Das Jahr 1956 war zwei Tage alt, als ich die Türkei mit meinem blauen Pass über Griechenland verließ. Ich hatte Angst, dass mich die Seekrankheit wieder einholen würde, aber nichts geschah. Irgendwo in Griechenland stieg ich um, in ein Schiff nach Italien, und lernte auf diesem Schiff einen älteren deutschen Herren kennen. Wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte ihm meine Geschichte und hatte bis dahin noch nicht genau gewusst, wohin ich eigentlich wollte. Nach Deutschland natürlich, das war sicher. Aber ich traute mich nicht zurück in das kleine Dorf. Der gute Mann bot mir an, nach Oberhausen zu kommen, er hätte dort seinen Wohnsitz und bräuchte wohl noch ein Hausmädchen. 'Oh, Schicksal!' dachte ich und war froh, dass es mir eine Entscheidung abgenommen hatte.
So blieb ich in einer kleinen Stadt namens Oberhausen und wurde Hausmädchen. Anfangs gingen mir meine Aufgaben schwer von der Hand, denn ich war nicht ausgebildet im Hausdienst. So fing ich also erst einmal mit den niederen Arbeiten an. Saubermachen, Kartoffeln schälen, Betten machen. In der Diele stehen, wenn der Hausherr kam. Ich weiß nicht mehr, was noch alles.
Ich war kaum zwei Wochen im Haushalt, bekam bislang kein Geld für mein Tun, nur ein Bett und drei Mahlzeiten am Tag, da fiel in diesem Jahr mein Geburtstag auf einen Freitag. Ich wurde volljährig. Und was bei allen anderen als Unglückstag galt, wurde mir zum Glückstag. Ich bekam ab da wöchentlich ein wenig Taschengeld, und ein kleiner Sekretär wurde mir ins Zimmer gestellt. Irgendwann fing ich an, Briefe zu schreiben. Çingiz ließ mich nicht los, blieb in meinen Träumen und schlich sich immer wieder in mein Tagewerk. Ihm selber einen Brief zu schreiben, das traute ich mich nicht. Seine Mutter bekam meine Post. Über zwei Jahre hinweg schrieb ich seiner Mutter Briefe. Sie schrieb anfangs oft zurück, doch ich las aus ihrer Schrift nie sicher, ob ich nun die richtige Frau für ihren Sohn war oder eben nicht. Sie schrieb natürlich immer in Türkisch. Die ersten Briefe waren unglaublich schwer zu lesen und ebenso schwer zu schreiben. Tagelang saß ich an einem Blatt des ach so langen Briefes und schaute auf ihre Umschreibungen. Die Grammatik war mir geläufig, und so lernte ich von Brief zu Brief all die Vokabeln, die mir die Fischer vorenthalten hatten.
Irgendwann schrieb ich das Türkische so gut, dass mein Dienstherr mich im Sommer 1958 in sein Büro zitierte. Ich bekam eine andere Uniform. Nicht mehr die des Hausmädchens, sondern eine feinere. Er übergab mir einen von ihm geschriebenen Brief und ein Wörterbuch und trug mir auf, mich um mein Türkisch zu kümmern. Also fing ich an, mir mühsam den Brief zu erarbeiten. Aus diesem einen Brief wurde im Laufe der Zeit eine stetige Korrespondenz, und aus meiner Mühe wurde Routine.Fortan sollte ich meinem Dienstherrn meine Fähigkeiten in der Briefschrift zur Verfügung stellen und nebenbei auch noch das Italienische und das Französische lernen. Beides blieb jedoch Zeit meines Lebens hinter meinen türkischen Sprachkenntnissen zurück, allenthalben reichte es eben für meine Arbeit. Seitdem sparte ich mir mein Taschengeld, und meine Briefe an die Mutter gingen immer still mit dem Stapel aus dem Büro, in dem ich arbeitete, so musste ich keine Briefmarken bezahlen.
An dem Tag, als ich in die Kleider einer Sekretärin stieg, bekam ich auch meinen Bundesdeutschen Pass. Wie mein Dienstherr das angestellt hatte, ist mir nur schleierhaft in Erinnerung geblieben. Er bat mich eines Tages um eine Unterschrift auf einem Formular für Heimkehrer aus den Kriegsgebieten. Soweit ich mich erinnern kann, galt das zwar nur für Männer, trotzdem sollte ich unterschreiben und damit meine westdeutsche Staatsbürgerschaft besiegeln. Ich lebte gut, wurde stets umsorgt und konnte mir immer ein wenig von meinem Taschengeld beiseite legen.
Mein Dienstherr nahm mich immer öfter auf seinen Reisen mit. Er hatte weder Frau noch Kinder. Das war Grund genug für die daheim gebliebenen Angestellten, ein Gerücht in die Welt zu setzen: Sie vermuteten, dass mich mehr als nur Freundschaft mit unserem Brötchengeber verband, aber ich schwöre bei Gott und meiner lieben Mutter, dass er mich nicht ein Mal unflätig angesprochen, geschweigedenn angefasst hat. In seinen Augen war ich mittlerweile eine Art Tochter geworden. Wir verstanden uns gut. Auch brauchte ich nach wie vor noch jemanden, zu dem ich aufschauen konnte. Meinen Vater hatte ich ja nicht mehr. Ich überlegte oft in der Zeit, ob ich nicht einmal um Urlaub bitten und in mein Heimatdorf reisen sollte, doch ich überlegte zu lange. Drei Jahre später war es zu spät. Der Weg nach Hause war endgültig versperrt, denn die sogenannten deutsch-deutschen Beziehungen wurden von den Amerikanern und Russen auf Eis gelegt und erkalteten zusehends, bis ein Riss durch die Hauptstadt ging, auf den eine Mauer gebaut wurde. Mein Dienstherr fuhr trotzdem noch auf die andere Seite Deutschlands, um dort (wie ich damals dachte) Geschäfte zu machen. Dorthin durfte ich leider nicht mitkommen.
Wenn er dann wieder heimkam, erzählte er, wie groß die Bemühungen dort drüben waren und wie sehr doch immer noch Propaganda die Medien bestimmte. Mir trug er auf, nicht alles zu glauben, was man mir über meine Heimat erzählte. Das war mir zu der Zeit ein großer Trost, denn viel Gutes hörte ich nicht über den Teil Deutschlands, den meine Eltern bewohnten. Ich glaube, mein Dienstherr sorgte sich wirklich um mich, er fragte mich aus über meine Vergangenheit in Deutschland, über meine Zeit in der Stadt an der Meerenge. Und er fragte mich, wie mein Gefährte hieß.
An einem Samstag im Winter 1962 klopfte er stürmisch an meine Zimmertüre und bat hastig, so, als ob jemand schnell eine Idee aussprechen müsse, um sie nicht zu verlieren, um eine Unterredung. Das Abendbrot nahmen wir an diesem Tage allein ein, und bald wusste ich um den Grund seines aufgeregten Gemüts: Am Abend zuvor war er lange weggeblieben, was mich nicht weiter verwundert hatte. An manchen Freitagen hatte mein Dienstherr es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Zubettgehen ein oder zwei Gläser Bier in einer kleinen Bar unten am Ende der Straße zu trinken. Dort nun hatte er durch einen befreundeten Richter Informationen eingeholt und sich zu dem Entschluss durchgerungen, sein Dienstmädchen als Tochter anzunehmen und mich zu adoptieren. Nun hatte er Blumen kaufen und ein paar Kerzen auf unseren Esstisch stellen lassen, um seiner folgenden Bitte einen feierlichen Rahmen zu geben. So gingen wir hinunter ins Esszimmer und ließen uns einen Wildschweinbraten in Pilzrahmsauce zum Abendbrot schmecken. Währenddessen erzählte er mir von seiner Jugend, von seinen Eltern, wie er zu seinem Haus kam und warum er keine Frau hatte. Was er genau arbeitete, erzählte er mir nicht. Spät am Abend - Wein lockerte schon unsere Zungen - kam er auf das eigentliche Thema zu sprechen und bat mich um die Zusage, mich adoptieren zu dürfen. Ich lebte nun schon seit über sechs Jahren im Hause meines Dienstherren, wurde von ihm verköstigt und erhielt Taschengeld. Das alles waren gute Voraussetzungen, wie er meinte. Ihm fehlte nur meine Zustimmung. Nachdem er mir nun noch Erbschaft, vereinfachte Reisemöglichkeiten und anderes dargelegt hatte, stimmte ich frohen Herzens zu. Eigentlich hatte sich ja nichts geändert, nur dass ich wieder eine Familie hatte. Auch auf unsere Dienstmannschaft hatte das keinen weiteren Einfluss, die einen freuten sich mit mir, die anderen hielten nach wie vor das Gerücht über ein gemeinsames Bett aufrecht. Mir war das egal.
Am 25. März 1962 war es dann soweit: Ich nahm den Namen meines Dienstherren an, und im Prinzip begann ab da für mich ein neues Leben. Ich erinnere mich deutlich an dieses Datum. Nicht nur, weil man einen so bedeutsamen Tag nicht so einfach vergisst, sondern weil man mir später erklärte, dass genau an diesem Tag vor 141 Jahren die Griechen ihre Unabhängigkeit von den Osmanen erlangt hatten. An dieser Begebenheit haben die Osmanen und späteren Türken bis heute schwer zu tragen. In einer Diskussion mit meinem - ja, wie soll ich sagen - Ziehvater legte er mir dar, dass die völkische Antipathie zwischen den beiden Staaten genau darauf zurückzuführen sei.
Im Sommer - mittlerweile schrieb mir die Mutter meines Freundes aus der Stadt an der Meerenge nicht mehr, und doch schrieb ich ihr mindestens einmal im Vierteljahr, was mir in Oberhausen widerfuhr, welche Neuigkeiten es aus Deutschland gab (natürlich schrieb ich auch über meine Adoption) - im folgenden Sommer des Jahres 1962 also unternahmen wir wieder eine Dienstreise. Ich durfte mich fein anziehen, mein Kopftuch aus Indien - mittlerweile ein wenig blasser - umbinden und eine kleine Tasche tragen, in der sich ein paar Stifte, ein Block Papier und ein wenig Wangenrouge befanden. Im Laufe der Vorbereitungen bot mir mein Ziehvater fast beiläufig das "Du" an, womit er mich aus einer langjährigen Verlegenheit befreite, da ich nie so richtig wusste, wie ich ihn ansprechen sollte. Es dauerte aber noch sehr lange, bis ich mich vollends daran gewöhnte "Rainer" zu ihm zu sagen.
Ich war nun seit einem Vierteljahr eine Obersekretärin und Ziehtochter und durfte auf fast alle Wochendienstreisen, vorrangig nach Italien, mit, auch wenn ich kaum mitbekam, worum es meinem Ziehvater eigentlich bei seinen Reisen ging. Leider wurde ich auch aus den Briefen, die ich übersetzte, nicht viel schlauer. Mal erzählte er einfach nur, was hier in Deutschland los war, mal bat er um Informationen, die er in seinem Unternehmen weiter verwerten konnte. Doch obwohl er mir vertraute, erfuhr ich nicht alles, ich gab mir jedoch auch Mühe, meine Neugier nicht gar zu sehr zu zeigen. Irgendwann würde...