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Caen, August 1944
Die staubige Landstraße vor der zerstörten Stadt war auf beiden Seiten von Zuschauern gesäumt. Dass die Kanadier ihre Gefangenen an diesem Tag durch die Trümmer der einst stolzen Stadt führen würden, hatte sich in Windeseile herumgesprochen und die Menschen auf die Straße getrieben. In der Menge herrschte eine aufgeheizte Stimmung. Als die besiegten Soldaten sich näherten, die Hände über den gesenkten Köpfen verschränkt, mit blassen Gesichtern, aufgerissenen Lippen und in schmutzigen Uniformen, wurden erst einzelne Beschimpfungen laut, die schließlich in einen gellenden Sprechchor mündeten.
Die junge Frau mit dem schwarzen lockigen Haar und den ungewöhnlich hellen blauen Augen wollte sich abwenden, um diesem Spektakel zu entfliehen, aber plötzlich spürte sie, dass sich die Hand ihres Begleiters wie eine eiserne Kralle um ihr Handgelenk legte. Sie suchte seinen Blick, aber er wich dem ihren aus und sah stur auf die Straße. Als die ersten Männer auf ihrer Höhe ankamen und zum Greifen nahe waren, spuckte er in hohem Bogen vor ihnen aus, bevor er in den Chor der anderen einstimmte. Boches! Meurtriers!, waren noch die harmlosesten Rufe, die nun immer lauter wurden. Noch einmal versuchte sie, zu entkommen, aber der Griff um ihr Gelenk wurde nur noch fester. Sie flehte den Mann an ihrer Seite leise an, ihr diesen Anblick zu ersparen, aber er schnauzte zurück, sie solle sich die Schweine ruhig ansehen. Besonders das eine.
Sie verstand nicht, was er mit dieser Drohung bezweckte. Der Eine war doch längst in Gefangenschaft auf der anderen Seite des Ozeans oder, schlimmer noch, tot.
Warum fiel sie nicht in den Chor ihrer Landsleute ein? Die Männer dort hatten es doch verdient. Sie hatten großes Unheil nicht nur über die Normandie gebracht, sondern über ganz Frankreich. Sie sollte sie mit derselben Inbrunst hassen, wie es ihre Familie tat, ihre Nachbarn, ihre Freunde, die sich am Bild des Jammers, das die ehemaligen Herrenmenschen nun abgaben, erfreuten. Beschimpft, bespuckt und von einigen Männern in der vorderen Reihe der schaulustigen Sieger mit Stöcken geschlagen. Sie musste plötzlich an ihre einst beste Freundin denken, die keiner zwang, sich das Elend der Besiegten anzusehen. Aber was war das für ein Leben? Sie musste sich wie ein Tier verstecken in der Hoffnung, dass man sie niemals für das bestrafen würde, was sie getan hatte. Gejagt von ihrem eigenen Bruder, der ihr bittere Rache geschworen hatte. Ob ihre Brüder auch so fanatisch gewesen wären, wenn sie noch erfahren hätten, was für Folgen ihre Liebe zu einem Boche hatte?
Es war ja nicht so, dass die junge Frau, die sich wider Willen in der sich an der Schmach der Besiegten ergötzenden Menge am Straßenrand befand, diese Männer weniger verachtete, als der Rest ihrer Landsleute es tat. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass sie nicht alle gleich waren. Dass sie nicht alle blind ihrem Führer gefolgt waren, sondern dass es Zweifler unter ihnen gab. Zweifler wie den Einen. Den Einen, der zutiefst verabscheute, was ihn im Namen des Vaterlandes in ein fremdes Land getrieben hatte, um Menschen zu unterjochen und zu töten.
Sie schloss die Augen. Nein, sie konnte und wollte sich dieses Schauspiel nicht länger mit ansehen. Inmitten der Schaulustigen, die Euphorie geradezu ausschwitzten, gab sie sich ihren Gedanken hin. In ihr kamen Zweifel auf, ob es richtig war, die Augen zu verschließen. Wäre es nicht eine Art Wiedergutmachung, wenn sie am lautesten brüllte? Wüssten die Menschen um sie herum, was sie getan hatte, sie würden sie auf der Stelle aus dieser Gemeinschaft ausstoßen. Sie befand sich in einem schier unlösbar erscheinenden Seelenkonflikt. Natürlich liebte sie ihr Land und hasste die Eindringlinge aus tiefstem Herzen dafür, dass sie Zerstörung und Verderben über diesen geliebten Flecken Erde gebracht hatten, doch schmerzhaft intensiv schlug ihr Herz auch für den Geliebten, der ihr Feind hätte sein sollen. Und für sein . Erschrocken hielt sie inne. Sie wollte sich das Unheil, das über sie hereinbrechen würde, wenn ihre Familie von dieser Schande erfuhr, gar nicht ausmalen. Ein Schmerz in der Seite riss sie aus ihren schwermütigen Überlegungen. Der Mann neben ihr hatte ihr mit dem Ellenbogen einen unsanften Stoß versetzt. Der Mann, der ihr ansonsten treu ergeben war, schien geradezu darauf versessen, dass sie sich dieses Bild einprägte. Und wenn es sein musste, sogar mit Gewalt. Also versuchte sie, die Besiegten in ihren grauen Uniformen als gesichtslose Feinde zu betrachten, die es verdient hatten, für ihre Verbrechen gedemütigt zu werden. Das gelang ihr halbwegs, bis sie, obwohl er den Kopf wie die anderen gesenkt hatte, meinte, ihren schlimmsten Feind, diese Bestie in Menschengestalt, erkannt zu haben, der nicht nur ein Gesicht, sondern einen Namen besaß. Auch dieser Mann, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Meurtrier!«, hörte sie ihre eigene überschnappende Stimme brüllen. »Meurtrier!« Erst da erkannte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Er sah ihm nur entfernt ähnlich. Für einen winzigen Augenblick hatte sie nicht daran gedacht, dass er es gar nicht sein konnte, weil er längst seine gerechte Strafe bekommen hatte. Er war abgestochen worden, wie es einem Schwein wie ihm gebührte.
Ihr Begleiter warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Offenbar glaubte er, dass sein Plan, ihr die schöne Erinnerung an den Einen auszutreiben, endlich Erfolg zeigte. Sein eiserner Griff löste sich, und er fasste nach ihrer Hand. Sie tat so, als würde sie seine zärtliche Geste erwidern, während in ihrem Herzen die Abwehr gegen ihn noch genauso intensiv brannte wie zuvor. Niemals würde sie den Einen vergessen, und wenn sie hundert Jahre alt würde . Zärtlich strich sie sich mit der anderen Hand über ihren Bauch. So als wollte sie um Verzeihung bitten, dass sie sich von dem anderen, den sie nicht liebte, beschützen ließ. Sie schämte sich zugleich, weil sie zu wenig Dankbarkeit empfand. Für den Mann an ihrer Seite, der schwor, sie vor der grausamsten Rache zu bewahren, die einer Frau wie ihr nun drohen würde. Und er war kein Kerl, der leere Versprechungen machte. Zumindest dankbarer sollte sie ihm sein. Pflichtbewusst drückte sie seine Hand. Er wandte sich ihr lächelnd zu. Diese Zuwendung schien ihn glücklich zu machen. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sollte das wirklich ihre Zukunft sein? Ein Leben lang so tun, als ob? Oder würde die Zeit alle Wunden heilen, und sie würde ihn sogar lieben lernen? Er war doch kein Unmensch, sondern ein aufrechter Franzose, der sie über alles liebte. Und ein ansehnlicher Mann überdies. Aber war das wirklich Liebe, wenn man ihr abverlangte, ihre wahren Gefühle zu verleugnen, um die Frau an seiner Seite zu spielen? Er hatte so lange um sie gekämpft. Jetzt fühlte er sich am Ziel seiner Träume. Und offenbar war er sich seines Erfolgs ziemlich sicher, nahm an, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie diesen Boche aus ihrem Herzen verbannte. Sie durfte ihm diese Illusion nicht nehmen. Sie hatte keine andere Wahl, musste mitspielen, ob sie es wollte oder nicht. Wenn sie nur für sich selbst entscheiden müsste, wäre das etwas anderes. Dann wäre ihr gleichgültig, was für einen Preis sie für diese Liebe zu zahlen hätte, aber so?
Noch einmal hob sie den Blick und nahm nun ungerührt die einstigen Herrenmenschen wahr, wie sie unter den Augen der ehemals von ihnen Besetzten zu armseligen Kreaturen schrumpften. Nach einer Weile traute sie sich, genauer hinzusehen. Sie erschrak beim Anblick halber Kinder. Hatte er ihr das nicht einmal anvertraut? Vorzugsweise hatte man junge Burschen und alte Männer an den Nordatlantikwall in die Normandie geschickt, weil man in Berlin an dieser Stelle nicht mit einem Angriff der Alliierten vom Meer her gerechnet hatte. Ein fataler Irrtum, wie sich herausgestellt hatte.
Ihr Blick blieb schließlich an einem hochgewachsenen Soldaten hängen, der schwerfällig ein Bein nachzog. Für einen Moment drohte ihr Herzschlag auszusetzen, denn das, was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, erinnerte sie so sehr an ihren Geliebten. Die kräftige Nase, das markante Kinn, die Augen . Stundenlang hatte sie dieses Profil in dem geheimen Zimmer betrachtet. Immer dann, wenn er vor Erschöpfung eingeschlafen war und sie ihn erst weit nach Mitternacht durch den Hintereingang nach draußen geschickt hatte, wenn dem einsamen Radfahrer auf den Schleichpfaden von Arromanches-les-Bains nach Colleville-sur-Mer keine Menschenseele mehr begegnen würde.
Sie rieb sich die Augen. Das konnte nicht sein! Seine Beine waren gesund gewesen. Beide.
Genau in diesem Moment kam der Zug der Gefangenen zum Stehen. Es gab keinen Zweifel mehr! Er war es! Sie wollte laut seinen Namen rufen, konnte sich aber in letzter Sekunde beherrschen. Sie sah nun den Mann neben sich an, über dessen Gesicht ein triumphierendes Grinsen ging, während er ihr zuflüsterte: »Er ist den Amerikanern entkommen, bevor man ihn auf das Schiff bringen konnte. Das hat er nun davon! Er kann nur froh sein, dass unsere Männer ihn nicht in die Finger bekommen haben.«
Sie wandte sich abrupt von ihm ab und blickte erneut in die Richtung des Mannes, den man ihr mit aller Macht aus dem Herzen zu reißen versuchte. Ihr wurde schwindlig, aber sie starrte weiter dieses vertraute und doch so fremde Profil an, obwohl der Mann an ihrer Seite den Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Das aber fühlte sich nicht wie eine liebevolle Geste an, sondern wie eine tonnenschwere Last.
Bitte, mein Herz, heb den Kopf und schau hierher, flehte es in ihrem Inneren, doch der Geliebte stierte weiter auf...
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