Schweitzer Fachinformationen
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Licht kroch wie ein schmutziges Bettlaken durch den Spalt zwischen Rollo und Fensterlaibung. Mit einem Ruck setzte Walter Krug sich auf, stieß die Bettdecke von sich. Kira, seine Hündin, sprang vom Bettvorleger auf; ihre Rute peitschte.
Er hieb auf den Schalter der Lampe, griff nach dem Wecker, blinzelte weitsichtig auf die beleuchtete Anzeige, erkannte seinen Irrtum. Der neue Wecker, so ein verdammtes elektronisches Monstrum mit winzigen Bedienknöpfen, dessen Handhabung er erst nach Wochen halbwegs verstanden hatte, würde heute Nachmittag um halb drei seinen nervtötenden Piepalarm absondern. Er hatte ihn falsch programmiert. Weshalb musste man eigentlich so simple Geräte wie Wecker heutzutage programmieren, anstatt sie einfach auf die gewünschte Weckzeit zu stellen, war das verfluchte Geheimnis dieser postmodernen, von Irrationalitäten infizierten Technikwelt.
Immerhin hatte seine innere Uhr ihn einigermaßen pünktlich aufgeweckt. Die Digitalanzeige zeigte: »3:04«. Er erhob sich mit einem Ächzen und stellte die nackten Füße auf den Vorleger. Die Hündin sah ihn abwartend und mit einer beneidenswerten Muskelspannung an. Wenn er ihr ein Signal geben würde, spränge sie aus dem Stand zwei Meter hoch. Eine solche Spannkraft hatte er selbst in seiner Jugend, also vor mehr als vierzig Jahren, nicht besessen. Seufzend setzte er seine Brille mit dem eckigen Horngestell auf, nahm das Handy vom Nachttisch und drückte auf die Eins.
»Der beknackte Wecker hat nicht geklingelt. Bin gleich da.«
Die Lichtfinger seiner Scheinwerfer strichen über die schmale Straße zu dem winzigen Kaff am Ende der Sackgasse. Sie hatten die Zufahrt vor einiger Zeit mit einer Metallplakette am Stamm einer am Straßenrand stehenden Weide markiert. Dort bog er scharf links auf den Acker und steuerte den Landrover durch tief hängende Nebelschwaden auf den Waldrand zu. Seine Ausrüstung, seit gestern Abend im Heck verstaut, rumpelte bei jeder Unebenheit hin und her. Die Hündin schwankte wie besoffen auf dem Beifahrersitz.
»Moin, Günter.« Er ließ die Wagentür sacht ins Schloss gleiten.
»Moin, Walter.« Ihre Atemsäulen standen senkrecht in der Luft. Sie gaben sich die Hand. Er hielt die von Günter ein paar Sekunden länger als üblich in seiner eigenen, weil er irgendwo gelesen hatte, dies würde Dominanz ausstrahlen.
»Wollen mal sehen, ob wir was erwischen.« Sie durchquerten, ohne ihre Taschenlampen einzusetzen, das Terrain, das sie auswendig kannten. Sie beherrschten den Forst wie den Körper einer oft besuchten Hure, hatten ihn erkundet, seine Geheimnisse entdeckt. Sie waren alle Wege zu jeder Jahreszeit gegangen, kannten alle Dickichte, den verschwiegenen Bachlauf, der weitab von jedem Weg durch sein Moosbett plätscherte, das zugewachsene Moor hinter den kargen, einander umklammernden Stämmen. Ihre Nasen witterten das feuchtgrüne Aroma des Waldes beinahe so exakt wie die ihrer Hunde. Sie identifizierten jeden Laut, jede Fährte. Stundenlang konnten sie stillhalten, ganz auf die Beobachtung ihrer Beute konzentriert, in Gedanken den Abschuss vorwegnehmend.
Nach einem kurzen Marsch durch die Dunkelheit erklommen sie nacheinander die schmalen Streben, richteten sich in der klammen, nach rohem Holz riechenden Kanzel ein und verfielen, nachdem sie ihre Waffen ausgepackt und für den Einsatz vorbereitet hatten, in Schweigen. Um sie herum erwachte der Forst, Vögel riefen sich ihre Morgengrüße zu, von Ferne drang das Motorenbrummen eines einsam über die Landstraße rollenden Autos zu den beiden, eng nebeneinander auf der Pritsche hockenden Männern.
Sie waren lange nicht mehr gemeinsam auf die Jagd gegangen. Krug erinnerte sich daran, wie sie viele Stunden miteinander verbracht hatten, ohne Worte zu vermissen. Ganz auf ihr gemeinsames Ziel fixiert, jeder in Gedanken und doch beim anderen. Ein Sinnbild für das Einverständnis, das sie damals auch geschäftlich zusammengebracht hatte. Das war lange her.
Günter hielt den Feldstecher vor seine Augen. »Da ist was«, presste er durch die geschlossenen Lippen.
Auch Krug sah hinüber zum Waldrand. Die Dämmerung gab noch nicht preis, was der andere sah.
»Wo?«, wisperte er, verspürte beim Blick durch sein Fernglas diese köstliche Anspannung, die ihm nur die Jagd vermittelte: das atemlose Ansitzen, das Entdecken des Wilds, die Beobachtung des Tieres, seines Atems, der die haarigen Flanken bewegte, des animalischen Blicks - arglos, verletzlich und stumpf. Bereit für seine Kugel.
Dann sah auch er den Rehbock. Rotbraun vor zartgrün. Er ließ den Feldstecher sinken und schob seine Brille auf die Stirn. In Zeitlupentempo hob er das Gewehr zur Schießscharte hinauf, spähte durch das Zielfernrohr.
Zwanzig Sekunden später war alles vorbei. Der Bock trat, nachdem er witternd zu ihnen hinüber geblickt hatte, in den Wald zurück.
»Mist.«
»Kannst du laut sagen.«
Während die Sonne endgültig aufging, das Feld und den Forst in puffrosafarbenes Licht tauchte, teilten sie Kaffee mit Schuss aus der Thermoskanne und kauten auf den Wurstbroten, welche Günters Frau für sie geschmiert hatte.
»Wird das noch was, heute? Was meinst'?«
Krug brummte Unverständliches und dachte, das war genau die Frage, die er sich schon seit einer Weile in Bezug auf ihre Zusammenarbeit stellte. Günter stellte sich in letzter Zeit an wie ein Mädchen, zeigte bei jeder Kleinigkeit Nerven und versuchte, ihn mit seinen Skrupeln unter Druck zu setzen. Ob seine Alte dahinter steckte? >Wenn ich könnte, würde ich Günter die Pistole auf die Brust setzen. Wir machen es so, wie ich es will oder gar nicht.< Sollte der andere doch sehen, wie er klarkam. Aber sie waren zusammengeschweißt. Nicht nur ihre gemeinsamen Ingenieurstudienjahre in Meißen und die Jagdleidenschaft, der sie beide seit vielen Jahren frönten - nein, es war diese tiefe Überzeugung, die sie vereinte: die Gesellschaft - wie auch immer sie nun hieß: Deutsche Demokratische Republik oder Bundesrepublik Deutschland - sei ihnen beiden etwas schuldig. Sie hatten lange genug für andere gearbeitet, schwer gearbeitet, den Kopf hingehalten. Nun waren sie an der Reihe, hatten sie nach 89 gemeinsam beschlossen.
In einem Winkel seines Herzens hoffte er, der andere würde sich noch einmal besinnen und Vernunft annehmen. Denn es würde nicht leicht werden, sich von Günter zu trennen. Dazu verband sie zu viel.
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»Ach nee, der Köppi!«
Rafael zuckte zusammen. Diesen Namen hatte er seit seiner Inhaftierung nicht mehr gehört, und auch nicht vermisst. Spielte er doch auf seine erste Zeit bei den Wismarer Rockern an, als er, der unbedarfte Jugendliche, von den anderen im Chapter ausgenutzt und gedemütigt worden war. Sie hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, ihm Kopfnüsse zu verpassen, wann immer es ihnen passte. So war er, auch als er schon Prospect, also ernsthafter Anwärter auf die Vollmitgliedschaft im MC gewesen war, diesen Namen nicht losgeworden. Jetzt stand Kurt, der Präsi, direkt hinter ihm in der Schlange des Einkaufsmarktes und schob seine verspiegelte Sonnenbrille auf die Stirn - zehn Jahre älter, noch feister als damals und noch immer von dieser verhaltenen Brutalität, die aus seinen kleinen, blassen Augen im scheinbar harmlosen Gesichtsrund sprach.
»Das ist aber interessant. Bist also wieder draußen. Du wolltest dich doch sicher sehr bald bei uns melden, nicht wahr? Hast nur gerade so viel anderes zu tun, oder?« Er nickte in die Richtung von Rafaels kaum gefüllten Einkaufswagen: »Hast die Sache, die wir miteinander zu klären haben, aber natürlich nicht vergessen, sondern sicherlich schon beiseite gelegt, was du uns schuldest, nicht wahr?«
Rafael war in Verteidigungsstellung gegangen, die Füße fest am Boden, die Hände locker neben dem Körper. Er biss die Zähne aufeinander und atmete flach. Sein Blick hatte sich verengt, er nahm nichts als den breiten Kerl in der Rockerkutte und der schwarzen ausgebeulten Lederhose wahr, der seinen Einkauf - zwei Wodkaflaschen - locker mit der einen Hand hielt.
»Tach, Kurt!« Er überlegte krampfhaft, wie er am schnellsten aus dieser Situation herauskommen könnte. Wie hatte er nur so naiv sein können, zu glauben, er könne in Wismar unbehelligt von seiner Vergangenheit bleiben? Ganz so, als würde sein Vorsatz, sich von seinem ehemaligen Chapter fernzuhalten, irgendetwas an der Tatsache ändern, dass Wismar eine verdammt übersichtliche, kleine Stadt war, in der man ständig Leuten begegnete, die man kannte - ob man wollte oder nicht. War er so besessen von der Idee, einen neuen Menschen aus sich zu machen, dass er die Realitäten verkannte? Das konnte tatsächlich lebensgefährlich für ihn sein. Mit dem Black Rider MC war auf keinen Fall zu spaßen.
Denn natürlich gab es den noch. Die jahrzehntealten Strukturen von...
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