Schweitzer Fachinformationen
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Daria nimmt ihre Schutzbrille ab und wischt sich den Schweiß vom Nasenrücken. Es ist ihr erster Sommer in München. Sie blickt zu Renate, die ihre Frisur richtet und dafür die Klinge des breiten Skalpells als Spiegel benutzt. Zwischen ihnen die große Rinderlunge. Als der Professor den Tischreihen den Rücken zukehrt, um die Tafel zu wischen, verdreht Daria die Augen.
»Es ist unerträglich«, flüstert sie.
»Solltest du so eine Hitze nicht gewohnt sein?«, fragt Renate erstaunt.
Daria drückt das Gefühl von Heimweh, das in ihrer Brust anschwillt, hinunter in den Bauch. In den meterlangen Dünndarm muss sie es hineinflechten. Bis es still ist und sich, umwickelt von Darias innerer Boa constrictor, nicht mehr regt.
Sie blickt aus dem Fenster. Die Sonne hinter den Lamellen der Außenjalousien sieht harmlos aus. Eine kleine weißlich gelbe Murmel. Der längliche Saal wird durch kaltes Leuchtröhrenlicht erhellt, das oft genug flackert, um in Daria einen leisen Kopfschmerz anzustoßen. Seit Renate und Harald miteinander ausgehen, hüllt sich Renate zudem täglich in eine Wolke von blumigem Parfum, das Daria fast schmecken kann, wenn sie nebeneinander an der Rinderlunge arbeiten.
Die Regale an der Seite des Saales sind voll mit Geräten, die veraltet aussehen, Schläuche aus getrübtem Kunststoff. Wie viele Generationen von Studenten haben hier schon geschwitzt? In ihren Schutzkitteln sehen Darias Studienkollegen von hinten aus wie Geister, kopflos und konzentriert. Als würden sie etwas Wichtiges tun und nicht in toten Organen herumstochern. Dieses Präparieren ist vollständig unproduktiv. Sie schreiben nicht etwa eine Hausarbeit oder lösen eine Aufgabe oder ein Problem. Sie erschaffen nichts. Sie führen keine Experimente durch, testen keine Hypothesen. Alles, was man durch dieses Durchtrennen von Gewebeteilen erfahren kann, ist der Medizin schon bekannt. Sie reparieren auch nichts, heilen niemanden. Sie nehmen Teile von Lebewesen auseinander, um ihr eigenes professionelles Wissen zu schärfen. Um zu sehen, wie es im Inneren so aussieht. Um zu üben, das Innere freizulegen, zu zergliedern. Wie oft sollen sie das noch machen?
Darias Magen knurrt hörbar. Sie zieht die lange Metallpinzette aus der Luftröhre und kramt nach einem schmalen Skalpell.
»Du hättest doch Nachschlag nehmen sollen«, sagt Renate. »Oder haben dir die Knödel nicht geschmeckt? Das ist okay, mir kannst du es sagen.«
Daria errötet. »Nein, nein, sie waren köstlich.«
Zu Mittag war sie bei Renate und ihren Eltern eingeladen. Renates Mutter hat Germknödel mit Vanillesoße gekocht, wunderbar flaumig, eines von Darias Lieblingsgerichten aus der bayerischen Küche.
»Gefällt es Ihnen denn hier?«, hat Renates Vater gefragt, während Renates Mutter die Knödel servierte.
»Ja, München ist wunderbar«, hat Daria geantwortet. Sobald sie sich bemüht, glücklich zu wirken, klingen ihre Worte hohl, ihre Stimmbänder werden nasse Stofffetzen.
Nachdem alle ihre zwei Knödel verspeist haben, hat Renates Mutter Daria Nachschlag angeboten. Daria hätte in den Knödeln baden können.
»Nein, vielen Dank, ich bin schon sehr satt«, sagte sie, um nicht gierig zu wirken. Sie war immerhin zu Gast. Zu ihrem Entsetzen hat Renates Mutter nicht weiter insistiert und keinen Versuch unternommen, ihr die Knödel aufzudrängen. Sie hat nicht etwa gesagt: »Machen Sie mir doch die Freude, und nehmen Sie noch einen Knödel, nur einen kleinen«, wie Libanesen es tun würden. Nach einem kurzen Moment der Irritation hat Renates Mutter die weiteren Knödel auf die drei Teller der Familienmitglieder aufgeteilt. Das Tor zu den traumhaften Knödeln wurde geschlossen, und Daria hat still und mit sehr geradem Rücken zugesehen, wie Renate, Renates Mutter und Renates Vater ihre zweite Portion verspeist haben. Hundert Knödel hätten das brennende Gefühl der Einsamkeit nicht stillen können.
Daria spannt ihre Bauchmuskeln an, damit ihr Magen aufhört zu rumoren. Im Grunde sind sie immer angespannt. Seit sie hier ist, hatte sie kaum Gelegenheiten, loszulassen. Im Englischen Garten kann sie manchmal durchatmen. Beim Monopteros mit der schönen Aussicht lockert die Boa constrictor ihren Griff. Stundenlang sitzt Daria auf dem Hügel. Die Hippies stören sie nicht, im Gegenteil. Zwischen den Künstlern und den Langhaarigen kann sie verschwinden. Sie kann ungestört alles beobachten, während die anderen um sie herum Haschisch rauchen. Renate war entsetzt, als Daria ihr erzählt hat, dass sie dort gerne Zeit verbringt.
»Sind dort nicht alle nackt?«, hat Renate gefragt.
»Das machen sie anscheinend seit Jahren nicht mehr«, hat Daria beschwichtigt.
Aber seither behält sie ihren Lieblingsplatz für sich.
Als der Professor den Raum verlässt, fangen die fünf angehenden Chirurgen ganz vorne im Saal an zu scherzen und werden immer lauter. Sie machen einen Sport daraus, im Präparierkurs möglichst nonchalant sämtliche tierischen und menschlichen Körper und Körperteile mit Metallklemmen auseinanderzuspreizen - alles, was auf Zweiertischen vor ihnen liegt. Als wären es nicht einst Lebewesen, sondern Dinge gewesen. Daria beobachtet die Männer seit Semesterbeginn. So faszinierend und ekelhaft tote Körper und Körperteile sind, so faszinierend und ekelhaft sind die rabiaten Handgriffe der Chirurgiekandidaten, die in ihnen herumwühlen. In Organen zwischen Rippen, die unter dem Druck ihrer Hände fast zu bersten scheinen. Manchmal kann Daria kaum hinsehen. Diese Chirurgen sind bestimmt grauenhafte Liebhaber.
Jetzt veranstalten sie ein Puppentheater mit den Lungenlappen und lachen laut. Alle anderen im Saal blicken zur Seite oder tun so, als wären sie sehr vertieft in ihre Arbeit. Daria setzt ihre Schutzbrille ab, verlässt ihren Tisch und geht ganz nach vorne. Beinahe stößt sie dabei das Skelett um, das immer an den unpassendsten Stellen positioniert ist. Ständig schieben Darias Studienkollegen einander das Skelett zu. Wann immer man sich umdreht, steht es plötzlich vor einem. Was für ein Mensch es wohl einmal gewesen ist? Es war jedenfalls ein Mann, die Pelvis ist eindeutig. Kein Babykopf könnte sich da hindurchzwängen. Welche Umstände mögen dazu geführt haben, dass dieser Mann ein Demonstrationsobjekt geworden ist? Mit schmalen Metallschlaufen, die seine Knochen in Form halten, für immer entblößt und anonym.
»Werdet ihr auch noch solche dummen Witze machen, wenn ihr an lebenden Menschen operiert?«
Sofort legen die Chirurgen die langen Metallzangen mit den Gewebeteilen ab und verstummen.
»Ich hoffe doch«, sagt Gerhard schließlich. »Wie sollen wir es sonst über uns bringen, Menschen aufzuschneiden - Kinder aufzuschneiden?«
»Was für ein Unsinn«, sagt Daria.
Die fünf Männer sind mindestens einen Kopf größer als sie. Sie streckt ihre Wirbelsäule durch. Ausgerechnet heute hat sie ihre flachen Schuhe angezogen. Will sie die Kollegen zurechtweisen oder von ihnen für attraktiv befunden werden? Sie schiebt den Gedanken beiseite. »Patienten brauchen von uns keine Ehrfurcht, sie brauchen fachmännische Operationen«, entgegnet Gerhard, und die anderen nicken mit ernster Miene.
»Ihr hattet noch keinen einzigen Patienten und wisst jetzt schon, dass eure Patienten dumme Witze brauchen?«
»Humor ist unsere Art, damit fertigzuwerden, dass unsere Arbeit enorm wichtig sein wird. Dass unsere Tagesform über Leben und Tod entscheiden kann. Es braucht nur einen falschen Handgriff . Wenn uns das ständig bewusst ist, dann können wir vor lauter Skrupel niemanden anfassen.«
Als Gerhard »anfassen« sagt, wirft er Daria einen bedeutungsvollen Blick zu, der dieser Situation nicht angemessen ist.
»Man kann auch mit angemessener Ehrfurcht eine fachgerechte Operation durchführen«, insistiert Daria. Sie spricht mit fester Stimme, um Gerhards Blick abzuwehren. Wenn ihre Stimme glatt ist wie die Klinge eines Skalpells, dann prallen Blicke dieser Art an ihr ab. Seinem betonten »anfassen« hält sie betonte »Ehrfurcht« entgegen.
»Ihr seid alle zufällig der gleichen Meinung wie Gerhard?«, fragt sie.
Die Männer nicken und sehen für einen Moment aus wie kleine Jungen. Jungen von 1,90 Metern Größe mit vollen Haaren und spitzen Zangen in den Händen. Wie kann es sein, dass alle fünf die gleichen sehr großen, sehr weißen Zähne haben? Verblichene Dominosteine ohne Punkte, Elfenbeinquader.
Der Professor betritt wieder den Saal, und Daria geht zurück an ihren Tisch.
»Ihre Protokolle liegen bitte bis morgen Mittag in meinem Postfach.«
Ein leises Raunen geht durch den Saal. Der Professor verteilt Klemmbretter mit Protokollvorlagen und bleibt bei Darias und Renates Tisch stehen.
»Saubere Arbeit, Fräulein Wagner.«
»Danke«, sagt Renate und errötet.
»Bei Ihnen auch, Fräulein Haddad.«
Daria bedankt sich. Wenn er ihren Nachnamen sagt, klingt es wie »hadert« - Daria hadert.
Die Chirurgen werfen Daria Blicke zu, die sie nicht deuten kann. Sie ist müde. Wie hat ihre Mutter es geschafft, ganz alleine in Beirut zu studieren? Woher nahm sie ihre Entschlossenheit? Ihre Mutter ist vor dem Krieg geflohen. Durch den polnischen Schnee, in Zügen, auf Schiffen. War in der Fremde, in ständiger Gefahr. Daria hingegen ist mit dem Flugzeug und einem Studentenvisum nach Deutschland gekommen, ihr Reisepass in einem neuen, schicken Lederetui. Das Zimmer zur Untermiete bei Freunden ihrer Eltern wurde für sie vorbereitet, wie alles andere auch. Und dennoch. Dieses Leben fällt ihr schwer. Sie kann hundertmal durch den Englischen Garten spazieren, und obwohl er wunderschön ist, macht er nichts besser. In München gibt es kein Meer. Hier wird es auch heiß, doch die Hitze ist eine...
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