Schweitzer Fachinformationen
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»Nur Provinzblätter . Nix als Provinzblätter sind geliefert worden. Und die der Regierung nahestehenden Blattln: Die Neue Zeit, die Christlichsoziale Arbeiter-Zeitung und natürlich das Wochenblatt des Heimatschutzes .«, murmelte Herr Engelbert, als er am Morgen des 25. März den schmalen Stoß der angelieferten Zeitungen betrachtete. Die großen Wiener Tageszeitungen fehlten. Nach einem Moment der Verwunderung fiel ihm ein, dass in Wien gestern Abend die sozialdemokratisch organisierten Schriftsetzer vierundzwanzig Stunden in den Streik getreten waren. Eine Kampfmaßnahme, die sich gegen die verfügte Vorzensur der Arbeiter-Zeitung und des Kleinen Blattes richtete.
»So wollen der Dollfuß und die Hahnenschwänzler33 die Arbeiterpresse mundtot machen«, brummte Herr Engelbert. Kaum hatte er das gesagt, wurde ihm auf die Schulter geklopft, und er hörte Frau Jelineks mahnende Stimme:
»Hören S' auf mit dem Politisieren!«
Er bekam einen roten Kopf und replizierte:
»Tut mir leid, Frau Chefin. Das ist mir so rausgerutscht.«
»Na dann ist's ja gut.«
Es folgte ein sanfter Klaps, und schon war die Chefin wieder in der Kaffeehausküche verschwunden.
*
Jeden Samstagabend führte Engelbert Novak seine Lebensgefährtin Dorli Wiener zum Essen aus. Das war eine liebe Gewohnheit, auf die sich Dorli immer sehr freute, da sie selbst nicht sonderlich gerne kochte. Engelbert, der jeden Tag bis drei Uhr nachmittags arbeitete und auf dem Heimweg oft noch in seinem Stammbeisl einkehrte, wo er ein spätes Mittagessen zu sich nahm, kam meistens ohne sonderlichen Hunger heim. Also musste sie auch nicht viel kochen. Sie sorgte aber dafür, dass in der Speis' immer etwas Wurst und ein Stück Käse bereitlagen, falls sie oder Engelbert abends noch ein Hungergefühl überkam.
Als sie im Speisesaal der Goldenen Glocke saßen, gemeinsam ein ganzes Backhendl mit Erdäpfelsalat verspeisten und mit einem Glas Gemischten Satz aus Nussdorf nachspülten, kam ein Zeitungskolporteur in die Gastwirtschaft und bot die frisch gedruckte Arbeiter-Zeitung an:
»Die Morgenausgabe schon heute Abend.«
Da Neuigkeiten über die Vorzensur und den Streik der Schriftsetzer Engelbert Novak brennend interessierten, kaufte er ein Exemplar. Dorli, die normalerweise keine Tageszeitungen las, beugte sich gemeinsam mit ihm über die Titelseite, wo unter anderem zu lesen stand:
Zum ersten Mal seit den Tagen des Krieges und des kaiserlichen Absolutismus erscheint die Arbeiter-Zeitung heute wieder unter Vorzensur.
Für ein sozialdemokratisches Blatt ist es eine Ehre, verfolgt zu werden. Maßregeln, die uns unter ein Ausnahmerecht stellen, entspringen der Angst der herrschenden Gewalten vor der Macht unseres Wortes.
Dorli, die sich für Politik wenig interessierte, fragte:
»Sag, wer hat die Vorzensur eigentlich verfügt?«
»Na wer? Der Dollfuß und die Regierung. Da schau! Da steht's schwarz auf weiß:
Freitag nachmittag wurden der Arbeiter-Zeitung und dem Kleinen Blatt Verfügungen des Bundeskanzlers zugestellt, die bestimmten, daß beide Zeitungen >auf Grund< der kriegswirtschaftlichen Presseverordnung der Regierung unter Vorzensur gestellt werden.«
»Ja sind wir denn im Krieg?«
»Wir nicht, Dorli.«
»Wer denn?«
»Die Regierung. Sie führt Krieg gegen die Sozialdemokraten.«
»Nicht gegen die Nazi?«
»Gegen die auch.«
Engelbert nahm einen langen Schluck vom Gemischten Satz, ließ den guten Tropfen über den Gaumen rollen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Eigentlich wollte er nur mehr seine Ruhe und mit Politik nichts mehr zu tun haben. Trotzdem beeinflusste sie sein Leben auf unerträgliche Weise. Dorli hatte inzwischen weitergeblättert. Sie schubste ihn und fragte:
»Sag, glauben die Sozialdemokraten eigentlich an die Hölle?«
»Wieso?«
»Na weil da ein Artikel mit der Überschrift Die dritte Hölle gedruckt ist. Schau:
Aus Protokollen, die sich in unseren Händen befinden und die wir auszugsweise veröffentlichen werden, geht hervor, daß sich trotz allen offiziellen Beruhigungsversuchen und Ableugnungen auch noch in den allerletzten Tagen der Terror der SA. in Berlin und im Reich, wenn auch in versteckteren Formen fortsetzt. Das Furchtbare ist, daß die Mehrheit der Bevölkerung von diesen Terrorakten keine Ahnung hat. Die Betroffenen selbst wagen es nicht, in die Oeffentlichkeit zu gehen, soweit man von einer Oeffentlichkeit in Deutschland überhaupt noch sprechen kann. Immer wieder wiederholt sich die Bitte der Opfer des braunen Terrors, nur ja ihren Fall nicht zur Sprache zu bringen, da sie Vergeltungsmaßnahmen, das heißt, die Wiederholung der Folterungen, befürchten.«
Dorli machte beim Vorlesen eine Pause, bevor sie leise fortfuhr:
»Aus dem Krankenhaus geholt.
Da wird beispielsweise ein Sozialdemokrat oder ein Kommunist aus dem Bett geholt, noch in der Wohnung blutig geschlagen, zu einer SA.-Sektion verschleppt, muß dort die Spießruten laufen, wird von dort weiter in einen andern SA.-Keller gebracht und so schwer verwundet, daß er ins Krankenhaus überführt werden muß. Dann geschieht das Ungeheuerliche, daß er aus dem Krankenhaus herausgeholt, zurück an die Folterstätte gebracht wird und selbst, wenn er schwer verwundet ist, dort aufs neue mit Gummiknütteln, Stahlringen und Fäusten geprügelt wird, so lange bis er die geforderten Geständnisse ablegt oder auch zur Strafe dafür, daß er >geplaudert< hat.«
Mit entsetzten Augen sah Dorli ihren Lebensgefährten an, reichte ihm die Zeitung und flüsterte:
»Und da verfolgt unsere Regierung die Sozialdemokraten. Die Nazi sollten sie verfolgen!«
Er überflog einige der folgenden Absätze des Artikels und stutzte bei der Zwischenüberschrift Sie können ihn abholen lassen . Leise las er Dorli vor:
»Unter den zahlreichen in den allerletzten Tagen in Berlin zur Folterung verschleppten Reichsbannerleuten34 befand sich der jugendliche Sohn eines Gewerkschafters. Der Vater hatte in Erfahrung gebracht, daß sein Kind sich in der berüchtigten SA.-Kaserne Hedemannstraße Nr. 5 befand. In größter Besorgnis gelang es ihm endlich, mit der dortigen SA.-Stelle telephonische Verbindung zu bekommen; es wurde ihm mitgeteilt, daß sein Sohn nach kurzer Zeit wieder nach Haus geschickt werden würde. Als der Junge zur angegebnen Zeit nicht nach Hause kam, rief der Vater wieder an.
Es wurde ihm gesagt, der Sohn würde noch am Abend nach Hause kommen. Aber auch am Abend kam er nicht. Der besorgte Vater fragte zum drittenmal an und erhielt die Auskunft: Jetzt können Sie Ihren Sohn holen lassen - aus dem Leichenschauhaus!«
Ein grauer Frühlingstag war das, der 3. April. Nechyba verspürte ein starkes Unlustgefühl in sich. Nichts machte ihm Freude, und so hockte er am Frühstückstisch in der Küche und starrte hinaus in den Hinterhof. Die Wolken am Himmel waren dicht und grau, die Dächer feucht vom Regen. Obwohl draußen alles glänzte und von einem zarten Schimmer überzogen war, glänzte in ihm selbst gar nichts. Dumpf und düster saß er da. Nicht nur das Wetter deprimierte ihn, sondern auch die Wahrnehmung, dass alles immer schlimmer wurde. Nun hatte Dollfuß dem Druck des Heimatblocks nachgegeben und den Republikanischen Schutzbund35 verboten. Das erzeugte Empörung unter den Sozialdemokraten.
»Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut«, murmelte er, »das kann à la longue zum Bürgerkrieg führen.«
Er griff zu seinem Kaffeehäferl und trank den letzten Schluck Kaffee. Gedankenverloren stellte er es vor sich auf den Tisch und starrte in den braunen Kaffeesatz und auf den braunen Rand des Häferls. Dort, wo sein Mund und sein Schnauzbart angesetzt hatten, befanden sich braune Schlieren, die sich über das strahlende Weiß der Porzellanschale bis hinunter zur Untertasse ausgebreitet hatten. Und plötzlich erschien ihm sein schmutziges Kaffeehäferl eine Allegorie der politischen Situation in Österreich zu sein. Über und über besudelt von schwarzbräunlichen Flecken und Schlieren.
Schließlich raffte sich Nechyba auf. Nach dem Waschen und Anziehen spazierte er stadteinwärts zu einem kleinen Friseurladen in der Laimgrubengasse, um sich rasieren zu lassen. Mit einem Gesicht, das glatt wie ein Kinderpopo war, und umweht von einem Hauch von Rasierwasser, flanierte Nechyba nun den Naschmarkt entlang. Plötzlich bekam er Lust, etwas Aufwendiges zu kochen. Er erstand Wurzelwerk, eine Zitrone, eine Flasche Rotwein, zwei Flaschen Schwarzbier sowie einen Karpfen, den er in der Fischhandlung entgräten und filetieren ließ. Daheim stellte er als Erstes das Bier in die kühle Speis'. Dann schnitt er den Karpfen in Streifen und marinierte diese mit Salz und Zitrone. Auch sie kamen in die kühle Speisekammer. Nun setzte er mit den Gräten, dem Kopf und den Innereien des Karpfens sowie mit dem geputzten und gewaschenen Wurzelwerk einen Fischfond an. Als dieser köchelte, begab sich Nechyba neuerlich in die Speis' und prüfte, ob das Bier etwas kühler geworden war. Da dies der Fall war, nahm er eine Bierflasche in die Küche mit, holte ein Glas aus der Küchenkredenz und lauschte mit Vergnügen dem »Plopp!«, als er den Bügelverschluss öffnete.
»So ein dunkles Bier hat auch seinen Reiz«, sagte er halblaut....
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