sophie Ermutigung genug. Weil sie keinen Hunger verspürte, machte sie sich direkt auf den Weg. Wenn sie nicht bummelte, würde sie in spätestens zwei Stunden da sein. Verlaufen konnte man sich nicht, man musste einfach immer nur dem Weg am Idarbach entlang folgen. Und dort, wo er mit dem Fluss Nahe zusammenfloss, begann dann auch schon Oberstein.
Sophie ging gern, am liebsten barfuß. Denn in den Holzpantinen mit dem aufgenagelten Oberleder konnte sie nicht hüpfen und springen. Darauf musste sie allerdings an diesem Tag sowieso verzichten, um die wertvolle Lieferung nicht zu gefährden. So kam sie sich schon recht erwachsen vor, als sie mit zügigen, regelmäßigen Schritten durchs Tal wanderte. Es war noch frisch, ein kühles Lüftchen wehte, doch der Tag versprach, schön zu werden. Am Horizont überzog ein hellgrüner Flaum die Wälder. Sie erstreckten sich über sanft geschwungene Hügel, zwischen denen hier und da schroffe Felsen emporragten. Sophie hatte im Unterricht gut aufgepasst und wusste, dass unter ihnen Vulkane schliefen, die vor langer Zeit aus den Tiefen der Erde auch Edelsteine hochgespuckt hatten.
Sophie freute sich über den Anblick der von gelben Löwenzahnblüten gesprenkelten Wiesen ringsum, am Wegesrand standen Obstbäume in voller Blüte. Sie zählte die Schleifmühlen am Idarbach. Ihre schiefergedeckten Fachwerkhütten fügten sich malerisch in das idyllische Bild ein. Manchmal spielten Kinder davor, mal mähte ein alter Mann mit der Sense Gras, Frauen schlugen am Waschplatz nasse Kleidung auf Felsbrocken, singend oder tratschend. Doch nur wenige Mühlräder sprühten glitzernde Tröpfchen in die Lüfte. Die meisten standen still. Da klapperte nichts am rauschenden Bach. Und wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass die Kinder mager und blass waren, der alte Mann wenig zu lachen hatte und die Frauen am Waschplatz schwer aufpassen mussten, die schon arg zerschlissene, mehrfach geflickte Kleidung nicht ganz zu ruinieren.
Es waren schlechte Zeiten, das wusste auch Sophie schon. Die Eltern redeten fast jeden Abend darüber. Die Vorräte an Achaten und anderen Bodenschätzen galten als beinahe erschöpft. Was seit Jahrhunderten der Bevölkerung gute Verdienste eingebracht hatte, die Förderung und Bearbeitung von Edelsteinen, drohte zum Erliegen zu...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.