Kapitel 2
Der Anruf hatte Minke Rätsel aufgegeben. Jemand, den sie angeblich kennen sollte, an den sie sich aber nicht erinnern konnte, hatte um ein Treffen gebeten. Verschwörerisch war auf die Unsicherheit von Telefonaten hingewiesen worden, aber auch auf weitere Aktionen zur Rettung des Waldes, die man gemeinsam vorbereiten sollte. Der Anrufer hatte sie zum stillgelegten Bahnhof von Kenzlin bestellt und ließ nun seit zwanzig Minuten auf sich warten.
Vor vielen Jahren hatte jemand versucht, hier eine Gaststätte zu betreiben, und die klassizistische Fassade des Bahnhofsgebäudes aus der Gründerzeit gelb gestrichen. Die Farbe blätterte bereits wieder ab, der Schaukasten für die Speisekarte war eingeschlagen, die Eingangstür mit einer großen Stahlplatte gesichert. Zum Bahnhof gehörte auch ein Fachwerkgebäude, das bald zusammenbrechen würde. Das Dach war eingefallen, ein Torflügel hing schräg in nur einer Angel. Dahinter konnte man sehen, dass illegale Müllentsorger die Halle nutzten: Alles war voller Autoreifen und Elektroschrott.
Auf den rostenden Schienen waren einst Züge mit Direktanschluss in die Hauptstadt gefahren, erinnerte sich Minke. Jetzt sah sie eine Art Draisine nahen, die allerdings nicht durch Muskelkraft betrieben wurde. Ein junger Mann mit Dreadlocks winkte ihr zu, hielt am Bahnsteig und rief: »Einsteigen bitte!«
Minke musterte ihn und erkannte einen der Aktivisten, die im letzten Jahr mit Straßenblockaden den Harvestern ihren Weg in den Wald verstellt hatten. »Einen trostloseren Ort für ein Treffen kann man sich kaum vorstellen, aber jetzt verstehe ich, warum du mich hier abholen musstest«, sagte sie beim Einsteigen.
Das Schienenfahrzeug hatte noch die Antriebshebel, mit denen es früher von Eisenbahnarbeitern bewegt wurde. »Eigenbau!«, erläuterte der Fahrer stolz und streckte Minke die Hand hin, damit sie vom erhöhten Bahnsteig besser auf seine Draisine kam. »Der Handantrieb ist entkuppelt, aber falls die Batterie mal leer sein sollte, kann ich wieder umschalten«, erklärte er.
»Schönes Spielzeug! Wolltest du mir das vorführen oder warum sonst bist du nicht einfach in Suckow vorbeigekommen? Übrigens habe ich deinen Namen vergessen ...«
»Nenn mich Forster, das ist mein Alias im Netz, unter dem kennen mich die meisten Leute.«
»Du bist doch aus Crivitz, oder? Wir haben uns schon öfter gesehen, meist im Naturparkzentrum«, forschte Minke nach.
»Gesehen haben wir uns, aber ich bin in Crivitz nur aufs Gymnasium gegangen.« Forster wollte offenbar nicht über seine Herkunft reden und brachte den Elektromotor wieder auf Touren. Sein Gefährt surrte in Richtung Wald, woher es gekommen war. »Ist richtig toll zum Holzsammeln, das Ding«, grinste er. »Die Waldwege sind fast alle durch Schranken abgesperrt, aber die Schienen haben sie vergessen.«
»Und wenn dir jemand entgegenkommt?«
»Ich bin der Einzige, der noch auf diesen Schienen unterwegs ist. Eine Schande! Perfekte Infrastruktur, aber niemand nutzt sie. Ist sogar verboten! Zum Glück führt die Strecke meist durch den Wald, da sieht mich niemand.«
»Hast du nicht Angst, dass doch mal ein Zug kommen könnte?«, fragte Minke.
»Nö, ist praktisch unmöglich. Kurz vor Parchim hat jemand Dutzende Meter Schienen geklaut, ganz professionell. Wurde nicht repariert. Da steht jetzt ein Prellbock.«
»Eine schöne Strecke«, bemerkte Minke. Vorwitzige Birken und wilde Himbeeren hatten sich bis direkt an die Gleise herangewagt, dahinter ragte eine dunkle Wand aus Fichten und einigen hohen Tannen auf. »Aber jetzt erzähl mal, warum wir uns hier so konspirativ treffen!«
»Ist dein Komkom ausgeschaltet?«, erkundigte sich Forster.
Minke musste lachen: »Das ist sonst immer meine erste Frage. Schön, dass ich nicht die einzige Paranoide bin!«
»Also gut ...« Forster verringerte die Geschwindigkeit der Draisine, sie fuhren nun ein langsames Schritttempo. »Du hast von dieser Geschichte mit Sevendays und der Sklavenarbeit gehört?«
Bei Minke legte sich sofort ein Alarmschalter um. Unwillkürlich spannte sie ihre Muskeln an und beugte sich nach vorn. »Ja, hast du meine Postings gelesen?«
»Ich lese alles, was du schreibst«, bestätigte Forster. »Wollte dir nicht direkt antworten.«
»Du liest alles, was ich poste? Bist du so eine Art Net-Stalker?«
Forster grinste wieder, auf eine teils verschlagene, teils schüchterne Art. »Wegen dir bin ich Aktivist geworden«, gestand er mit abgewandtem Blick. »Was du so geschrieben hast, fand ich immer krass. Dann habe ich dich mal live erlebt und war echt platt. Du kamst auch noch von hier! In dieser Ecke gibt es sonst doch nur Bauern, Nazis und Zurückgebliebene!«
»Na, na!«, dämpfte ihn Minke.
»Doch, ist leider so. Und als die anfingen, hier überall den Wald abzuholzen, hab ich mir gedacht: Da muss was gegen passieren! Deine Artikel dazu waren super!«
Das Bekenntnis entspannte Minke und machte sie zugleich verlegen. Von diesem Bewunderer ging wohl keine Gefahr aus. Er konnte sie schlimmstenfalls aus Naivität in die Klemme bringen. Sein kindliches Gesicht spiegelte jede Gefühlsregung wider: Stolz auf das selbst gebaute Gefährt, Bewunderung für seine Mitfahrerin, Empörung über die Zerstörung der Natur. Im Moment wirkte er befangen, als stehe ihm eine unangenehme Pflicht bevor.
»Das wollte ich dir mal sagen, dass ich deine Arbeit toll finde! Deswegen habe ich aber nicht angerufen«, fügte er hastig hinzu, als er Minkes amüsierten Blick auffing. »Wir sind einer großen Sache auf der Spur ...«
»Wir?«, hakte Minke ein.
»Eine Gruppe Aktivisten. Wir haben keinen Namen oder so. Arbeiten als vernetzte autonome Zellen. Jedenfalls: eine große Sache!« Forster holte Luft und sammelte sich. »Kann ich dir komplett vertrauen?«
»Kannst du – aber nur ...« Minke machte eine Kunstpause, »nur, wenn ihr mich da nicht reinziehen werdet. Ich habe das Gefühl, ihr plant irgendwas Illegales ...«
Erstaunt sah Forster sie an. »Du bist doch selbst ein Hacker, machst ständig illegale Sachen im Netz: geheime Dokumente finden und einstellen. Dafür kannst du auch verknackt werden.«
»Ich bin Hacker, aber kein Cracker! Wir haben unsere eigenen Gesetze, an die wir uns halten. Das müsstest du wissen, wenn du meine Artikel liest.«
Enttäuscht schürzte Forster die Lippen: »Und ich habe dich für eine Piratin gehalten ...«
»Was weißt du schon über die Piraten?«
»Dass du mal Mitglied warst! Beinahe hätte man dich in die Berliner Stadtversammlung gewählt ...«
»Daran kann ich mich kaum mehr erinnern, aber noch gut an eine Grundregel der echten Piraten, also der freien Seeräuber. Auch sie mussten sich an strenge Regeln halten. Sonst hätten sie weder Schiffe entern können, ohne versenkt zu werden, noch anschließend die Beute aufteilen können, ohne sich gegenseitig umzubringen. Genauso haben alle Hacker mit Ehre und Vernunft Regeln, nämlich die der Zivilgesellschaft, nicht die des Staates!«
»Na gut, Zivilgesellschaft«, räumte Forster ein, eingeschüchtert von den einstudiert klingenden Argumenten. »Deshalb machen wir den ganzen Scheiß ja eigentlich, oder? Weil wir uns als Bürger gegen den Staat wehren.«
»Jenseits der Phrasen wird es interessant«, unterbrach Minke den Jungen. »Erzähl einfach mal, was ihr vorhabt. Verpfeifen tue ich sowieso niemanden.«
Die letzten Gefechte eines inneren Kampfes, der eigentlich schon verloren war, spiegelten sich in Forsters Gesicht. Er wollte unbedingt erzählen, etwas loswerden, und zugleich Eindruck bei seinem Vorbild Minke schinden. Nur eine Frage stand dem noch im Wege: »Stimmt es, dass du mal bei den Bullen warst?«
Minke hatte keine Lust zu antworten und schaute ihn verdrossen an: »Willst du mir jetzt was erzählen? Wenn nicht, dann fahr mich bitte zum Bahnhof zurück!«
Die Verteidigungslinien brachen endgültig zusammen, und Forster begann seine seltsame Geschichte. Er hatte davon gehört, dass der abgeholzte Krenzer Wald wieder aufgeforstet werden sollte, und sich als freiwilliger Helfer gemeldet. Überraschend erzählte ihm der Revierförster, die Aufforstung sei bereits organisiert. Nur für ein paar Tage, als die frischen Setzlinge kamen, durfte er mit anpacken und sah überall stille Gestalten in Arbeitskleidung, die mit Sevendays beschriftet war.
Als einer der eifrigsten Leser und Poster im Indy-Forum hatte Forster die Diskussion um Leiharbeiter aus dem Knast verfolgt. Er versuchte, ein paar Worte mit den Arbeitern zu wechseln, um sie auf dieses Thema ansprechen zu können. »Keine Chance!«, berichtete Forster jetzt aufgeregt. »Die waren total eingeschüchtert von ihren Vorarbeitern, die gleich misstrauisch guckten, wenn ich jemanden ansprach. Hielten den Blick immer unten bei der Arbeit, haben nie geredet. Und in der Pause durfte man nicht zu ihnen rüber. Verrückt!«
In einigen abgeschirmten Forum-Threads diskutierte Forster seine Beobachtungen. Es kam die Idee auf, man müsse die Arbeiter befreien. Andererseits war nicht klar, ob es tatsächlich Häftlinge waren, denn nach ihrem Arbeitstag fuhren sie nicht in irgendeine JVA, sondern waren in einer ehemaligen Jugendherberge untergebracht. Die Idee war auch insofern umstritten, als niemand wissen konnte, wegen welcher Straftaten die Häftlinge saßen. Wer wollte schon einen Vergewaltiger befreien?
Nach diskursiven Beiträgen und immer konspirativeren Zirkelschlüssen fanden sich schließlich einige...