Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Für einen Moment hatte es der Wirtin die Sprache verschlagen, als Johann sie am Abend zuvor gefragt hatte, ob es möglich sei, das Frühstück aufs Zimmer serviert zu bekommen. Dann war sie über ihn hergefallen: »Das hat in dreißig Jahren noch keiner gefragt. Das ist ja unerhört. Wir sind doch nicht das Kempinski. Was denn noch? Massage vielleicht? Aber nur von einem männlichen Mitarbeiter, hab ich recht? Von mir aus können Sie sich Ihre Brötchen im Frühstücksraum abholen. Bis 9:30 Uhr. Danach schließt die Küche.« Johann hatte Paul zu einem billigen Gasthaus in Bahnhofsnähe überredet, um gegebenenfalls schnell fliehen zu können, falls sich herausstellen sollte, dass Paul irgendwo sonst noch etwas getötet hatte. Dass das Gasthaus selbst der Grund zur Flucht sein könnte, hatte er nicht erwartet. Er weckte Paul und schickte ihn Frühstück holen.
Es schien Johann, als sei ihm sein Körper vorausgeeilt. Sich selbst hatte er auf einer Zugtoilette zurückgelassen, dem hypertrophen Wuchern einiger Fruchtkapseln ausgesetzt. Er empfand nichts außer Scham über die Gewissheit, dass nicht eine Sekunde der letzten achtundzwanzig Jahre es wert gewesen war, Paul im Stich gelassen zu haben. Seine Schuhe gehörten Lukas, sein Anzug war aus zweiter Hand, und selbst seine Brille war Betrug, eine Fundusbrille mit Fensterglas, ein Geschenk von jemandem, dem er einen geblasen und der fürs Fernsehen gearbeitet hatte.
Auf dem Psychiatrieflur hatte Johann erwartet, in Tränen auszubrechen, doch stattdessen hatte er den Bauch eingezogen und versucht, den Harndrang zu bezwingen, der ihn dort befallen hatte. Später hatte er bei der Wirtin Zigaretten gekauft, fast ein halbes Päckchen geraucht und es dann ins Klo geworfen, um nicht nach zwei Jahrzehnten wieder anzufangen.
Paul kehrte mit einem vollgeladenen Tablett zurück. Er stellte es aufs Bett und zog weitere Brötchen aus seinen Jackentaschen. Es gab reichlich Marmelade, Wurst und Käse sowie einen Wochenvorrat an Butter. Paul nahm den Wunderblock vom Nachttisch und schrieb:
- Die Aprikosenmarmelade riecht wie das Waschmittel in der Psychiatrie.
»Willst du zurück?«
- Nein. Wieso?
»Naja. Wo ist der Kaffee?«
Paul zog ein Glas Instantkaffee aus der Hosentasche, stellte es aufs Tablett und grinste. Er sah aus wie ein Kind von bald fünfzig Jahren. Seine Haut war glatt und rosig, seine Augen blank, sein Gesicht an unablässiges Staunen gewöhnt. Sein Haar war etwas dünner als früher, und er ging leicht gebeugt. Auf seinem linken Handrücken befand sich eine kreisrunde Verbrennungsnarbe von etwa zwei Zentimetern Durchmesser. »Was hast du da gemacht?« Johann legte einen Finger auf die starre Haut. Paul schüttelte den Kopf und lächelte.
Sie zogen Decken und Laken von den Betten und türmten die Kissen übereinander. Dann schmierten sie Brötchen, belegten sie mit Wurst und Käse und rührten in den Zahnputzbechern aus dem Bad lauwarmen Instantkaffee an. Es war wie damals, als sie zu dritt an der Ostsee waren, ohne ihren Vater, der zu jener Zeit in Tansania Missionsdienst leistete. Ihre Mutter hatte sich von der Nachbarin ein gelbes Sommerkleid geliehen und sah darin aus wie ein Mannequin aus München. Sie hatten Kissen und Decken von den Betten gezogen und aus einigen Wäschestücken eine Feuerstelle gebaut. Zur Nacht gab es in Flammen aus Unterhosen geröstete Würste und in Strümpfen gegarte Bohnen, das Gericht wackerer Trapper und Scouts. Am nächsten Morgen spielten sie Verschlafen. »Oh Mann, schon so spät«, jammerte Johann, und Paul schnitt dazu Grimassen. Mittags gingen sie zum Strand hinunter. Es war stürmisch, die Möwen kämpften gegen den auflandigen Wind, die Gischt sprang von den Wellen. Rote Warnbeflaggung wies auf das Badeverbot hin. Sie rollten ihre Handtücher in einer Kuhle aus, machten sich flach wie Flundern und ließen sich von ihrer Mutter ihre Lieblingsstrandgeschichte erzählen, die Lebensgeschichte der nonkonformistischen Krabbe Konrad von Stolzenburg. Nachdem sie die Geschichte beendet hatte, stand ihre Mutter auf und streckte sich. »Ich bin eine olympische Schwimmerin. Für mich gilt der rote Wimpel nicht. Ihr bleibt hier und passt auf, dass ihr nicht wegweht.«
Sie schwamm hinaus wie eine wahre Olympionikin. Für sie musste sich das Wasser nicht teilen, sie teilte es selbst. Sie war Moses und das Meer zugleich, dachte Johann, sie war Prophet und Mannequin. Sie verschwand in den Tälern, tauchte auf, wurde über die Kämme gehoben, verschwand wieder und tauchte wieder auf. Zwischen zwei Tälern winkte sie. Das Winken erinnerte Johann an seine Puppe Cordula. Sie hatte gestrickte Gelenke und ein aufgenähtes Gesicht. Johann winkte zurück. Eine Zeitlang blieb ihre Mutter verschwunden, dann tauchte sie wieder auf und winkte, nun mit beiden Händen. Plötzlich stand Paul vor Johann und fuchtelte herum. Er ließ die Arme durch die Luft wirbeln, als hätte auch er gestrickte Gelenke. Er schien keine Luft zu bekommen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, und er schlug sich gegen den Kopf. Irgendwann stieß er hervor: »Mami geht unter.« Der Satz klang wie dünnes Husten. Es war das letzte Mal, dass Johann Pauls Stimme hören sollte. Paul zeigte auf die Strandwache in den Dünen und rannte los.
Der Gummizug an Johanns Badehose war ausgeleiert, er musste die Hose festhalten, während er Paul hinterherlief. Paul fuchtelte noch immer mit den Armen, er grimassierte und trat in den Sand. Die Wachgänger versuchten, ihn zu beruhigen, doch Paul begann, auf sie einzuschlagen. Erst als Johann die Wache erreichte, hörte er auf damit. Johann tat, was er immer tat. Er übersetzte: »Unsere Mutter geht unter.«
Ihre Mutter wurde gerettet. Sie war unverletzt, nur sehr müde. Zu dritt kehrten sie in die Strandpension zurück, räumten Kissen und Decken auf die Betten, und ihre Mutter schlief bis zum nächsten Morgen. Dann fuhren sie nach Hause. Ihre Mutter blieb müde. Tagelang lag sie auf dem Sofa. Einige Monate später verschwand sie.
Ein halbes Jahr nach ihrem Verschwinden erhielt ihr Vater den Unfallbericht einer Versicherung. Ihre Mutter hatte einen Verkehrsunfall verschuldet. Durch den Aufprall des Wagens war die Werbeaufschrift eines Linienbusses beschädigt worden, was durch die Versicherungsleistungen nicht gedeckt war. Der Wagen ihrer Mutter hatte einen Totalschaden erlitten, ihr selbst war nichts geschehen. Paul brachte sich bei, den Ort des Unfalls mittels geographischer Koordinaten zu bestimmen. 50 6' 37'' N, 8 40' 55'' O. Für welches Produkt die Aufschrift auf dem Bus geworben hatte, war nicht mitgeteilt worden. Dieser Umstand beschäftigte Paul noch lange Zeit.
»War Gunni wirklich eine olympische Schwimmerin?« Paul durchsuchte lächelnd eine seiner Zetteltüten. Er hatte zwei Tüten mit aufs Zimmer genommen, drei weitere hatte er im nahen Bahnhof in ein Schließfach eingeschlossen. Er schien genau zu wissen, was er tat, als er die Blätter auf unterschiedlich hohe Stapel verteilte. Während er sie ordnete, bewegte er die Lippen. Dann zog er einen Zettel aus einem der Stapel, als vollführe er einen Zaubertrick, und reichte ihn Johann.
- 1960 tritt Mutter bei den Olympischen Spielen in Rom für die Mühlheimer Wassersportfreunde an und lernt während der Wettkämpfe John Devitt, den australischen Goldmedaillengewinner über 100 Meter Freistil, kennen. Sie selbst scheidet im Vorlauf über 400 Meter Schmetterling aus. Sechs Jahre später studiert sie in Frankfurt Erziehungswissenschaften. Sie verliebt sich in Vater, der dort Pharmazie studiert, folgt ihm in die elterliche Apotheke und lernt beten.
Johann gab Paul den Zettel zurück. Paul steckte ihn in den Stapel, von dem er ihn genommen hatte, und legte die Zettel zurück in die Tüte. Dann durchsuchte er einen zweiten Stapel. Wieder bewegte er die Lippen. Er hielt inne und schien zu zählen, schließlich legte er den Stapel zur Seite, nahm einen dritten und zog einen abgegriffenen Zettel hervor.
- Johann hat mich gefragt, ob ich ihm Mutter beschreiben kann. Das fragt er dauernd. ...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.