Schweitzer Fachinformationen
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Es war immer schon ein Akt der Auflehnung gewesen, wenn auch unsichtbar.
Dass es gefährlich war, was wir taten, war uns bewusst. Und vielleicht war es genau dieses Risiko, entdeckt zu werden - so winzig es war und für andere Augen fast nicht zu erkennen, kunstvoll in die Muster unserer Stickereien verwoben -, das uns mutiger werden ließ und uns dazu brachte, immer mehr zu wagen.
Wir waren nicht alle miteinander verwandt, doch die Kunst, Fäden und Garn in einzigartige Ornamente zu verwandeln, verband uns, hier, auf diesem Fleck Erde, wo die kleinen Dinge mehr zählen als große Ereignisse, wo der Boden aus rissigem Lehm so von der Zeit und vom Kummer gezeichnet ist wie das zerfurchte Gesicht meiner Tante Firmina und wo das Schicksal der Frauen so schmucklos erscheint wie die ungleichmäßige Rückseite dessen, was wir als Einziges ganz allein und aus eigenem Willen gestalten konnten: unsere Stickerei. Alles andere gehörte uns nie selbst.
Meine Freundin Vitorina hatte uns in den Besitz dieses Wissens gebracht, als sie von einer Leiter aus das Geheimnis erspähte, das aus der Hauptstadt zu uns gelangt war.
»Was machst du da, Mädchen?«, fragte Dona Hildinha, als sie bemerkte, wie ihre Tochter durch einen Spalt im Dach ins Gästezimmer hineinspähte.
»Lass mich, Mamã, ich versuche etwas zu lernen, das einmal sehr wertvoll für uns sein kann.«
Dank Vitorinas Neugier gelangte die Kunst der Venezianischen Spitzenstickerei, die seit Jahrhunderten die Altäre Europas zierte und deren Technik nur Nonnen in den Klöstern großer Städte beherrschten und streng hüteten, nach Bom Retiro, zu uns.
Ein Zufall, ein loser Faden des Schicksals, durch die Cousine einer Cousine einer Cousine von Vitorina zu uns gebracht, die meiner Freundin den Verrat nie verzieh, ihr das Geheimnis entlockt zu haben.
Sie war Küchenhilfe in einem sehr strengen Kloster, wo sie nach vielen Jahren durch ihre treuen Dienste das Vertrauen der Nonnen gewonnen hatte und schließlich in die Kunst ihrer Spitzenstickerei eingeweiht worden war. Zunächst misstrauisch, beschränkten die Nonnen sich darauf, ihr nur die einfachen Stiche zu zeigen. Irgendwann aber, als sie von der Aufrichtigkeit ihres Charakters überzeugt waren, erachteten sie sie für würdig, auch die komplizierteren Techniken zu erlernen.
Vitorinas entfernte Cousine hatte ein »Händchen dafür«, wie man damals sagte, und sie war verschwiegen, was beides unerlässlich war für eine Hüterin dieses Geheimnisses. Als sie zum Ende des Jahres verkündete, die Feiertage bei ihren Verwandten im Landesinneren verbringen zu wollen, schärften die Nonnen ihr ein:
»Wenn du dort, wo du herkommst, stickst, tu es verborgen vor anderen Blicken.«
Ihrer Dienstherrschaft stets gehorsam, tat sie auch diesmal, wie ihr gesagt wurde. Um das vor allen Heiligen abgelegte Versprechen zu halten, arbeitete sie nur im Gästezimmer allein und im gelblichen Licht einer Talgkerze.
Doch über ihr stand Vitorina auf ihrer Leiter und beobachtete sie, fest entschlossen, herauszubekommen, was ihre entfernte Cousine da tat, bei praller Sonne im dunklen Zimmer und hinter geschlossenen Fenstern.
Sie sah so lange zu, bis sie sich jede Bewegung gemerkt hatte.
Über ein rollenförmiges Kissen gebeugt, stickte die junge Frau mit einer Nadel die unterschiedlichsten Muster.
Schlinge, Besen, Turm, Adergeflecht. Spinne, Mond, Puffmais.
Sonnenuntergang, ewige Liebe und - mein Liebstes - der Korbboden, der mich weniger wegen der Form faszinierte als der Bezeichnung wegen, die wie eine Drohung klang und wie ein Versprechen zugleich. Ein noch unerschlossener, fremder Raum, die Aussicht auf Glück oder das genaue Gegenteil, was auch immer sich dort befinden mochte - eine Silbermünze oder ein Skorpion - und sich nur zu erkennen gibt, wenn man beherzt und mutig ganz weit in die Tiefe tastet.
Natürlich hießen die Muster damals nicht wirklich so.
Als sie zu uns kamen, in unser Tal am Fluss Pajeú, trugen sie fremde Bezeichnungen, die wir nie erfuhren. Doch je mehr wir uns die Stiche aneigneten, desto mehr sahen wir ihre Ähnlichkeit mit den Dingen um uns herum und benannten einen nach dem anderen danach, als gehörten sie immer schon uns.
All die Nachmittage, die ich über mein Kissen gebeugt verbrachte, dachte ich mir Namen für Stiche aus, die ich vielleicht selbst noch erfinden würde. Nicht, dass ich den Anspruch gehabt hätte, es wirklich zu tun, aber eine kurze Unachtsamkeit würde genügen, ein Faden, der sich unbeabsichtigt mit der Nadel verhedderte, und schon wäre es entstanden: ein neues Muster.
Es wäre das erste auf diesem sonnenverbrannten Boden, das nicht wie die vorherigen aus dem Ausland stammte, einen Ozean weit entfernt von unserem Sertão, nicht von Nonnen herübergebracht, sondern durch Vitorina von einer Leiter herab ausgespäht.
Bachlauf, Morgentau, Sonnenaufgang.
Diese Namen hatte ich mir insgeheim ausgedacht für mein erstes eigenes Muster, das es vielleicht nie geben würde. Entstanden im Hochland der Trockensteppe, wo auch der Cangaceiro Virgulino zur Welt kam, der damals, im Jahr des Herrn 1918, erst anfing, sein Unwesen zu treiben. In Bom Retiro erfuhren wie davon jedoch erst Jahre später. Eine Männergeschichte, geräuschvoll und auffallend anders als die unsere, die sich im Gegensatz dazu fast unmerklich abspielte, schweigend und flüsternd.
Mir war klar, dass ich beim ersten Anblick des von mir erfundenen Musters genau wissen würde, welchem Ding aus der Wirklichkeit es ähnlich sah. Wie es Müttern mit ihren Kindern geht. Gibt die Mutter dem Spross einen Namen, der nicht zu ihm passt, nennt ihn Nonato zu Ehren des Großvaters, versucht das Kind lebenslang einem Casemiro zu ähneln. Daher gibt es so viele Spitznamen. Dinge suchen sich ihre Namen selbst, nicht die Leute.
Als die Cousine einer Cousine ihrer Cousine wieder zu Hause in ihrem Kloster war, verbreitete sich das Geheimnis, das Vitorina durch einen Spalt zwischen Dachziegeln ausgespäht hatte, unter allen, die es gern lernen wollten. Bald schon fand sich eine Gruppe von Frauen zusammen, darunter auch ich, um täglich gemeinsam zu sticken: Tischläufer, Platzdecken, feine Servietten.
Und es dauerte nicht lang, bis eins unserer Stücke den Weg in die Hauptstadt fand. Es war einer Dame aus gutem Hause geschenkt worden, die es einer anderen Dame aus gutem Hause zeigte und die es bei Keksen, Tee und Kokosgebäck wiederum einer weiteren Dame aus gutem Hause vorführte.
»Sehen Sie nur, wie fein gearbeitet! Obwohl es aus dem Hinterland stammt, aus der Nähe von Serra Talhada. Es könnte genauso gut aus Europa sein. Wo kann man so etwas kaufen?«
Und dann kamen die ersten Bestellungen.
Wenn sich Damen aus der feinen Gesellschaft für etwas begeistern, nutzt immer jemand die Gelegenheit, ihnen das Leben noch leichter zu machen und selbst daran zu verdienen.
Nach nur wenigen Wochen kam ein Mann in unsere Stadt, der einen dunklen Anzug trug und noch stärker schwitzte als unsere Männer. Er sagte, er sei gekommen, um das, was wir herstellten, zu einem für uns und für ihn guten Preis zu erwerben.
Tante Firmina übernahm die Verhandlungen. Sie war die Älteste von uns, hatte keine Kinder, die ihre Zeit in Anspruch nahmen, und konnte daher Bestellungen aufnehmen und abrechnen, was jeder Einzelnen aus unserer Gruppe von dem eingenommenen Geld zustand.
»Ohne mich würde der Kerl uns doch glatt übers Ohr hauen. Für so ein festliches Tischtuch wollte er nur ein paar Groschen geben, nein, wirklich! Ein Glück, dass ich da bin, so kann ich herausschlagen, was uns zusteht«, erklärte sie stolz.
Als dann die ersten Münzen des Mannes im dunklen Anzug vor uns auf dem Tisch lagen, staunten wir andächtig, und der Augenblick kam uns unermesslich vor.
Als wäre es gar nicht unser Geld, als wären es Museumsstücke mit einem Schild versehen, auf dem »Nicht anfassen!« stand.
»Und das gehört alles uns?«, fragte Vitorina, als wollte sie es noch immer nicht glauben.
Bis dahin war das Sticken von Nadelspitze für uns nur ein Zeitvertreib für die Nachmittage in brütender Hitze gewesen.
Einige fertigten Spitze...
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