Schweitzer Fachinformationen
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Das Fenster schlug mit einem heftigen Knall zu, und Marieke blickte von ihrem Laptop hoch. Offenbar hatte sie die Auflockerung der Wolkenberge zu optimistisch gedeutet. Es goss ja auch seit Tagen ununterbrochen - die stürmischen Böen flauten nicht ab, nur weil mal ab und zu kurz die Sonne durchkam.
Sie schloss das Fenster der ehemaligen Frühstücksveranda, jetzt eine Mischung aus Arbeits- und Esszimmer. Dabei registrierte sie, dass am Gartenzaun ein Mann stand und interessiert das Rankzeug betrachtete, das sich um den verwitterten Holzzaun schlang, der ihren verwilderten Vorgarten begrenzte. Er passte zum Stil des Hauses, wirkte schön nostalgisch, doch einige Latten wackelten. Ich hab nicht mehr alle Latten am Zaun, dachte sie und musste kurz auflachen. So sieht's aus, ist doch irgendwie auch romantisch. Aber ihr Bedarf an Romantik war gedeckt, ein für alle Mal.
Feststellhaken Fenster Veranda notierte sie unten auf einer schon ziemlich vollgeschriebenen Karteikarte mit Stichpunkten für Reparaturen an der Villa Cupani. Seit Monaten arbeitete sie die To-do-Liste ab, strich durch, übertrug Woche für Woche Unerledigtes auf eine neue Karte. Trotzdem wurde die Liste nicht kürzer. Es war schwierig, Handwerker zu bekommen. Aufseufzend fügte sie hinzu: Zaunlatten befestigen und streichen!
Die Nachrichten, die gerade im Radio verlesen wurden, waren alles andere als aufmunternd. Schon wieder trieben regenschwangere Wolken vor die Sonne. Warum zum Teufel hatte sie sich von ihrer Abfindung nach der Scheidung nicht eine moderne, pflegeleichte Wohnung auf Mallorca oder Ibiza gekauft? Warum ein Insulanerhäuschen mit Reparaturstau ausgerechnet im rauen Nordseeklima auf Borkum? Weil du hier am glücklichsten gewesen bist als Kind in den Ferien bei Oma und Opa, gab sie sich tonlos zur Antwort. Weil du dich damals so wunderbar frei gefühlt hast und dieses Gefühl zurückhaben willst.
Der Mann draußen - sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte vierzig - ging jetzt in die Knie, um das Grünzeug näher zu betrachten. Er fotografierte es sogar. Komischer Vogel.
Gedankenverloren wandte sie sich wieder ihrem Laptop zu. Vor einer Stunde hatten sie und die Zwillinge sich per Facetime zu einer kleinen Familienkonferenz zusammengeschaltet und viel gelacht. Ihre Tochter Neele studierte in Münster Kunstgeschichte, hübsch hatte sie ausgesehen, etwas rundlicher als sonst, was ihr stand. Ihr Sohn Jonas, der ein Jahr lang als Backpacker durch Australien zog, hatte sehr witzig von seinem letzten Farmstay mit Schafen erzählt. Beiden ging es gut. Das war das Wichtigste. Alles andere würde sich finden. Ihre Erschöpfung würde vergehen, genau wie ihre Traurigkeit. Und dass sie sich isolierte, obwohl sie jetzt manchmal eine nie gekannte Einsamkeit verspürte, mit schmerzhafter, geradezu metallischer Kälte, auch das würde vergehen. Irgendwann würde sich das Gefühl von Freiheit schon einstellen.
Wenigstens war sie jetzt nicht mehr eingesperrt - und nicht mehr abhängig von Gisbert Kröner, Bauunternehmer in Oldenburg. Aus rosaroten Träumen erwacht, hatte sie spät, aber nicht zu spät, nach einem zermürbenden Ehefinale ihr Leben selbst in die Hand genommen. Sie ließ sich nicht mehr einlullen, einschüchtern und betrügen.
Marieke öffnete per App ihr Aktiendepot. Beruhigend - grüne Zahlen überwogen, das bedeutete Gewinn. Alles in allem konnte sie doch wirklich zufrieden sein mit der Entwicklung. Den Rest ihrer Abfindung hatte sie bei einem Neobroker in Wertpapieren angelegt. Und in Gold. Früher hatte sie gern historische Romane gelesen, deshalb war sie überzeugt gewesen, dass sich in Krisenzeiten stets Gold als Währung behaupten würde. Der Experte ihrer Hausbank hatte ihr zuvor jedoch dringend von Gold abgeraten und stattdessen Fonds seiner Bank angepriesen. Gold wirft doch keine Rendite ab, hatte er verächtlich gesagt. Seine Hochnäsigkeit und die Höhe der verlangten Provisionen hatten sie so geärgert, dass sie ihm abgesagt und sich selbst schlaugemacht hatte, auch mithilfe einer Gruppe gleichgesinnter, an Finanzthemen interessierter Frauen, mit denen sie schon während ihrer Ehe online verbunden gewesen war. Sie hatte viel gelesen über Aktien, ETFs und Anlagemöglichkeiten und bald begriffen, dass solche Geldgeschäfte kein Hexenwerk waren.
Mittlerweile war der Goldkurs deutlich gestiegen. Das wiederum bedeutete, dass sie nicht gezwungen war, sofort Geld zu verdienen. Sie konnte sich überlegen, ob sie weiter als schlecht entlohnte Ratgeberautorin für ein Internetportal arbeiten oder vielleicht im Häuschen ein oder zwei Appartements herrichten wollte, um sie an Feriengäste zu vermieten. Aktuell hatte sie weder zum einen noch zum anderen Lust. Sie klappte ihren Laptop zu und schaute wieder zum Fenster. Kurz sah sie ihre eigene Spiegelung. Eine Frau von Anfang vierzig, weder dick noch dünn, mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, vollen Lippen, blauen Augen und einem leichten Silberblick, der wirklich nur manchmal ein bisschen auffiel und von freundlichen Menschen als sexy beschrieben wurde.
Aus dem Radio dudelte ein alter Song - »No Doubt About It!« Wie herrlich schwelgerisch, losgelöst von Zweifeln und Niedergedrücktheit das klang, so ein Gefühl hätte sie gern mal wieder, doch davon war sie Lichtjahre entfernt. Seit dem Umzug litt sie an Rückenschmerzen und Energiemangel. In der ersten Woche nach ihrer Ankunft auf der Insel war sie so erschöpft gewesen, dass sie eine vom Teller halb unters Sofa gerollte Cocktailtomate nicht hatte aufheben können. Eine Woche lang hatte sie zugesehen, wie sie Tag für Tag weiter zusammenschrumpelte. Dann erst war es ihr gelungen, sich hinunterzubeugen, um sie endlich zu entsorgen. So was durfte man keinem Menschen erzählen.
Marieke strich sich das Haar zurück und sah erneut nach draußen. Der Mann stand noch immer am Zaun, sein Blick wechselte vom Handy zur Pflanze und zurück. Was mochte ihn so faszinieren?
Neugierig trat sie hinaus. »Moin«, sagte sie lächelnd mit einem leicht ironischen Unterton, als sie die Stufen vom überdachten Eingangsbereich hinunter in den Vorgarten ging. »Was gibt's denn da Spannendes?«
»Wissen Sie, was Sie hier für Schätzchen haben?«, fragte der Unbekannte, ohne ihren Gruß zu erwidern, und zeigte begeistert auf einige lilafarbene Blüten, die ein bisschen aussahen wie kleine Schmetterlinge.
Marieke hob die Augenbrauen. »Sind das Wicken?«
»Ja. Allerdings keine gewöhnlichen«, antwortete er. Groß, gute Figur, registrierte sie. Rotblondes Haar, sympathische Gesichtszüge, aber rote Haare, nee, sie stand auf dunkelhaarige Typen. Wie seltsam, dass dieses »Kommt er als Partner infrage?«-Abcheckprogramm noch immer blitzschnell in ihrem Hinterkopf ablief, obwohl sie weiß Gott kein Interesse daran hatte, eine neue Beziehung einzugehen. Vermutlich war das genetisch, und man konnte nichts dagegen tun. Der Fremde wäre ja auch überhaupt nicht ihr Fall. Bei rothaarigen Menschen stellte sie sich immer vor, dass sich ihre Haut kühl und leicht feucht anfühlte. Beinahe hätte sie sich geschüttelt. Woher kam diese Assoziation? Vermutlich hing sie mit der Erinnerung an eine rothaarige Mitschülerin zusammen. Deren Haut, die weiß und glatt wie Marmor schien, hatte sie einmal unabsichtlich nach dem Sport berührt - schweißbedeckt und kühl war sie gewesen. Der kurze Kontakt hatte sie erschaudern lassen. »Das ist eine historische viktorianische Duftwicke«, sagte der Mann strahlend, als hätte er soeben einen Preis gewonnen.
»Aha«, erwiderte sie etwas ratlos.
Er ging erneut in die Hocke. »Die Blüten sind kleiner, duften aber viel intensiver als die üblichen Sorten. Riechen Sie mal!«, forderte er sie auf und schnupperte dann selbst verzückt mit geschlossenen Augen an einer Blüte.
Marieke musste auf die andere Seite des Zauns wechseln. Sie beugte sich neben ihm hinunter, sog den Duft ein. Ja, doch . sehr angenehm. Lieblich, süß, blumig-duftig, vornehm, intensiv, ohne aufdringlich zu wirken. Feminin. Ein wenig altmodisch und . schwer in Worte zu fassen . wie ein schwebendes Versprechen .
»Wirklich etwas Besonderes«, gab sie ihm recht. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass so eine Rarität in meinem Garten wächst.«
Dann fiel ihr ein, dass Neele im Frühjahr ein paar aus Schreibmaschinenpapier gefaltete Tüten voller Samen im Gartenhäuschen aufgestöbert und ausgesät hatte. Vermutlich stammten die Wicken daher. Dass sich bereits erste Knospen geöffnet hatten, war ihr völlig entgangen.
»Blühen sie denn das erste Mal bei Ihnen?«, wollte der Mann wissen, während er sich wieder aufrichtete.
»Keine Ahnung.« Sie erhob sich ebenfalls. Er überragte sie um einen halben Kopf. »Ich bin erst Anfang des Jahres hier eingezogen und noch nicht dazu gekommen, mich richtig mit dem Garten zu beschäftigen.«
Die dominierenden Hortensienbüsche stellten keine Ansprüche und gediehen in herrlichen Farbnuancen von Blau über Lila bis hin zu Rosa. Bei ihrem Anblick musste sie immer an Rilkes Sonett Blaue Hortensie denken.
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rau,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau.
Nachdenklich blickte sie auf das rankende Erbsengrün. »Aber selbst wenn«, fügte sie hinzu, »hätte ich...
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