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Der Schatten von Waterloo
Endlich hatte der Regen aufgehört. Aber das war der einzige Lichtblick, fand Walther. Noch immer versank er bis über die Knie in dem Morast, den Tausende Pferdehufe und Soldatenstiefel aufgewühlt hatten. Die schmutzige Brühe rann in seine Stiefel und machte sie so schwer, dass er alle paar Schritte stehen bleiben, sie von den Füßen streifen und ausleeren musste. Am liebsten hätte er sie weggeworfen und wäre barfuß weitermarschiert. Doch neue Stiefel waren unerschwinglich. Er konnte auch nicht einem Gefallenen auf dem Schlachtfeld die Fußbekleidung abnehmen, denn dafür waren seine Füße noch zu klein. Auch brachten die Leichenfledderer, die von ihrer Ausbeute lebten, kurzerhand jeden um, der ihnen die Beute streitig machen wollte.
»Eins und eins und eins«, murmelte Reint Heurich, der Musketier, der neben Walther marschierte, und jede Eins bedeutete einen Schritt weiter auf die Heere der Franzosen zu.
Walther graute davor, erneut auf den Feind zu treffen. Erst vor zwei Tagen waren sie mit einem Teil von Napoleons Armee aneinandergeraten und vernichtend geschlagen worden. Ihm erschien es wie ein Wunder, dass es ihren Generälen gelungen war, die eigenen Truppen halbwegs geordnet vom Feind zu lösen und nach Norden zu führen. Dabei hatte ihr Regiment nur gegen das Korps des Marschalls Grouchy kämpfen müssen und nicht gegen den schier unbesiegbaren Kaiser der Franzosen selbst.
Walther wagte es kaum, an Napoleon zu denken, dessen Truppen seit mehr als zwei Jahrzehnten von Sieg zu Sieg eilten und der die Niederlage bei Leipzig ebenso überstanden hatte wie seine Absetzung und Verbannung nach Elba. Nun suchte der Kaiser der Franzosen mit frischen Truppen den entscheidenden Sieg.
»Glaubst du, wir werden ihn diesmal schlagen?«, fragte er seinen Kameraden.
Heurich beendete sein »eins und eins« und sah erstaunt auf ihn herab. »Wen meinst du?«
»Na ihn, den Korsen!«
Heurich schneuzte sich so laut, dass es wie ein Trompetenstoß klang, und zuckte mit den Achseln. »Bonaparte also! Wenn ich das wüsste, wäre ich der klügste Mann auf Erden. Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran. Seine Soldaten haben uns vorgestern so verdroschen, dass uns jetzt noch die Arschbacken flattern. Als Nächstes wird er die Engländer verhauen. Sind keine guten Soldaten, die Engländer, sage ich dir. Halten es mehr mit dem Stehlen als mit dem Kämpfen. Wenn ihre Braunschweiger und Hannoveraner nicht wären, hätten sie sich längst auf ihre Insel verzogen und sich in wohlfeile Gebete geflüchtet, dass Bonaparte nicht auch zu ihnen vordringt. Und ausgerechnet denen sollen wir jetzt zu Hilfe kommen .
Aber jetzt los, Junge! Die anderen sind uns schon weit voraus. Du bist unser Trommelbub, und wir wollen dich trommeln hören. Wenn du andauernd zurückbleibst, marschieren wir auf dem Schlachtfeld womöglich noch in die falsche Richtung, nämlich vom Feind weg!«
Mit einem Lachen half Heurich dem Jungen, seine Stiefel aus einem Schlammloch zu ziehen. Das schmatzende Geräusch erinnerte sie an ihre hungrigen Mägen.
»Was gäbe ich jetzt alles für ein Stück Brot«, seufzte der Musketier und reichte Walther eine Schnur. »Hier, mein Junge, binde deine Stiefel zusammen und trage sie über der Schulter. Mit bloßen Füßen tust du dich hier leichter, als wenn du die Erde von halb Flandern in deinen Stiefeln mitschleppen musst.«
Nun musste auch Walther lachen. »Halb Flandern ist es nicht gerade. Aber die Stiefel sind durch den Matsch und das Wasser tatsächlich arg schwer geworden.«
Er befolgte Heurichs Rat und kam nun besser voran, auch wenn ihn die große Trommel nach wie vor behinderte. Schlimmer noch als dieses unhandliche Ding und die feuchte Kälte war der Hunger, der in seinen Eingeweiden wühlte. Seit sie bei Ligny von den Franzosen zurückgeschlagen worden waren, hatten sie keinen Fouragewagen mehr zu Gesicht bekommen. Das bisschen Brot in seinen Taschen war längst gegessen und, wie Reint Heurich es derb ausdrückte, auch schon verdaut.
»Warum marschieren wir wieder auf die Franzosen zu, wo sie uns doch vorgestern das Laufen gelehrt haben?«, wollte Walther von dem altgedienten Musketier wissen.
»Da musst du schon General Gneisenau fragen - oder den Marschall selbst. Ich weiß nur, dass wir uns mit jedem Schritt weiter von unseren Vorratsmagazinen entfernen. Aufzutreiben ist hier auch nichts, denn alles Essbare haben sich schon die Engländer oder die Franzosen unter den Nagel gerissen.« Heurich spie aus und bedachte sowohl den Feind wie auch die Verbündeten mit wüsten Flüchen.
Walther kämpfte noch immer mit seiner Trommel und hängte sich diese schließlich über die Schulter. Eigentlich hätte er den Marschtakt schlagen sollen. Aber wenn er die Trommel aus ihrem Lederüberzug nahm, würde er das Instrument hinterher mühsam von dem Deck säubern müssen, der ständig von Stiefeln und nackten Füßen hochspritzte. Die anderen Trommler ließen auch nichts von sich hören, und selbst die Flötenspieler waren verstummt.
Jeder war froh, überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Daher hatte sich die Truppe so weit auseinandergezogen, dass Walther den Oberst an der Spitze nicht mehr sehen konnte. Als er sich umdrehte, war auch die Nachhut außer Sicht. Wahrscheinlich würden etliche Soldaten die Gelegenheit nützen und sich in die Büsche schlagen. So war es schon bei Ligny gewesen, wo sie mehr Männer durch Desertieren als durch den Kampf verloren hatten.
»Die Weiber halten sich besser als die Mannsleut!«
Reint Heurichs Bemerkung riss Walther aus seinem Sinnieren, und er nahm nun erst wahr, dass Walburga Fürnagl, die Wachtmeisterin, wie sie ihres Mannes wegen genannt wurde, und deren Tochter Gisela sie eingeholt hatten. Beide kämpften sich mit verbissenen Mienen auf der schlammigen Straße vorwärts. Die Mutter trug einen gewaltigen Tornister auf dem Rücken und schleppte in der einen Hand noch einen großen Beutel. In der anderen Hand hielt sie einen Stock, auf den sie sich immer wieder stützte. Auch Gisela war so voll bepackt, dass Walther sich schämte, dass er die Trommel als zu schwer empfunden hatte. Immerhin zählte das Mädchen gerade mal zehn Jahre und war damit drei Jahre jünger als er.
Eben strauchelte Gisela und fiel in den Matsch. Die Mutter schien es nicht zu bemerken, denn sie marschierte unbeirrt weiter. Walther sah, wie das Mädchen sich verzweifelt aus dem Schlamm zu befreien suchte, und eilte kurz entschlossen zu ihr hin.
»Gib mir deine Hand!«, rief er Gisela zu.
Ihre Rechte war jedoch so voll Schlamm, dass Walther sie nicht richtig zu fassen vermochte und sie am Ärmel hochzerrte.
Nun bemerkte auch die Mutter, dass sie die Tochter verloren hatte, und blieb zwanzig Schritte weiter schwer atmend stehen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle sie zurückkommen, dann aber schüttelte sie den Kopf und sah zu, wie Walther dem Mädchen auf die Beine half und es bei den ersten Schritten stützte.
»Bist ein braver Junge, Walther«, lobte Walburga Fürnagl ihn, als er Gisela zu ihr brachte. »Die Heilige Jungfrau wird's dir vergelten.«
Reint Heurich spie aus. »Lass uns mit deinen katholischen Heiligen und Jungfrauen in Frieden, Wachtmeisterin. Wir sind gute Lutheraner und wollen kein papistisches Zeug hören!«
»Sie hat es doch gut gemeint«, wandte Walther ein.
Obwohl Heurich sein Freund und Beschützer war, ärgerte er sich nun über den Mann. Zwar überwogen in ihrem Regiment die Soldaten aus protestantischen Gebieten, doch Oberst Graf Renitz hatte auch eine Kompanie aus einem aufgelösten bayerischen Bataillon in seine Dienste genommen, und diese Männer hatten sich als gute Soldaten erwiesen. Giselas Vater, Josef Fürnagl, führte als Wachtmeister die Vorhut an. Selbst bei Ligny hatte er die Übersicht behalten und die meisten seiner Männer zurückgebracht. Die Kompanie aber, zu der Walther und Reint Heurich gehörten, war auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Zahl geschrumpft.
Da Heurich mit einem verächtlichen Schnauben weiterging, dauerte es ein wenig, bis Walther wieder zu ihm aufschließen konnte. »Was hast du eigentlich gegen diese Leute?«
»Heute hast du wohl den Fragewurm gefressen!«, knurrte der Musketier. »Ich mag halt keine Katholischen. Die beten zu allen möglichen Heiligen und vor allem zu ihrer Jungfrau Maria, wo doch jeder Mensch weiß, dass nur unser Heiland unsere Seelen retten kann. Halbe Heiden sind das!«
Damit war die Sache für ihn erledigt. Kurz darauf wies er nach vorne. »Wie es aussieht, holen wir auf! Oder haben die dort haltgemacht? Das erscheint mir auch vernünftig, sonst marschieren wir noch in die Franzosen hinein, ohne es zu merken.«
Da hörten sie in der Ferne ein Grollen wie von einem aufziehenden Gewitter.
»Das sind die französischen Kanonen!«, rief Heurich. »Die erkenne ich am Klang. Aber ich glaube nicht, dass die Engländer sich halten. Es wäre besser, wenn wir den Rückmarsch anträten. Vielleicht schließt der König Frieden mit Bonaparte, so dass wir nicht noch einmal unsere Knochen ins Feld tragen müssen.«
Walther hörte Heurich nur mit halbem Ohr zu, denn er vernahm nicht nur das Donnern der Kanonen, sondern auch einen anderen Ton, der zwar leiser war, aber giftiger klang. »Jetzt schießen sie ihre Musketen ab. Wie weit mögen sie von uns entfernt sein?«
»Zwei Stunden Marsch auf trockener Straße, schätze ich, und mindestens fünf auf diesem Schlammpfad. Wir sollten nicht zu schnell gehen, sonst geraten wir noch vor Anbruch der Nacht an die Franzosen. Weißt du, Junge, ich bin seit 1792 dabei, und mir ist mehr Blei um die...
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