1. KAPITEL
Butterhill Hall
England
1871
Emma Clark dachte ernsthaft darüber nach, sich einen Liebhaber zu nehmen. In ihr tobte ein Verlangen, das dazu führte, dass sie Männer - alle Männer, ob klein oder groß, schlank oder rundlich, alt oder jung - mit Lust ansah.
Eine sündige und wahrscheinlich unverzeihliche, aber unbestreitbare Tatsache.
Nachdem sie die Mitglieder ihres Haushaltes als potenzielle Kandidaten in Augenschein genommen hatte, hatte sie sich für Mr. John Karlsson entschieden, den neuen Stallmeister auf Butterhill Hall. Er sah aus, als wäre er etwa in ihrem Alter - zweiunddreißig Jahre -, hatte flachsblondes Haar, Arme, die so dick waren wie ihre Oberschenkel, und ein vergnügtes Lächeln, das in seinen blauen Augen funkelte.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu den Ställen zu gehen, um ihm beim Training der Pferde zuzusehen. "Das Pferd ist heute aber ganz schön bockig!", rief sie ihm dann zum Beispiel zu.
Woraufhin er lachte. "Toby würde direkt zum Meer laufen, wenn ich ihn ließe."
Oder sie bemerkte, wie überaus gepflegt das Erscheinungsbild der Tiere war. "Sie glänzen so schön", sagte sie anerkennend, und er erwiderte stolz: "Ja, Mylady, ich habe einen neuen Burschen, der versteht es, mit der Bürste umzugehen."
Manchmal, wenn einer der Stallburschen ein Pferd auf dem Paddock herumscheuchte, um dessen Gänge zu prüfen, stand Mr. Karlsson im Paddock mit dem Rücken zum Zaun, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, und schaute zu. Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Er roch nach Pferd und nach Sonne und Salz.
Emma stieg dann gern neben ihn auf die untere Verstrebung des Zauns und beugte sich zu ihm, um mit ihm Smalltalk zu machen. Sie spielte verschiedene Szenarien in ihrem Kopf durch, verschiedene Möglichkeiten, wie sie ihn fragen könnte, ob er eine Geliebte haben wollte. Das meiste verwarf sie als nicht zielführend oder peinlich. Es lag ihr nicht, einen Mann zu bezirzen, und sie war sich auch nicht im Klaren darüber, was als anstößig und was als verführerisch angesehen werden könnte. Sie hatte sogar darüber nachgedacht, ihre verheiratete Schwester in dieser Sache zu konsultieren, aber es stand zu befürchten, dass Fanny ob ihres Ansinnens mit Entsetzen reagierte und einen ganzen Nachmittag damit verbringen würde, ihr eine Standpauke zu halten, warum sie so etwas niemals tun dürfe.
Dann hatte Emma beschlossen, dass er derjenige sein sollte, der den Vorstoß wagte, und überlegte, wie sie ihn dazu bringen könnte, ihr ein unmoralisches Angebot zu machen.
Nach tagelangem Plaudern über Pferde war sie allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es nie zu etwas führen würde, wenn sie nicht die Zügel in die Hand nähme. Ironischerweise hatte sie plötzlich eine Idee, die von allen, die ihr im Kopf herumgegangen waren, die am wenigsten ungeheuerliche zu sein schien - sie würde ihn bitten, ein Pferd für sie zu satteln. Sie war nicht die beste Reiterin, aber für ihren Zweck reichten ihre diesbezüglichen Künste vollkommen aus, und sie dachte, es könnte ihr gelingen, sich vom Pferd zu stürzen, und zwar auf eine so dramatische Weise, dass ihre Rettung erforderlich sein würde.
Sie hoffte nur, dass es nicht allzu arg wehtun würde. Oder dass sie sich weder Arm noch Bein brach. Oder noch schlimmer, das Genick.
An dem Tag, an dem sie ihren Plan ausführen wollte, machte sie sich früh auf den Weg zu den Ställen. Aber als sie dort eintraf, musste sie feststellen, dass Mr. Karlsson in Begleitung eines jungen Mädchens von vielleicht sieben oder acht Jahren war. Sie hatte dasselbe flachsblonde Haar wie er und war genauso schlank gebaut. Emma beobachtete, wie er das Mädchen hochhob und herumwirbelte, sodass ihre Zöpfe wie Luftschlangen flogen. Das lachende Mädchen war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Was bedeutete, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit verheiratet war.
Was leider auch auf Emma zutraf.
Na ja. Sie änderte ihren Kurs und entfernte sich rasch in eine andere Richtung, wobei sie ihre enttäuschten Hoffnungen, ihn als Liebhaber zu gewinnen, hinter sich ließ. Zugegeben, es gab noch andere Hindernisse als eine Ehefrau, von denen sie nicht gewusst hätte, wie sie sie überwinden sollte. Zum Beispiel die leidige Tatsache, dass sie die Countess of Dearborn und damit Mr. Karlssons Dienstherrin war. Ethik und Moral spielten dabei wahrscheinlich eine Rolle, aber sie dachte lieber nicht eingehender darüber nach.
Frustriert marschierte sie weiter. Was sollte eine Frau in ihrem Alter tun, wenn der eigene Ehemann für Monate nach Afrika oder an einen anderen weit entfernten Ort verschwand, und es kein Anzeichen dafür gab, dass er jemals zurückkehren würde? Nicht, dass sie sich danach gesehnt hätte, dass dieser unerträgliche Mensch zurückkehrte. Aber das bedeutete nicht, dass sie ihre persönlichen Wünsche aufgegeben hatte.
Emma hatte Albert nicht immer unerträglich gefunden. Vor Jahren, als er um sie warb, war er der perfekte Gentleman gewesen. Er und seine Mutter kamen zum Dinner, und er bezauberte sie und ihre Familie, indem er nach dem Essen ein Sonett las oder mit Fanny ein Lied sang. Er begleitete sie zur Kirche und zurück und pflückte unterwegs Wildblumen für sie, die er in ihre Haube oder ihr ins Haar steckte. Er besuchte sie und Fanny, und sie spielten Karten und lachten.
Es war alles so aufregend gewesen und genau so, wie Emmas Mutter ihr versprochen hatte, dass die Liebe sein würde.
Ihre Eltern waren begeistert, als Albert Clark, der Earl of Dearborn, um ihre Hand anhielt, und hatten sie glücklich in den heiligen Stand der Ehe entlassen, mit einer bescheidenen Summe Erspartes für den Fall, dass sie jemals eigenes Geld brauchen würde. Emma war sich ihrer und Alberts gegenseitiger Zuneigung so sicher gewesen, dass sie glaubte, sie würde es nie brauchen. Die Summe war beiseitegelegt worden und hatte still und leise einen kleinen Zins eingebracht.
Sie hatte sich vorgestellt, mit Albert wahres Eheglück zu erleben. Sie hatte sich Abende vorgestellt, die sie gemeinsam verbrachten, während er Sonette las und sie lauschend Handarbeiten verrichtete. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie gelegentlich Gäste einladen würden, sich aber gegenseitig in dem überfüllten Raum ansehen und feststellen würden, dass sie ihre traute Zweisamkeit der Gesellschaft anderer vorzogen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie ausgiebige Spaziergänge um den See machen und nach London reisen würden und lange Winternächte im Bett verbringen und sich lieben würden.
Das Problem mit Erwartungen, so hatte sie feststellen müssen, war, dass sie der Realität selten gerecht wurden.
Merkwürdigerweise schien Albert von Anfang an gleichgültig gegenüber einer intimen Beziehung zu sein. Das war genau das Gegenteil von dem, was Fanny ihr in Aussicht gestellt hatte. Fanny sagte, sie habe die ersten Monate ihrer Ehe damit verbracht, ihren Mann mehrmals am Tag abzuwehren. Nicht so Emma. Manchmal schien Albert regelrecht gereizt zu sein, wenn es daran ging, sich gemeinsam zu Bett zu begeben. Und wenn er seiner ehelichen Pflicht nachkam, war er nicht der Typ, der sich Zeit ließ - er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Emma hatte alles versucht, was ihr einfiel, um es für ihn angenehmer zu gestalten, was in Wahrheit nicht viel gewesen war. Und wenn sie versuchte, etwas anderes auszuprobieren, sagte er, dass sie es nur verschlimmere.
Und doch war Albert davon besessen, den obligatorischen Erben zu zeugen. Leider verlangte die menschliche Biologie dafür, über ein funktionierendes Geschlechtsorgan zu verfügen, und das war bei ihm immer seltener der Fall. Jedes Mal, wenn er versagte, wurde er wütend und beleidigend. Jedes Mal, wenn Emma nicht schwanger geworden war, gab er ihr die Schuld dafür. Jeden Monat versuchten sie es aufs Neue, aber der Akt lief rau und ohne Zuneigung ab. Sie hatte begonnen, sich wie ein beliebiges Gefäß zu fühlen, missbraucht und nicht gewürdigt.
Bald begann er, ihr nicht nur die Schuld dafür zu geben, was innerhalb des Ehebettes alles schieflief, sondern auch für das, was außerhalb davon geschah. Er machte sie schlecht und putzte sie vor Familie und Freunden herunter. Alles, was sie sagte, wurde der Lächerlichkeit preisgegeben. Er mied ihre Gegenwart und erzählte anderen, dass ihre Gesellschaft ihn reizbar machte.
Emma glaubte aufrichtig, dass sie sich so sehr bemüht hatte, wie es nur menschenmöglich war, aber irgendwann fing sie an, ihren Ehemann zu verabscheuen. An dem Tag, an dem er verkündete, dass er auf Expedition nach Afrika gehen würde, hätte sie nicht glücklicher sein können. Er sagte, er müsse gehen und "einen klaren Kopf bekommen" und wisse nicht, wie lange er weg sein würde.
Emma freute sich insgeheim und malte sich aus, wie sie als Witwe ihr Leben gestalten würde, falls er von einem Nashorn aufgespießt würde. Seine Familie hingegen war verzweifelt. Was war mit dem Anwesen? Wer würde sich um seine Frau kümmern? Wie konnte er sie mit Emma allein lassen?
Seine ältere Schwester Adele war eine alte Jungfer, die sich um seinen vierzehnjährigen Bruder Andrew kümmerte. Der Junge brauche Albert, sagte Adele. Und war es nicht Alberts Pflicht, in England zu bleiben, bis er einen Erben gezeugt hatte? "Deine Frau hat ihr dreißigstes Lebensjahr überschritten, Albert", erklärte sie. "Du hast nicht...