Schweitzer Fachinformationen
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Die Welt ist groß, doch in uns wird sie tief
wie Meeresgrund. Es hat fast nichts zu sagen,
ob einer wachte oder schlief, -
er hat sein ganzes Leben doch getragen,
sein Leid wird dennoch sein, und es verlief
sein Glück sich nicht. Tief unter schwerer Ruh
geschieht Notwendiges in halbem Lichte,
und endlich kommt, mit strahlendem Gesichte,
sein Schicksal dennoch auf ihn zu.
Rainer Maria Rilke: Die weiße Fürstin (1904)
München, 4. Dezember 1952
In zehn Minuten wollte Herman wieder die Welt retten, und er war spät dran. Sein Vorkriegs-Rad holperte auf den Pflastersteinen, während er in die Pedale trat wie in Morast. Wenn er den Kopf hoch genug hob, sah er die Ruinen um sich herum beinahe nicht mehr, und das gab ihm Kraft. Er umklammerte den Lenker, so fest er konnte, und schaute kurz dorthin, wo Baumwipfel und Häusergiebel sich mit dem schwarzblauen Dezemberhimmel trafen. Diese gebrochene Linie aus Stein, Holz und Luft musste, als er jung gewesen war, nahezu identisch ausgesehen haben. Ihr Auf und Ab stürzte nur dort, wo Bomben eingeschlagen waren, ab zur Nulllinie. Und sosehr er immer gewollt hatte, dass sich alles änderte, so sehr beruhigte ihn der Gedanke, dass es etwas gab, das von den Zeiten ungerührt, unberührt geblieben war.
Unter ihm aber zitterte das Rad, als ärgerte es sich über den Straßenbelag, der einer Metropole nun wirklich unwürdig war. Herman spannte die Muskeln rings ums rechte Auge noch fester an, damit das Monokel nicht hinabfiel. Sein Kamelhaarmantel flatterte, zu groß geworden, um den schmalen Leib.
Hupend überholte ihn ein Wagen, schier aus dem Nichts kommend, bog direkt vor ihm scharf rechts ein und schnitt ihm den Weg ab. Der Fahrer fluchte kehlig in seine Richtung, aber Herman verstand kein Wort. Lästig genug, dass der Kerl ihn genötigt hatte, so abrupt zu bremsen. Er bemerkte, dass er schon auf die Von-der-Tann-Straße gestoßen war, und bog links ab. Noch konnte er es pünktlich schaffen.
Vorsichtig tastete er mit der Linken hinter sich nach der Aktenmappe. Seit Jahren mied er solche kraftzehrenden Abendtermine. Aber vielleicht waren heute Männer mit Einfluss im Saal. Wenn der Bau bald losging, könnte er die Fertigstellung des Kernstücks in zehn Jahren noch erleben, dann wäre er 77. Was für ein Segen für Europa es wäre, ja, für die Welt. Und was für eine Katastrophe, könnten Dummheit und Niedertracht sich noch einmal verschwören gegen Fortschritt und .
»Onkel Mutz!«
Eine helle Stimme holte ihn zurück. Neben ihm fuhr ein Junge in kurzen Hosen. Er stand auf den Pedalen seines Rades wie auf einem Zirkuspferd und lächelte Herman an.
»Emanuel, mein Guter!« Aber damit hatte er den Vorrat an ungezwungenen Formulierungen im Umgang mit Kindern erschöpft, und so keuchte er bloß:
»Musst du nicht langsam ins Bett?« Er klang wie sein eigener Vater, und er wusste es.
»Kommst du Weihnachten wieder zu uns?«
»Ist dein Großvater auch da?« John hatte vielleicht eine neue Idee.
Schulterzucken. »Aber du kommst, ja?«
Herman mochte den Jungen sehr. Früher hatte er den krabbelnden Engel bestaunt, der sorgsam Holzklötze aufschichtete, nur, um das eigene Werk lachend zu Fall zu bringen. Und später den begeisterungsfähigen Volksschüler, dem er farbige Höhenkarten und Zeichnungen neuer Städte zeigte. Der Junge hatte ihn sofort verstanden, nur die Erwachsenen taten sich schwer. Doch er war groß geworden, und von Jahr zu Jahr ertrug Herman die Feiertage weniger. Sie erinnerten ihn daran, was er verloren hatte.
»Ich weiß nicht, Emanuel. Ist viel zu tun.«
»Du musst!« Die Brauen des Jungen zogen sich trotzig zusammen. Die Unfähigkeit zur Heuchelei rührte Herman so sehr, dass es sich anfühlte wie Traurigkeit.
»Ich schau' mal, was ich tun kann.«
Emanuel schwieg und strampelte schneller. Aus dem Augenwinkel sah Herman, wie seine Wiedersehensfreude erlosch. Um mit ihm mitzuhalten, trat er noch fester in die alten Pedale, aber die mechanische Kraft ging irgendwo zwischen Kette, Rad und Boden verloren. Es war besser, den Jungen fahren zu lassen. Er wusste nicht, was er ihm noch sagen sollte, und er musste sich beeilen. Wer sollte ihn ernst nehmen, wenn er es nicht mal pünktlich zum eigenen Vortrag schaffte? Es wäre unvernünftig, dachte er, sich mit einem schmollenden Buben aufzuhalten, doch da hörte er sich schon rufen:
»Bleib' bitte kurz stehen!«
Der Junge bremste so schnell, als hätte er darauf gewartet, und wandte sich lächelnd um.
Herman schnaufte, hielt an, griff in die Manteltasche und streckte Emanuel etwas Rechteckiges entgegen:
»Hier. Aber nicht alles auf einmal!«
Der Junge sah von seiner Hand zu Hermans magerem Gesicht, als müsste er zwischen beidem wählen. Dann griff er nach dem Schokoladenriegel und bedankte sich vokallos:
»Dnkschn.«
»Grüß' deinen Großvater von mir, ja?« Emanuel nickte kurz und fuhr ohne ein weiteres Wort weiter, bis er nur noch ein hüpfender Strich auf verschneiter Straße war. Ratlos blickte Herman ihm hinterher und steckte das Monokel in die Jacke.
Zurück im Sattel nahm er sich vor, den Gesichtsausdruck des Jungen zu vergessen. Er durfte sich jetzt durch nichts mehr irritieren lassen. Mit jedem Atemzug feuchter Luft nahm er sich vor, dass er künftig noch zielstrebiger handeln, noch kompromissloser sein würde.
Wenn er noch geradliniger auftrat, würden die richtigen Stellen das bald merken, und wer weiß, vielleicht gelang ihm dann der entscheidende Durchbruch, vielleicht gleich heute Abend.
Hinter ihm hupte wieder und wieder ein Wagen, der langsam die Prinzregentenstraße entlangfuhr. Er konnte sich nicht zu ihm umdrehen, ohne zu riskieren, das Gleichgewicht zu verlieren. Hier, vor dem Haus der Kunst, war jede Menge Platz zum Überholen. Der abnehmende Mond beschien die gerade, freie Strecke. Warum also drängeln? Während er den Fahrer mit der Linken an sich vorbei winkte, spürte er dumpf die alte Wunde in der Brust. Das Hupen hörte auf.
Keuchend fuhr er weiter, den Blick gesenkt, um wegen der Spurrillen im Schneematsch ständig gegenzusteuern. Das knirschende Grau unter dem Rad wurde plötzlich steinhart, und als er aufsah, war er auf der Luitpoldbrücke. Mit Irene hatte er sie Hunderte Male überquert. Und jedes Mal war sie zwischen den Brückenpfeilern stehen geblieben. Wenn sie ihn dann zu sich winkte, hatte er so getan, als sei er des Panoramablicks müde. Aber insgeheim hatte er sich immer über ihre Freude gefreut. Gemeinsam hatten sie dann über die Isar-Aue geschaut wie zum ersten Mal. Und so war es ja auch: Kein Grauton der Eisschollen im Winter, kein Lichteinfall aufs entblößte Kiesbett im Sommer glich dem anderen. Und irgendwann hatte er angefangen, darauf zu warten, dass Irene ihn zu sich winkte. Denn mit diesem Blick auf den Fluss hatten sie stumm ihr Versprechen erneuert, dass nichts und niemand sie je würde trennen können.
Hinter ihm brummte niedertourig ein Automotor. Der Wagen fuhr an, ließ sich zurückfallen, kam wieder näher: ein akustischer Vorwurf in Richtung des Radfahrers. Wieder winkte Herman den Wagen an sich vorüber. Dabei strampelte er gleichmäßig weiter, um auf der vereisten Brücke nicht auszurutschen. Manchmal war weiterfahren einfacher als absteigen.
Rund hundert Meter vor ihm ragte die Säule mit dem goldenen Friedensengel ins Dunkel. Dahinter lag der Europaplatz, und dann wäre er fast am Ziel. Obwohl auf der Brücke ein kalter Wind wehte, war ihm heiß. Vorsichtig lockerte er Krawatte und feuchten Kragen und schaute auf die Armbanduhr. Nur noch sechs Minuten Zeit.
Nach der Brücke fuhr er an dürren Bäumen vorbei einen Halbkreis bergauf. Keine Laterne brannte. Er war der kreisende, dunkle Mond und der Friedensengel die Erde.
Wieder schwoll hinter ihm das Motorengeräusch an und ab, an und ab. Wenigstens hupte dieser Kerl nicht. Fuhr er wirklich so langsam? Kaum langsamer als sonst. Außerdem war die Straße eben und breit, Überholen kein Problem. Es brauchte nicht viel, um Herman davon zu überzeugen, dass alle Menschen verrückt geworden waren. Ein drittes Mal winkte er mit der Linken, schon fast eine eingeübte Choreographie. Doch der Wagen hielt sich weiter hinter ihm, ließ sich zurückfallen, kam wieder näher. Als er die Hand zurück an den Lenker legte, schwenkte er unwillkürlich nach links. Im selben Moment zog das Auto fauchend an, und hätte er nicht rechtzeitig zurück nach rechts gelenkt, hätte es ihn vielleicht umgestoßen.
Nach zwei tiefen Atemzügen merkte Herman, dass der Wagen auch jetzt nicht überholte. Er fühlte ein Ziehen im Magen, und das kam nur teilweise vom Hunger. Die beiden anderen Autos hatten ihn doch überholt - oder nicht? Womöglich hatte er sie im Halbdunkel nicht beachtet. Hatte sich ganz aufs Treten und Balancieren konzentriert. Oder sie waren schon vor der Brücke abgebogen. Vielleicht aber folgte ihm seit Minuten schon derselbe Wagen.
Oben in der schnurgeraden Hauptstraße angekommen, hätte er einfach geradeaus fahren können, zurück in die Sicherheit der Laternen und Passanten. Dann wäre er eventuell pünktlich ans Ziel gekommen. Aber obwohl ihm dafür nur noch drei Minuten blieben, schwenkte er keuchend nach links, zurück in die dunkle Umlaufbahn des Friedensengels.
Es ging steil bergab. Der Kragenschweiß kühlte Hermans Nacken. Er horchte nach dem Auto. Als er nichts hörte, war er fast ein wenig...
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