Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein sonniger, kalter Oktobertag. Marie rutschte unruhig auf der Schulbank hin und her. Am liebsten wäre sie hinausgerannt in die kühle, klare Luft des Herbstes. Hinaus! Hinaus in die Freiheit. Die kalten Augen der Lehrerin, die hinter einer randlosen Brille glitzerten, erfassten sie. Augenblicklich froren ihre zappeligen Bewegungen ein. Statt hinaus in die Freiheit, musste sie nun vor an die Tafel gehen. Dort standen mit weißer Kreide auf grünem Tafelgrund energisch hingeschriebene Zahlen, die ihr einfach nichts sagten. Ihr Kopf drehte sich, die Sonne verlosch, und sie stierte dumpf das gleichsam in Stein gemeißelte Rechenbeispiel an. Ja, wie eine steinerne Wand wirkte die Tafel. Eine Wand, die umzufallen und sie zu zermalmen drohte. Angstschweiß schoss aus den Poren ihrer Haut, und sie fürchtete, dass die Lehrerin ihn wittern würde. Angstschweiß stank und verleitete den Kontrahenten zuzubeißen. Das hatte ihr ihre Großmutter von klein auf eingeschärft: »Wenn ein Hundsviech deine Angst riecht, dann beißt es dich.« Und in genau so einer Situation befand sie sich nun. Angstvoll starrte sie die Lehrerin an, die die Zähne bleckte. Marie schloss die Augen und erwartete zitternd wie Espenlaub den unausweichlichen Biss samt den damit verbundenen Schmerzen. Doch nichts dergleichen geschah. Die Lehrerin zeigte nur deshalb ihre Zähne, weil sie abschätzig lächelte. Dann machte sie eine gemeine Bemerkung über Maries mathematische Fähigkeiten und schickte sie zurück auf ihren Platz in einer der hinteren Reihen des Klassenzimmers. Dort nahm das gedemütigte Mädchen mit hochrotem Kopf Platz. Den Rest der Schulstunden verbrachte sie wie in einem bösen Traum: gemieden und verachtet von ihrer Umwelt, erniedrigt und beschämt. Einem winzig kleinen Getier gleich - einer Wanze, die jederzeit zerquetscht werden konnte.
Endlich draußen! Marie spazierte in Begleitung des Pepi Eigruber die Thaliastraße schnurstracks stadtauswärts: über die Maroltingergasse hinaus, zuerst ein Stück Galizinstraße und dann beim Ottakringer Friedhof links die steil ansteigende Steinhofstraße12 empor. Sie kamen an der Kuffner Sternwarte vorbei, die wie ein verzaubertes Märchenschloss im herbstlich milden Sonnenlicht dalag. Anschließend begannen die Weingärten, in denen der beliebte Ottakringer Wein wuchs, und die zum Teil an die Mauer der Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof grenzten. Linker Hand kamen sie nun zu einem bäuerlichen Haus, das den Heurigen Eigruber beherbergte. Hier verabschiedete sich Pepi von Marie, die weiter bergauf marschierte. Immer an der Mauer der Landes-Heil- und Pflegeanstalt entlang bis zur Spitze des Galizinberges. Die Straße war nur mehr ein sandiger Weg, der nun durch den Wienerwald führte. Keuchend blieb Marie auf einer Lichtung stehen und blickte hinunter in das liebliche Rosental, in dem sich eine Kolonie Schrebergärten ausgebreitet hatte. Zielsicher suchte sie sich ihren Weg zur Kleingartenparzelle ihrer Großmutter. Da sich das Grundstück, so wie alle anderen Kleingärten hier, an den steil abfallenden Hängen des Rosentals befand, hatte Maries Vater in den Jahren 1911 und 1912 mehrere Terrassen sowie eine solide Holzhütte errichtet. Auf einer der Terrassen sah Marie ihre Großmutter Kohl ernten.
»Servus, Oma! Schau, was ich dir mitgebracht hab!«
Die alte Frau schreckte aus ihren Gedanken auf. Dann begann ihr runzeliges, mit einigen langen weißen Barthaaren gespicktes Gesicht zu strahlen. Der Sonnenschein ihres Alters, ihr Enkerl, war auf Besuch gekommen.
»Ja, was hast denn mitbracht, Marie?«
»Ein halbes Brot!«
»Aber Kinderl, das sollt ihr doch selber essen. Die Mama und du. Ich verhunger schon net. Ich hab ja das Gemüse und die Erdäpfeln vom Garten.«
Mühsam stand die alte Frau auf und gab drei Kohlköpfe in die blaue Arbeitsschürze, die sie hochhielt. So stieg sie die wenigen Stufen zur Eingangstür des Kleingartens hinunter und ließ ihr Enkelkind herein. Zur Begrüßung streichelte sie ihm übers Haar. Dann stiegen sie gemeinsam den steilen Schrebergarten hinauf zur Hütte. Drinnen verbreitete ein Kanonenofen, in dem es knisterte und knackste, wohlige Wärme.
»Oma, hast du's schön warm da .«, seufzte Marie, und die Alte nickte.
»I wohn ja direkt am Wald. Da geh i täglich Holz klauben.«
»Bei uns daheim is immer so kalt. Wir bekommen nur selten Kohle oder Holz. Und das, was ma bekommen, heben ma uns für'n Herd auf. Sonst könnt ma uns net einmal mehr was kochen .«
Neuerlich strich die Alte Marie liebevoll über den Kopf. Dabei murmelte sie:
»Des is a ganz a grausliche Zeit, in der wir leben.«
Marie machte es sich auf dem breiten Lehnsessel, der ihrer Oma in der Hütte auch als Nachtlager diente, bequem. Sie lagerte ihre Beine auf einen gepolsterten Schemel und beobachtete, wie ihre Oma die Kohlsuppe zubereitete. Dabei bekam sie vor Staunen kugelrunde Augen, denn die Alte hatte einen wohlgefüllten Schmalztopf. Aus ihm nahm sie etwas Fett, gab es in eine Kasserolle, die sie auf den oben flachen Kanonenofen draufstellte. Auf der schmalen Arbeitsfläche der Kredenz schnitt sie mit flinken Fingern Zwiebeln, die sie dann in der Kasserolle anröstete. Nun wurden die Kohlblätter gewaschen und danach nudelig geschnitten. Plötzlich platzte es aus Marie heraus:
»Oma? Wo hast denn so viel Schmalz her?«
Die Alte lächelte pfiffig und erwiderte:
»Das hab i gegen mein Grünzeug und Gemüse eingetauscht. Das brauch i zum Kochen. Weil ohne Schmalz schmeckt das ganze Essen nach nix!«
»I hab schon so lang ka Schmalz mehr gessen .«
»Willst a Schmalzbrot?«
»Ja, bitte .«
Während Marie gierig das Brot verschlang, goss ihre Großmutter die wunderbar duftenden gerösteten Zwiebeln mit einer Flüssigkeit aus einem großen Topf auf, den sie auf dem Fensterbrett stehen hatte.
»Was gießt du da drauf?«
»Gemüsesuppe. Eigentlich gehört a ordentliches Rindsupperl zum Aufgießen. Aber a Rindfleisch hab i schon Monate nimmer 'gessen. Und auch Rindsknochen für a kräftiges Supperl kriegt man nimmer. Drum nehm ich halt a klare Gemüsesuppe. Da sind ein Zeller, Karotten, gelbe Rüben, Petersilwurzeln und viel Liebstöckl drinnen. Das hab i alles selber anbaut im Garten.«
Bald köchelte die Suppe. Nun kam der nudelig geschnittene Kohl hinein, der sehr bald mächtig an Volumen verlor und ganz weich und matschig wurde. Dann nahm Maries Großmutter eine zweite Kasserolle, auf die sie ein feines Metallsieb legte. Die Suppe floss durch, im Sieb blieben der weiche Kohl und die weichen Zwiebel zurück, die nun durch das Sieb passiert wurden. Die Suppe, die nun eine schöne dickflüssige Konsistenz hatte, wurde mit Salz, schwarzem Pfeffer, einer zerdrückten Knoblauchzehe und ordentlich Kümmel gewürzt. Dieses Süppchen schöpfte die alte Frau auf zwei Teller und bat Marie:
»Geh, schneid für jeden von uns a Brot ab. Das schmeckt zu einer Kohlsuppe wunderbar. Ich hab eh schon tagelang kein Brot mehr gegessen .«
Nach dem Essen verabschiedete sich Marie und begab sich auf den langen Rückweg. Die scharf gewürzte Suppe stieß ihr ein paar Mal auf. In ihrem Mund machte sich der deftige Nachgeschmack von Kohl und Knoblauch breit, der ein heftiges Durstgefühl verursachte. Als sie bei der Heurigenwirtschaft der Eigrubers vorbeikam, beschloss sie spontan, hineinzugehen und um ein Glas Wasser zu bitten. Obwohl nicht ausgesteckt war, stand ein Fiaker vor dem Winzerhaus. Die beiden Pferde hatten Decken auf ihren Rücken. Sie schauten Marie mit gelangweilten Augen an und scharrten mit den Hufen. Ihr Atem dampfte in der nun kühlen Abendluft. Die Eigruber'sche Gartentür und auch die Tür zur Gaststube waren unversperrt. Drinnen waren nur zwei Tische belegt. An einem saßen der Weinbauer sowie zwei fremde Männer, die laut miteinander redeten und lachten. An einem etwas abseits gelegenen Tisch saß der Fiaker. Marie ging auf die Schank zu, wo Pepis Mutter gerade aus einem Weinheber Wein in einen Glaskrug fließen ließ. Eine steile Falte des Unmuts erschien auf der Stirne der Frau, als sie die Schulkameradin ihres Sohnes sah. Marie duckte sich und stammelte:
»'tschuldigen, Frau Eigruber, dass i stör. Aber i hab so an Durscht. Dürft i bittschön a Glas Wasser haben? I hab bei meiner Oma im Rosental einen Besuch gemacht .«
Einer der Männer hatte das gehört. Er drehte sich um und musterte Marie. Dann spielte ein Lächeln um seinen Mund und er sagte jovial:
»Selbstverständlich kriegst du ein Glas Wasser. Wie heißt du denn, mein Kind?«
Marie war verunsichert. Ihre Blicke schweiften zwischen dem Fremden und der noch immer bös dreinschauenden Winzergattin hin und her. Nun ertönte Eigrubers Bass:
»Oide! Hast net g'hört? Gib dem Kind a Wasser. Wenn's an Durst hat, soll's was trinken. Es soll keiner sagen, dass beim Eigruber wer verdurstet is .«
Schallendes Gelächter ertönte. Marie war mittlerweile vor Verlegenheit knallrot geworden. Der Fremde, der sie schon vorher angesprochen hatte, winkte sie zu sich her. Er rutschte auf der Heurigenbank zur Seite und sagte:
»Komm, setz dich her. Wennst mir nun endlich deinen Namen verratest, kriegst nicht nur was zum Trinken, sondern auch was zum Essen.«
»Marie .«
Der Fremde schob ihr eine Platte mit aufgeschnittener Salami und Butter sowie einen Korb mit frischem Brot hin. Maries Augen begannen zu leuchten. Solche...
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