Schweitzer Fachinformationen
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Flughafen Berlin-Schönefeld. Eine Traube von Polizisten umringt mich. Man verdächtigt mich, Sprengstoff dabeizuhaben. Ein routinemäßiger Abstrich an meinem Fahrrad hat das ergeben. »Hey, Leute, ich will euch ja nicht enttäuschen, aber ihr werdet bei mir nichts finden!« Sie wiederholen den Abstrich - erneut positiv. Es sind die Reifen meines Fatbikes. Das sperrige Ungetüm ist das Einzige, was am Zugang zum Check-in nicht durchleuchtet werden konnte, es passt nicht durch den Gepäckscanner. Man gibt mir zu verstehen, dass ich die Räder ausbauen soll, um zumindest diese scannen zu lassen. Ich reagiere etwas genervt, weil ich schon damit begonnen hatte, das Fatbike flugfertig vorzubereiten: Vorderrad raus, mit Kabelbindern am Rahmen fixieren, Pedale ab, Lenker quer, Schaltwerk sichern, Scheibenbremsen polstern und am Ende alles in einen großen Sack verpacken. Ich war schon fast fertig, doch jetzt soll ich das durchdachte Konstrukt wieder auseinanderfriemeln.
Orthodoxe Kirche in der Altstadt von Jakutsk.
Hastig hole ich beide Laufräder raus und lege sie auf das Band. Prüfende Blicke. Natürlich ist nichts Verdächtiges zu erkennen. Ratlose Blicke. »Was jetzt? Ich muss mich beeilen, sonst hebt mein Flieger ohne mich ab!«, sage ich und baue die Laufräder flugs zurück in das Radpaket. Ich weiß, dass ich damit gleich noch mal zur Sperrgepäckannahme rennen muss. Dort wird es dann noch einmal komplett durchleuchtet. Man lässt mich ziehen, wenn auch ein wenig skeptisch, wie mir scheint. Vielleicht bin ich auf dem Weg zum Flughafen einfach nur durch die Überreste eines alten Silvesterböllers gefahren .
Nun wird es spannend. Am Check-in bin ich tatsächlich der Letzte. Inständig hoffe ich, dass mein aufgegebenes Gepäck noch rechtzeitig verladen wird. Mein Ziel ist Jakutsk, mit einem Umstieg in Moskau. »Jakutsk? Wo ist das denn?«, fragen mich die Damen, die mir das Ticket ausstellen. Wie bitte? »Jakutsk, das ist die Hauptstadt der größten autonomen Republik Russlands, ganz im Osten, in Sibirien«, erwidere ich mit leicht erstauntem Unterton. »Hmm . Irkutsk sagt uns was, aber Jakutsk? Noch nie gehört, das muss was Neues sein.« Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, sage aber nichts mehr dazu. Vom russischen Bordpersonal hätte ich ein bisschen mehr Kenntnis von den inländischen Zielen erwartet. Egal, Hauptsache, der Pilot kennt die Flugroute.
In sprichwörtlich letzter Minute erreiche ich meinen Flieger. Doch dann heißt es erst einmal warten. Nach einer Weile ertönt eine klärende Durchsage: »Es gibt Probleme mit dem Gepäck eines Passagiers.« In mir kommt der Verdacht auf, dass dieser ominöse Passagier auf den letzten Drücker ein Fahrrad als Sperrgepäck aufgegeben hat. Ich atme kurz auf und schaue mit betont unschuldigem Blick aus dem Fenster. Dann hebt das Flugzeug endlich ab, mit 20 Minuten Verspätung.
Am Morgen des 1. März lande ich in Jakutsk. Die Sonne scheint durch diffuse Wolkenschleier, Eisflitter glitzert in der Luft. Als ich hinaustrete, füllen sich meine Lungen mit beißender Kälte, die mir aber alles andere als unangenehm vorkommt. Durch die kontinentale Trockenheit wirken hier -20 °C erträglicher als Temperaturen um den Gefrierpunkt in Berlin. Im Flughafengebäude warte ich auf mein Gepäck. Zwischen unzähligen Koffern erspähe ich schon bald meine zwei großen Packtaschen und nehme sie vom Gepäckband. Auf das Fahrrad warte ich jedoch vergeblich. Ich warte so lange, bis nur noch ein letzter verlorener Koffer seine Kreise dreht. Als das Band schließlich stoppt, rufe ich fragend durch die Luke, ob da noch Sperrgepäck durch die Tür kommt? Man verneint . Mist! Das geht ja gut los, ist aber nach den Verzögerungen in Berlin auch nicht verwunderlich. Ich gehe zur Gepäckaufsicht. Man nimmt meine Daten auf und will mich informieren, sobald das Rad auftaucht.
Dann rufe ich Maria an, bei der ich eine Unterkunft gebucht habe. Sie will mich mit dem Auto direkt vom Flughafen abholen, und wenige Minuten später ist sie schon da. Wir fahren direkt zu dem Wohnblock, in dem ich mich für ein paar Tage einrichte, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen zu treffen. Meine Basis ist zentrumsnah, so kann ich vieles zu Fuß erledigen - Bargeld tauschen, eine russische SIM-Karte beschaffen, mich mit Proviant eindecken und mit Unterstützern meiner Reise verabreden. Auf den stark befahrenen Straßen der Innenstadt herrscht reges Treiben. Dick eingepackt flanieren Junge wie Alte mit bizarr knirschenden Schritten über den festgetretenen Schnee der breiten Gehwege, jeder eine Dampfwolke der ausgestoßenen Atemluft hinter sich herziehend. Während ich mich mitten im tiefsten Winter wähne, ist für diese Menschen bereits der Frühling angebrochen - mit längeren Tagen, höherem Sonnenstand und nicht mehr so tiefen Temperaturen. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich der Hochwinter um den Jahreswechsel anfühlen muss: tags wie nachts um -50 °C nebliger Smog, Raureif, Dunkelheit. Da geht der gemeine Städter nur noch vor die Tür, wenn er unbedingt muss, möglichst schnell von A nach B, von einer wärmenden Insel zur nächsten. Verständlich, dass dann ein paar sonnige Tage mit -30 °C am Morgen und -20 °C am Nachmittag schon Frühlingsgefühle auslösen. Das Kälteempfinden hat hier einen anderen Maßstab.
Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt, mehr als 300.000 Menschen leben hier, die Hälfte davon Jakuten. Von Künstlern geschaffene Eisskulpturen wachen wie Denkmäler über das Zeitgeschehen, als würde es nie einen Sommer geben.
Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt, mehr als 300.000 Menschen leben hier, die Hälfte davon Jakuten. Von Künstlern geschaffene Eisskulpturen wachen wie Denkmäler über das Zeitgeschehen, als würde es nie einen Sommer geben. Und auf den Märkten wartet schockgefrosteter Fisch auf seine Käufer. Die Wohnblöcke stehen hier alle storchenhaft auf Betonstelen, damit die Abwärme der Gebäude nicht den darunterliegenden Permafrostboden auftaut. Ebenso sind sämtliche Rohre oberirdisch verlegt, was dem Stadtbild zuweilen einen industrieartigen Charakter verleiht. Lediglich das Zentrum um die historische Altstadt sticht heraus - mit seinen großen Plätzen, pompösen Verwaltungsbauten und fein restaurierten Holzhäusern. Zwischen all dem glänzen die blank polierten goldenen Zwiebeltürme einer prunkvollen orthodoxen Kirche. Ein Ort der Kontraste.
Hier treffe ich mich am Abend mit Larisa, einer Jakutin, die wunderbares Deutsch spricht und im Sommer als Reiseleiterin bei Lenaturflot arbeitet. Ich hatte sie vor zehn Jahren während meiner ersten Radtour quer durch Jakutien kennengelernt. Damals führte sie mich durch das Museum für Landeskunde und erläuterte mir die Geschichte Jakutiens. Dass ich nach all der Zeit noch mal Kontakt zu ihr aufnehmen sollte, verdanke ich einer zufälligen Begegnung in Potsdam bei einem Vortragsabend namens »360° OST« kurz vor meinem Tourstart. In der russlandaffinen Besucherschar traf ich auf Christina, eine junge Frau, die selbst schon mal in Tiksi war - mit einem Kreuzfahrtschiff über die Lena. Ich fragte sie, wie sie an das Permit für Tiksi gekommen war. Die Polarhafenstadt befindet sich nämlich in der arktischen Grenzzone Russlands und darf offiziell nur mit einer Sondergenehmigung des russischen Geheimdienstes FSB besucht werden. Dessen Ableger in Jakutien hatte ich bereits im Dezember angeschrieben, doch meine Mails mit dem Antrag blieben unbeantwortet, die Mailadresse schien nicht mehr gültig zu sein. Im Januar bat ich dann diverse jakutische Reiseagenturen, mir bei der Beschaffung des Permits behilflich zu sein. Doch niemand konnte oder wollte sich darauf einlassen. Zu verrückt erschien ihnen mein Vorhaben, auf eigene Faust und ohne professionelle Begleitung loszuziehen. Sie waren offenbar nicht bereit, mir das nötige Vertrauen entgegenzubringen. Denn wer den Antrag für mich einreicht, hält in gewissem Sinne seinen Kopf für mich hin und trägt Verantwortung für mein Tun.
Bei einer Flusskreuzfahrt ist die Permitbeschaffung natürlich Teil des touristischen Angebots und wird vom Reiseveranstalter organisiert. Ob ich da jemanden um Hilfe bitten kann, fragte ich Christina. Sie überlegte eine Weile, dann fiel ihr ein: Die Reiseleiterin von dem Schiff, die könnte Bescheid wissen! Sie spreche Deutsch, Larisa sei ihr Name. Larisa? Moment, etwa die Larisa, die ich 2007 bei meinem ersten Besuch in Jakutsk kennengelernt hatte? Ich ließ mir die Mailadresse geben - sie war identisch mit jener, die ich mir vor zehn Jahren in mein Tagebuch notiert hatte. Also schrieb ich sie einfach an, mit Verweis auf unser damaliges Treffen. Prompt kam eine herzliche Antwort. Sie erinnerte sich an mich und war sofort bereit, die nötigen Formalitäten in Erfahrung zu bringen und meinen Antrag direkt im Büro des FSB einzureichen. Eigentlich war das Zeitfenster schon längst abgelaufen, denn üblicherweise dauert die Bearbeitung eines solchen Antrags zwei Monate, bis zu meinem geplanten Tourstart verblieben aber nur noch vier Wochen. Es war die letzte Chance, das Permit für Tiksi zu bekommen....
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