Schweitzer Fachinformationen
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Die Hochzeit
Porto Venere, Juli 2008
Ein gellender Schrei drang an ihr Ohr. Kaum war er verklungen, ging ihr ein weiterer durch Mark und Bein. Sie hatte von einer riesigen glitzernden Schlange geträumt, die sich wie eine Kobra mit gespreiztem Nackenschild bedrohlich vor ihr aufrichtete. Ihr schlimmster Albtraum. War dieser Schrei etwa aus ihrem eigenen Mund gedrungen? Doch da ertönte erneut der Schrei einer Frau, der Tote zum Leben erweckt hätte. Sie aber hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Das war kein Traum.
Zitternd lag sie in ihrem Bett. Jedenfalls glaubte sie das, als sie versuchte, die Augen zu öffnen. Ihre Lider waren bleischwer, und ihre Augen schienen mit Klebstoff verschlossen zu sein. Gegen ihre Schläfen hämmerte ein dumpfer Schmerz. Als sie es endlich geschafft hatte, die Augen wenigstens einen Spalt weit zu öffnen, versuchte sie, sich zu orientieren, ohne sich aufzusetzen. Bis auf das laute Zirpen der Zikaden war plötzlich alles still. Die Singzikaden waren ganz in ihrer Nähe. Das hörte sich anders an als in ihrem Zimmer.
Ich bin nicht in meinem Bett, ich bin draußen bei den Rhododendronbüschen, durchfuhr es sie eiskalt. Die Zikaden dort waren nicht totzukriegen, obwohl der Gärtner ständig versuchte, diese parassiti, wie er lauthals schimpfte, auszurotten. Vor ihrer Zeit in Ligurien hatte sie das Zirpen der Grillen für ein wunderbares Sommergeräusch gehalten. Doch Pedro, der Gärtner, hatte ihr in seinem deutsch-italienischen Kauderwelsch erklärt, dass die parassiti mache alles kapuutt in die Busch. Er hatte ein paar Jahre als Kellner in Deutschland gearbeitet und sprach mit ihr stets Deutsch, obwohl sie perfekt Italienisch konnte.
Der Rhododendron war oben auf der Terrasse vor dem Haus. Sie lag also auf einer der Sonnenliegen. Soweit es ihr im Liegen möglich war, ließ sie ihren Blick vorsichtig schweifen: die Farbe der Liegen, ein Himmelblau, verriet ihr, dass sie tatsächlich auf der Terrasse vor dem Haus lag. Nicht unten am Pool. Dort gab es rote Liegen. Die Signora hasste Unordnung. Jeden Abend stellte der Gärtner die Liegen wieder zurück an die richtigen Plätze.
Aber was machte sie hier unter dem Sternenhimmel im Licht des Vollmondes statt in ihrem Zimmer? Mit einem Stöhnen richtete sie sich auf. Der Kopf wollte ihr schier bersten. Ihr war speiübel, der Mund ausgetrocknet. Ein Frösteln ging durch ihren ganzen Körper. Auf ihren nackten Armen und Beinen bildete sich eine Gänsehaut.
Erschrocken stellte Amrei fest, dass sie nur einen Slip und einen BH trug. Und wenn sie sich nicht täuschte, war ihre Unterwäsche feucht, so als hätte sie damit gebadet. Ein erneutes Frösteln durchrieselte sie. Jetzt erst spürte sie, dass ihr schrecklich kalt war. Sie ließ ihren Blick, soweit sie dazu ohne Schmerzen in der Lage war, schweifen. Ja, sie befand sich auf der Terrasse der Casa Speranza mit dem unvergleichlichen Blick über den Golf der Poeten. Auf den Fliesen neben der Liege lag ein zusammengeknülltes Handtuch. Daneben ihr Kleid. Das Kleid mit den Pailletten, das Amrei für die Abschiedsparty an ihrem letzten Tag in Genua in der Via XX Settembre gekauft hatte. Eigentlich hatte nicht sie dieses schwarze Minikleid ausgesucht, sondern ihre Gastschwester. Amrei hätte viel lieber eines von den weich fallenden Sommerkleidern angezogen, die ihre Polster auf den Hüften vorteilhaft kaschierten. Mach dir nichts draus, pflegte ihre Mutter stets zu sagen, der Babyspeck verschwindet eines Tages wie von selbst. Maria hatte sie zu diesem Kauf überredet. Damit du auf dem Fest die Schönste bist!, hatte sie gesagt.
Erneut ergriff ein Schaudern Amreis ganzen Körper bei dem Gedanken an die gestrige Abschiedsparty für Inga, Leni und sie. Als sie versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, wurde ihr erneut übel, aber es tauchten keine klaren Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Nur die Ankunft am Nachmittag sah sie deutlich vor sich. Die Schwestern Inga und Lena hatten das Au-pair-Jahr in den Familien von Signora Podestàs beiden Brüdern verbracht. Deswegen war die ganze Clique um ihren Gastbruder Alfredo aus Genua zur Abschiedsparty gekommen. Sie waren alle zusammen mit dem Zug nach La Spezia gefahren. Dort hatte sie Pedro mit einem Bus abgeholt und zur Villa gefahren. Allerdings war er danach gleich wieder verschwunden, denn Alfredo hatte ihm deutlich gemacht, dass sie keinen Aufpasser bräuchten.
Amrei hatte nicht gezählt, wie viele sie waren, aber an die zwanzig Gäste waren sie bestimmt gewesen. Sie erinnerte sich dunkel: Die lärmende Schar von Feierwütigen war in die Casa Speranza regelrecht eingefallen. Schon wenig später war der Alkohol in Strömen geflossen. Ihr persönlich wäre es lieber gewesen, wenn Pedro in der Nähe geblieben wäre, denn sie trank weder Alkohol, noch probierte sie das weiße Pulver, das einer von Alfredos Freunden bei jeder Party hervorzauberte und die bildhübschen coolen Begleiterinnen der jungen Männer in kichernde Schulmädchen verwandelte, wenn sie wenig später, die eingerollten Geldscheine noch in der Hand, wieder aus dem Bad zurückkehrten. Wenn Maria dabei war, machte es einen Heidenspaß, über die abgedrehten Mädels, und natürlich auch die Jungs, zu lästern. Aber gestern hatte sie keine Verbündete gehabt. Maria war heute Morgen mit Freunden auf eine Reise nach Neuseeland aufgebrochen, um dort ihren älteren Bruder zu besuchen. Ein Geschenk ihrer Eltern zur bestandenen maturità.
Sie erinnerte sich noch sehr deutlich daran, dass Inga sie abfällig als »Langweilerin« bezeichnet hatte, nachdem Amrei mit Salvi, wie der kleine Salvatore genannt wurde, vom Strand zurückgekehrt war. Der sechsjährige Nachzügler ihrer Gasteltern war ihr Augenstern. Es war ihre Aufgabe, sich um den Jungen zu kümmern. Sie weckte ihn morgens, brachte ihn zur Schule, holte ihn wieder ab und machte Hausaufgaben mit ihm. Und sie hatte ihm im Pool des Ferienhauses das Schwimmen beigebracht. Er war wie der kleine Bruder, den sich das Einzelkind Amrei stets gewünscht hatte. Der Kleine hing an ihr wie eine Klette. Er hatte unbedingt mit zum Ferienhaus gewollt, was Alfredo, seinem älteren Bruder, gar nicht recht gewesen war.
Doch schließlich hatte die Signora ein Machtwort gesprochen und die Anordnung erteilt, ihren Jüngsten mit nach Porto Venere zu nehmen. Amrei hatte ihr versprochen, dass er bei ihr im Zimmer schlafen durfte und sie auf ihn aufpasste. Amrei nahm ihre Verantwortung sehr ernst. Deshalb war sie ja auch, nachdem der Pool mehr und mehr zu einer Partymeile geworden war, mit Salvi zum Strand gegangen und hatte den Tag mit ihm dort verbracht. Sie selbst hatte sich eine solche Abschiedsorgie auf keinen Fall gewünscht, aber die anderen hatten darauf bestanden, ihren Abschied im Sommerhaus mit allem, was dazugehörte, was auch immer das heißen mochte, zu feiern. Auf jeden Fall ohne die Eltern. Sie hätte das Ende ihres Italienjahrs viel lieber allein mit der Familie Podestà verbracht .
Das Hämmern in ihrem Kopf wurde unerträglich. Sie griff sich an die Schläfen und presste ihre Finger dagegen, aber das brachte keine Linderung. Im Gegenteil. Sie ließ den Kopf zurück auf die Liege sinken.
In dem Moment hörte sie aufgeregte Stimmen, die immer näher kamen und plötzlich auf sie einredeten.
»Du musst weg!«, fuhr die blonde Inga sie grob an und schüttelte sie, als wäre sie eine Schlackerpuppe. Amrei leistete keinerlei Widerstand, sondern ließ sich willenlos schieben und schubsen.
»Sie muss sofort weg!«, echote Alfredo, bevor er würgte und sich offenbar neben ihrer Liege erbrach.
Amrei wollte protestieren, aber ihr Mund war so trocken, dass sie keinen Ton hervorbrachte, doch da wurde bereits brutal an ihrem Arm gezerrt. »Wir holen jetzt ein Taxi. Dein Zug geht um sieben von La Spezia ab.«
Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Ihr Zug von La Spezia fuhr tatsächlich in aller Frühe. Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Schon gut . Ich komme ja«, stöhnte sie.
Im Hintergrund sah sie wie hinter einer Nebelwand eine dritte Person auftauchen.
»Komm! Wir holen ihre Sachen!«, befahl Inga.
»Aber seht ihr das nicht? Sie kann nicht aufstehen.« Das war Lenis Stimme. Amrei wollte ihren Namen rufen, sie konnte nicht. Leni sah aus wie ein Gespenst, und ihr Nachthemd klebte ihr am Körper, als ob sie damit gebadet hatte.
Stattdessen hörte Amrei sich selbst verzweifelt nuscheln: »Was is'n?«
Doch da waren Inga und ihre Schwester bereits im Dunkel der Nacht verschwunden. Alfredo blieb bei ihr. Sein sonst eher ebenmäßig brauner Teint hatte im Mondschein die Farbe einer gekalkten Wand. Sie griff nach seiner Hand. »Was is'n?«, wiederholte sie. »Was is'n?«
»Du wirst deinen Zug verpassen«, entgegnete Alfredo mit fremder Stimme.
»Es ist doch noch tiefe Nacht.« Amrei hatte nur einen Wunsch: sich zusammenzurollen und weiterzuschlafen.
»Du irrst, schau über die Bucht. Die Morgendämmerung! Und du musst jetzt mit dem Taxi nach La Spezia.« Er zerrte erneut an ihrem Arm.
Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Aber ich möchte mich noch von Salvi verabschieden.« Salvi? Ein eiskalter Schreck durchfuhr ihre Glieder. Wieso hatte sie nicht in ihrem Zimmer bei ihrem Schützling geschlafen? Sie konnte sich dunkel daran erinnern, wie sie ihn gestern Abend ins Bett gebracht hatte. Nachdem sie ihm seine Lieblingspizza zubereitet hatte. Es war gar nicht so leicht gewesen, sich dort in der Küche am...
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