Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
«Sind Sie das, Fräulein Johansson?»
Susanne hatte gerade die Eingangstür des Seniorenwohnheims «Ambrosia» geöffnet, als eine dünne Stimme durchs Treppenhaus geweht kam und sie auf der Schwelle festnagelte. Sie hätte wissen müssen, dass die Herzensfreundin der Mutter seit deren Ableben hinter dem Küchenfenster lauerte, um sich sofort auf die enterbte Tochter zu stürzen, wenn sie auftauchte.
«Ja, ich bin's», rief Susanne, nahm schnell die vier Stufen, lief durch den Flur, schloss die Wohnung der Mutter auf und schlüpfte hinein, bevor die Schröder Luft für weitere Fragen holen konnte.
Sie hatte Susanne von jeher mit «Fräulein» tituliert; das war und blieb für die alte Jungfer die offizielle Anrede einer unverheirateten Frau, sei sie fünfunddreißig oder siebzig, wobei sie sich selbst mit einbezog und in gespreizter Würde auf «Fräulein Schröder» bestand.
Trotzdem hatte Susanne immer das Gefühl, dass sie bei ihr eine missbilligende Note hineinlegte, als ob sie ihr Single-Dasein anstößig fand. Was sie wohl tat, da sie wusste, dass Susanne aus freien Stücken allein lebte.
Für die Schröder schien der einzige Grund für Ehelosigkeit ein tragisches Schicksal zu sein, das eine Heirat vereitelt hatte, so wie offenbar in ihrem Fall. Die Mutter hatte Schlimmes angedeutet.
Schon bald nach ihrem Einzug ins Seniorenheim war Klara Johansson zur Vertrauten des Fräuleins erwählt worden und revanchierte sich damit, dass sie die Charaktermängel ihrer abwesenden Tochter zur Diskussion stellte. Die beiden Alten waren sich in der Beurteilung allerdings nicht einig, berichtete die Mutter. Während die liebe Freundin fand, Susanne sei «viel zu egoistisch für eine dauerhafte Bindung», beharrte sie selber darauf, ihre Tochter sei «überhaupt unfähig zu lieben». Sie müsse es am besten wissen, hatte sie gemeint, denn «niemand kennt einen Menschen besser als die eigene Mutter». Wer wagte es da zu widersprechen?
Susanne lehnte im Flur an der Wand, seltsam unwillig, den ersten Schritt ins Wohnzimmer zu tun. Plötzlich nahm sie den Geruch wahr. Es war derselbe Geruch wie im alten Haus; er gehörte zu ihrer Mutter. Jedes Zimmer strömte ihn aus, die Möbelstoffe, Kissen, Vorhänge, Gardinen, Auslegeware und Teppiche, alles roch süßlich-muffig nach jahrzehntelangem Versprühen von Lavendel-Raumspray: sogar bis ins großelterliche Obergeschoss war er damals hinaufgedrungen. Da half kein Lüften, wie Susanne wusste. Kein frischer Wind würde je diesen Geruch vertreiben, der außerdem an ihren Kleidern haftete. Uralt Lavendel Eau de Cologne und Lavendel-Raumspray. Die Mutter ging großzügig mit beidem um.
Susanne atmete flach. Jedes Mal, wenn sie von einem der seltenen Besuche bei ihr nach Hause kam, riss sie sich die Sachen vom Leib, warf alles in die Waschmaschine, duschte lange und zog sich von Kopf bis Fuß frisch an. Das würde auch dieses Mal nötig sein.
Sie gab sich einen Ruck und öffnete die Wohnzimmertür. Der Raum war tadellos aufgeräumt, wie immer, jederzeit dem kritischsten Besucher vorführbar. Kein Hauch von Staub auf dem polierten Teakholz von Tisch und Anrichte, obwohl seit gut einer Woche niemand geputzt habe konnte.
Doch vor allem war noch alles da, wie sie mit einem schnellen Rundblick feststellte. Bisher war keine Ausräumkolonne am Werk gewesen, keine Haushaltsauflösung im Gang, wie die Mutter bestimmt für den Todesfall vorgesehen und mit der Verwaltung verabredet hatte. Vielleicht fand ja zuvor ein annoncierter Totalverkauf aller beweglichen Habe statt, um die Transportkosten zu senken.
Sie war rechtzeitig gekommen.
Aber wofür? Sie wollte doch nichts haben.
Sich nur umschauen.
Susanne ging mit forschen Schritten ins Zimmer, warf die Tasche auf den Besucherstuhl und erstarrte in der Bewegung, das Gesicht zum Stammplatz der Mutter gewendet. Als ob sie erwartete, die kleine, stämmige, graugelockte Gestalt im Tweedrock und Mohairpullover dort sitzen zu sehen, wie mit der Sofaecke verwachsen, das Strickzeug in den Händen, die randlose Brille auf der Nase und den Fernseher voll aufgedreht, da sie zu eitel für ein Hörgerät war.
Doch das Sofa war leer. Die Lamadecke für die Knie lag zusammengelegt in der Mitte, aus dem Strickkorb quoll eine angefangene Arbeit über den Rand, der Fernseher war stumm. Die Südtiroler Puppen auf der Fensterbank hinter dem Sofa waren einmal vollzählig zu sehen, nicht teilweise verdeckt vom Oberkörper der Mutter; die ganze dümmlich lächelnde Schar in Reih und Glied, Weihnachtsgeschenke vom Vater, jahrelang im Voraus während des Herbsturlaubs in Meran gekauft. Ihre Lieblinge.
Susanne spürte einen Kloß im Hals, schaute schnell weg, hinüber zur Einbauschrankwand und ließ die Augen über die bekannten, vertrauten Stücke und Mitbringsel in den offenen Fächern wandern.
Auf einmal stutzte sie, weil sie dachte, es fehle etwas, aber dann fiel ihr ein, dass sie es nach dem Rausschmiss von Ulrich nie mehr gesehen hatte: das silberne Dreiergestell mit den Fotos der kleinen Familie. Hochzeitsbild der Eltern. Kinderbilder von Einschulung und Konfirmation. Bilder der Enkel und Urenkel hatte es nie gegeben. Die gesamte Nachkommenschaft des Sohnes existierte für Klara Johansson nicht. Zuerst hatte sie ihn, später auch die Tochter aus ihrem Leben gestrichen.
Im Grunde genommen hatte die Mutter wohl immer nur für den Vater gelebt, bemüht, ihm über das Schicksal hinwegzuhelfen, Sohn dieser schrecklichen Sippe zu sein. Als sie ihr letztes, endgültiges Testament aufsetzte, die Enterbung der Kinder bestätigte und Großvater Valentins Haus und Grundstück verschenkte, hatte sie alle Johanssons auf einen Streich erledigt. Konsequent. Sie hätte nur noch ihren Namen ändern müssen, damit sie nichts an den verhassten Urahn Johan Gustav erinnerte, mit dem angeblich die «Unheilskette» begonnen hatte.
Ja, was war denn eigentlich so furchtbar an der Bürde, die immer nur als «Familienfluch» oder auch «schlimmes Erbe» bezeichnet worden war?
Was soll's, dachte Susanne. Es war zu spät, Fragen zu stellen. Es war immer zu spät für sie gewesen. Ulrich war bei seiner Geburt freudig begrüßt worden, aber Susanne, der Nachkömmling, war überhaupt nicht geplant und eine böse Überraschung gewesen. Die Mutter hatte ihr Bestes gegeben. Mehr war nicht drin.
Susanne atmete tief, nahm ihre Schultertasche und sah sich abschließend im Zimmer um. Da fiel ihr Blick auf das lackierte, intarsiengeschmückte Nähkästchen auf dem Tisch, das viel benutzte, heiß geliebte gute Stück, das sie beim Hereinkommen gar nicht wahrgenommen hatte.
Vielleicht, weil es Susannes persönliches Gräuel war.
Ohne es recht zu wollen, trat sie näher, blieb unschlüssig stehen, klappte schließlich den Deckel auf und betrachtete mit widerwilligem Respekt das akkurat mit Garnrollen, Nähnadeln, Knöpfen, Gummiband, Stopftwist, Klingen und Reißverschlüssen bestückte Fächerensemble.
Im Grunde war das Kästchen typisch für die Mutter, musste sie auf einmal denken; vielleicht sogar die Quintessenz ihrer selbst: ein Symbol ihrer demonstrativ ausgeübten hausfraulichen Fertigkeiten und Tugenden.
Die geblümte Kittelschürze fiel ihr ein, das Kopftuch bei der täglichen Säuberungsarbeit; die Küche, übersichtlich wie ein Kommandostand; ihr Zwangsunterricht: So saugt man Staub, so putzt man Fenster; das vollzählige Stricknadelsortiment, die Berge von Wollknäueln in durchsichtigen Plastikhüllen; ihr automatisches Sonnenscheinlächeln, wenn der Vater ins Zimmer trat und sie von einer Handarbeit hochsah.
Susanne strich sich über die Haare und wollte gerade den Deckel schließen, als sie ein bräunliches Stück Papier bemerkte, das aus einer Ecke hervorlugte. Irgendwie störte es den Gesamteindruck, fand sie; ein adrettes Spitzendeckchen hätte besser gepasst.
Vorsichtig zog sie das Papier mit Daumen und Zeigefinger hervor und ging damit zum Fenster.
Es war ein altes, an den Rändern abgestoßenes Foto aus einem Porträtstudio des letzten Jahrhunderts und zeigte einen schnauzbärtigen Mann mit hellen, durchdringenden Augen, den sie nie zuvor gesehen hatte. Neugierig drehte sie es um und erkannte die Schrift der Mutter:
Für Susanne
Johan Gustav Johansson, geb. 1852 in Skatelöv, Schweden
Dein Ururgroßvater
Susanne pfiff überrascht durch die Zähne. Der «Alte Schwede»! Vermutlich hatte die Mutter sein Bild für sie hinterlegt, als sie noch Erbin war, es demnach finden sollte. Und später vergessen.
Und dies war ihr Vermächtnis, allerdings kein liebevolles, wie sie nur zu gut wusste. Die Botschaft war klar: Sieh ihn dir gut an, den Urahn, denn du gehörst in eine Reihe mit ihm, an seine Seite; du bist wie er, eine echte Johansson.
Das hatte sie schon über Großvater Valentin gesagt. Ein Wunder, dass sie keine Nadeln in das verhasste Gesicht gepiekst hatte, abergläubisch, wie sie war.
Und aus der Erinnerung tauchten lauter Unwörter vor Susannes innerem Auge auf, deutlich, wie auf eine Schultafel geschrieben, die angeblich mit ihr und dem fluchbehafteten Erbe zu tun hatten; auch mit Ulrich, nur waren sie bei einem Mädchen noch unverzeihlicher: Unordnung, Untreue, Unmoral, und das Schlimmste von allen, Unehelichkeit.
Du hast ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann?!
Du hast dich von ihm getrennt und bist schwanger?!
Du willst den Bastard allein großziehen?!
Du bist nicht mehr unser Kind!
Der Vater habe die Schande nie verwunden, wiederholte die Mutter oft. Susanne sei schuld an seinem frühen Tod. Selbst die Fehlgeburt konnte sie nicht versöhnlich stimmen. «Das Band ist zerrissen!», hatte sie pathetisch gerufen. «Bis zum Jüngsten Gericht.» Alttestamentarisch.
Möglicherweise...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.