1. KAPITEL
Aus dem Fenster zu klettern, schien theoretisch eine gute Idee. In der Praxis jedoch .
Verity Hartley wünschte, sie hätte nicht vergessen, dass Vater einige Sprossen des efeuumrankten Spaliers zerbrochen hatte, als er letzte Woche den Romeo für Mutters Julia gab. Jetzt hing sie hier an den Fingerspitzen und ihre Füße baumelten in der Luft.
Und ihre Schwestern hatten mal wieder an allem Schuld.
Als Verity eben am Salon vorbeikam, hatten sie ein neues Stück geprobt. Durch die offene Tür hatte sie Honoria wie eine Königin in der Mitte des Raums stehen sehen, das Haar zu einer goldenen Krone aufgetürmt, wie sie drei ihrer Verehrer anwies, die Chaiselongue auf das Podest in der hinteren Ecke zu stellen.
"Etwas links der Mitte, wenn ich bitten darf. Nein, links meint die andere Seite, zwischen die Pappmaché-Säulen. So, genau - und jetzt noch etwas weiter zurück, nicht so, mehr . Ja, perfekt." Wenn sich eins mit Sicherheit über Honoria sagen ließ, dann, dass sie stets wusste, was sie wollte.
Althea hatte am Schreibtisch gestanden, den dicken, rotbraunen Zopf achtlos über der Schulter, und mit fliegender Feder letzte Änderungen im Stück vermerkt.
"Ich brauche unbedingt noch eine dritte Furie, um die Szene zu vollenden. Sonst könnte ich mir gleich den Klingelzug zum Strick nehmen, um mir die Schmach des Scheiterns zu ersparen."
Mit ihren achtzehn Jahren war Thea die jüngste der Schwestern, und sie zeigte einen ausgeprägten Hang zum Melodramatischen. Ihre Tage auf Erden seien ohne den Hauch von Drama, so ihre ständige Klage, eine endlose Ödnis, in der nichts an ihre Seele rühre. "Wo steckt eigentlich unsere Schwester? Diesen Part könnte man sogar ihr zutrauen."
Und das war der Moment, in dem Verity sich davongemacht hatte, schnell den Flur hinab zum Musikzimmer und durchs offene Fenster hinaus.
Zugegeben, nicht ihre beste Entscheidung. Aber lieber würde sie drei Tage ein härenes Hemd tragen, als sich zu einer weiteren Aufführung überreden zu lassen.
Andererseits, dachte sie und riskierte einen Blick am Saum ihrer olivgrünen Röcke und ihren baumelnden Füßen vorbei auf den stacheligen Wacholderbusch zwei Stockwerke unter ihr, wäre vom Dornbusch gepfählt zu werden auch eine Möglichkeit.
Sie schluckte und wandte sich mit verstärkter Anstrengung wieder dem Spalier zu. Wobei nichts von alledem nötig gewesen wäre, wenn ihre Schwestern sie einfach nur verstehen würden. Doch darauf zu hoffen, würde ein frommer Wunsch bleiben.
Beide waren sie begnadet mit den berühmten Engelszungen der Hartleys und einem Faible fürs Dramatische. Wann immer sie den Gästen nach Tisch eine ihrer kleinen Darbietungen gönnten, zeigte sich das Publikum entzückt. Mit einem einzigen leidenschaftlichen Wort oder einer anmutigen Ohnmacht auf besagter Chaiselongue konnten sie alte Zankäpfel zu Tränen rühren und abgeklärte Unholde wie liebeskranke Jünglinge seufzen lassen.
Nur Verity machte sich auf der Bühne in etwa so gut wie eine Topfpflanze, die seit einem Jahr weder Licht noch Wasser bekommen hatte.
Was gefühlt auch die Zeitspanne schien, die sie schon an der Hauswand hing wie eine vom Vorjahr vergessene Festgirlande.
Während sie mit den Füßen nach Halt suchte, gruben sich die schmalen Holzsprossen schmerzhaft in ihre Handflächen. Zischend biss sie sich auf die Unterlippe und begann, sich ihre Beerdigung auszumalen.
Vater würde eine hervorragende Vorstellung abliefern, sich das Herz halten und all die peinlichen Begebenheiten aus ihrer Kindheit und Jugend zum Besten geben, wie er es in Gesellschaft so gern tat. Mutter hinge, sylphengleich in schwarze Seide drapiert, an seinem Arm. Ihre Stimme würde brechen in Trauer und Ergriffenheit. Und wenn sie fertig waren, würde kein Auge mehr trocken sein.
Truman, der Stammhalter der Familie und als Ältester Mutters Liebling, würde von seinen Reisen zurückkehren, um an ihrer Seite zu sein. Honoria würde Schleier tragen, um in einem letzten Akt der Schwesternliebe ihre Schönheit nicht zur Schau zu stellen. Thea würde in wohlgemessenen Abständen leise schniefen und sich im Geiste Notizen machen, um das tragische Ereignis in einem künftigen Stück zu verwerten. Und Verity? Sie würde vorn in ihrem Sarg liegen und sich wünschen, dass ihr so viel Aufmerksamkeit schon vor ihrem verfrühten Tod zuteilgeworden wäre - der übrigens, so stand es zu befürchten, jeden Moment eintreten könnte.
Doch dann, gerade als sie dachte, sich keinen Moment länger halten zu können, traf sie mit der Spitze ihres linken Schuhs auf Widerstand.
Sie atmete erleichtert auf und ließ die Stirn am Efeu ruhen. Und sollte sie sich bei diesem leichtfertigen Manöver einen juckenden Hautausschlag zuziehen, sei's drum! Es war immer noch besser, als auf einer Bühne zu stehen.
"Ha! Hab ich dich erwischt!"
Verity fuhr ertappt zusammen. Ihr Blick schoss hoch zum Fenster, an dem Honoria stand. "Aber wie konntest du wissen ."
"Wo du steckst?" Ein Paar blasser Augenbrauen wölbte sich unter den kunstvoll zerzausten blonden Locken, als sie über den geweißten Sims spähte. "Du bist einfach zu berechenbar. Ganz ehrlich, ich bin enttäuscht. Von uns dreien solltest du eigentlich diejenige mit ein bisschen Grips sein."
"Nein, bin ich nicht. Ich bin die praktisch Veranlagte und das war praktisch der einzige Ausweg, weil die Treppe von den Hausmädchen blockiert war, die gerade die Teppiche zum Ausklopfen nach draußen brachten."
Honorias geschwungene Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln, und ihre tiefblauen Augen funkelten. "Und hast dabei völlig vergessen, dass Vater das Spalier während unserer Lektion über die Sternstunden der Bühnenkunst ramponiert hat, hab ich recht?"
Verity zögerte einen Moment, bevor sie halbherzig nickte. "Ja, kann schon sein."
"Nun, da ich dich erwischt habe, werde ich meinen Logenplatz nicht verlassen, bevor du wieder im Haus bist. Die Zungenbrecher sind nämlich hier und Thea und ich in der Unterzahl."
Die Zungenbrecher war ihr Spitzname für Percival, Peter und Carlton Culpepper.
Vor Jahren hatte Vater sie deren Namen als Aufwärmübung vor besonders hitzigen Passagen aufsagen lassen, eine Praxis, die sie längst übernommen hatten.
Die drei Culpeppers waren die Söhne eines Landedelmanns aus der Gegend und unverbesserliche Verehrer von Honoria und Thea. Völlig unbeeindruckt davon, wie oft ihre Anträge mit einem Korb bedacht wurden, versuchten sie es doch immer wieder aufs Neue.
Percival hatte einmal um Verity geworben - vermutlich hatte er eine Wette verloren -, aber sein Interesse war schnell wieder erlahmt. Und wen wunderte es, war sie doch die Unscheinbare der Schwestern und mit fast sechsundzwanzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass Männer wie er sich nicht gerade rissen um Frauen wie sie.
Sie hatte sich längst abgefunden, von der Schönheit ihrer beiden jüngeren Schwestern in den Schatten gestellt zu werden. Deren Anblick traf arglose Betrachter wie ein Blitz, und wenn es ihnen nicht gleich die Sprache verschlug, stammelten sie überschwängliche, andächtige Komplimente. Fiel ihr Blick dagegen auf Verity . sahen sie diskret, doch sichtlich enttäuscht schnell wieder weg.
Sie nannte es den Anblick der letzten Weintraube. Denn genau so schaute man, wenn man am Boden der Obstschale bloß noch eine einzige Traube fand, die, vom Stiel gelöst, zwischen den Birnen, Orangen und Pfirsichen hindurchgefallen war, unbeachtet und vergessen, bis ein unansehnlicher grüner Flaum sich auf der längst nicht mehr taufrischen Schale gebildet hatte.
Auch wenn Verity wusste, dass sie keinen unansehnlichen grünen Flaum hatte, zumindest noch nicht.
"Oh, ich werde leider nicht mitmachen können, ich muss ."
Sie überlegte, was wichtig genug sein konnte und halbwegs plausibel klang. Für sie war es eine Frage des Prinzips, Täuschung und Lüge wann immer möglich zu vermeiden.
". noch nach den Vögeln sehen", verkündete sie schließlich und war sehr stolz auf sich. Denn es stimmte, irgendwann später wollte sie tatsächlich bei den Nistkäfigen vorbeischauen.
"Was für eine erbärmliche Ausrede!", stöhnte Honoria. "Ich kann unseren Gästen unmöglich sagen, dass du lieber bunt angemalte Holzkästen anstarrst, als dich ihrer Gesellschaft zu erfreuen."
"Dann denk dir eben eine andere aus. Du weißt ja, dass ich kein Talent für Schwindeleien habe."
Ehrlich gesagt war sie eine komplette Niete im Lügen. Noch so was, das sie nicht mit ihrer Familie gemein hatte.
Insgeheim war sie überzeugt, dass man sie als Säugling ausgesetzt hatte und die Hartleys nur so nett waren, sich ihrer anzunehmen. Und auch wenn sie ihr ans Herz gewachsen waren, fragte sie sich doch bisweilen, ob es nicht besser gewesen wäre, von einem Rudel Wölfe großgezogen zu werden als von einer Sippe Möchtegern-Schauspieler.
Als ihre Schwester einen Blick über die Schulter warf, stahl Verity sich noch ein paar Sprossen weiter hinab, wobei sie die zerbrochenen in der Mitte geschickt aussparte.
"Na gut." Honoria zupfte...