DER INDIVIDUALRAUM
Raum ist ein grundlegender Bestandteil der Realität. Er umgibt uns, wir bewegen uns darin und wir nehmen mit dem Platz, den der eigene Körper ausfüllt, Raum ein. Entweder wir beanspruchen diesen Bereich für uns selbst, oder aber wir sind bereit, unsere Nähe zu teilen. Hunde haben, genau wie wir Menschen, individuelle Wohlfühlbereiche: Den Raum, den es braucht, um sich nicht bedrängt zu fühlen. Die Grenzsetzung variiert je nach Situation und Interaktionspartner. Eine wichtige Regel im sozialen Miteinander ist, den Raum des anderen zu achten und zu respektieren - dafür nutzen wir, der Mensch und der Hund, territoriales Verhalten.
© Anna Auerbach
Herr Rossi möchte keinen körperlichen Kontakt zum Menschen. Er erwartet, dass ich seinen Wohlfühlbereich respektiere.
MENSCH - SELBSTWAHRNEHMUNG
Je bewusster ich mir selbst bin, desto bewusster kann ich meinen Körper einsetzen, um Raum präsent auszufüllen. Es ist eine spannende Herausforderung, immer mal wieder in sich hineinzuhorchen und sich zu reflektieren. Über Ich-Botschaften, wie zum Beispiel: "Ich möchte das nicht!", lassen sich die eigenen Bedürfnisse nach außen kommunizieren, statt über Vorwurf oder Belehrung eine Abwehrreaktion des Gegenübers herauszufordern. Das ist im Alltag zum Beispiel bei Hundebegegnungen wichtig. Sagen Sie "Nein", wenn Sie Nein meinen, und wenn Ihr Bauchgefühl etwas ablehnt, sollten Sie dem nachgehen. Intuition ist zwar meistens spontan, aber doch oft richtig und einfach authentisch.
Auch im Zusammenleben mit Ihrem Hund legen Sie Ihren Wohlfühlabstand fest und entscheiden, wann ein Hund mit Ihnen Körperkontakt aufnehmen darf und wann er sich zurücknehmen soll. Die ausgesendeten Signale sollten dabei vom Hund wahrgenommen und respektiert werden. Laden Sie wiederum einen Hund zu sich ein, bieten Sie Nähe und Geborgenheit, einen Schutzraum nur für sich und den jeweiligen Hund. Hier gilt es, seinem Interaktionspartner "Hund" gegenüber achtsam zu sein, denn er ist nicht einfach Plüsch- oder Kuscheltier, sondern hat genau wie wir Menschen, individuelle Wohlfühlräume.
© Anna Auerbach
Faraón möchte beim Ruhen nicht bedrängt werden. Über Blicke hält er die anderen auf Distanz.
Aber was bedeutet Authentizität eigentlich?
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Das "Ich" in sozialen Beziehungen präsentieren.
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Dabei ist das eigene Verhalten selbst- und nicht fremdbestimmt.
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Nach seiner Überzeugung (Gefühle, Emotionen, Werte, Vorlieben, Bedürfnisse etc.) zu kommunizieren und danach zu handeln.
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Authentisch zu sein schließt nicht aus, sich in verschiedenen sozialen Rollen (je nach Interaktionspartner/Umfeld) unterschiedlich zu verhalten.
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Reflexion fördert die Selbsterkenntnis und damit die Authentizität.
TIPP
Bewusstsein schaffen durch regelmäßige Reflexion, dabei einen Blick auf sich selbst und seinen Hund werfen und die Ereignisse wiederholt in Erinnerung rufen. Ihr Umfeld können Sie nicht ändern, aber an sich selbst können Sie arbeiten. Dafür regelmäßig die gemachten Erfahrungen auswerten, in den kommenden Tag die neuen Erkenntnisse einfließen lassen und üben. Führen Sie eine Checkliste - Sie werden sehen, dass Sie mehr Fortschritte als Rückschritte machen und das ist motivierend.
HUNDE SIND KEINE KUSCHELTIERE
Können Hunde sich selbst wahrnehmen? Nach bisheriger Forschungslage erkennen Hunde sich nicht selbst im Spiegel (den Hundehalter übrigens schon), können aber die Bedeutung ihres Körpers in Relation zur Umgebung und damit verbunden auch zu anderen Objekten und Individuen zuordnen. Sie können zum Beispiel wahrnehmen: "Ich bin (im Weg)" oder auch "Das brauche ich (an Platz) für mich". Ein gutes Körperbewusstsein ist ein entscheidender Baustein der Selbstpräsentation beziehungsweise der sozialen Positionierung (siehe Positionierung).
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"Wer bist Du?" - Luca begutachtet sich im Spiegel.
Hunde müssen sich erfahren, sich selbst wahrnehmen und dabei auch im gesunden Maß selbstbestimmend bleiben dürfen. Nicht jeder Hund möchte sich zum Beispiel gern streicheln oder gar knuddeln lassen. Wir selbst können unseren Wohlfühlraum definieren. Aber auch unsere Hunde haben eine eigene Vorstellung davon, wie viel Nähe sie jeweils zulassen möchten. Sie kommunizieren mit uns und senden Signale aus, wie Kopfwegdrehen, Schlecken, Aus-der-Situation-Gehen, Meiden, Drohen (und vieles mehr), die wahrgenommen und respektiert werden sollten. Übergeht man sie, werden Hunde deutlicher. Sie erweitern entweder ihr Repertoire an Wehrhaftigkeit oder aber ihr Meideverhalten.
Nähern sich im Haus und unterwegs unachtsam fremde Menschen oder Hunde, ist es die Aufgabe des Hundehalters, seinen Hund zu schützen und den Individualraum zu kommunizieren. Beachten Sie, dass Ihre Freunde nicht die Freunde Ihres Hundes sind, sondern zunächst Fremde beziehungsweise Eindringlinge. Individuelle Raumgrenzen müssen respektiert und die Signale des Hundes ernst genommen werden. Hunde agieren nach ihren Regeln, wenn die Entscheidung über die Situation ihnen überlassen wird und der Mensch es versäumt, seine Werte zu vermitteln.
Grundsätzlich gilt: Der Hundehalter sollte dafür Sorge tragen, dass die persönlichen Grenzen geachtet und Abstände eingehalten werden - schreitet der Hundehalter nicht ein, übernimmt der Hund, je nach Veranlagung, diese Aufgabe.
POSITIONIERUNG
Eine Position kennzeichnet zum einen den räumlichen Ort einer Person, zum anderen aber auch den (hierarchischen) Ort beziehungsweise Rang in Bezug auf andere (soziale Position). Somit erfolgt auch in sozialen Gebilden eine "räumliche" Positionierung. Auch sie wird durch territoriale Verhaltensweisen bestimmt, denn es wird sich abgegrenzt oder aber Nähe zugelassen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Signale, die beim Einnehmen verschiedener Distanzen zueinander ausgetauscht werden: die Ausrichtung des Körpers zum anderen, Blicke und Laute, sich voneinander entfernen oder aufeinander zu bewegen, bis hin zu Berührung. Dabei ist es statushöher gestellten Individuen eher gestattet, körperliche Kontakte aufzunehmen als statusniedrigen.
Beispiel aus der Hundewelt Der Altrüde begrenzt den Jungrüden freundlich gesinnt per Nackengriff, jedoch nicht umgekehrt.
Beispiel aus der Menschenwelt Der Lehrer hat im sozialen Miteinander einen höheren Status als der Schüler, weil er mehr Erfahrung hat und sich der Schüler so an ihm orientiert. Wird vom Beziehungsgeflecht "Lehrer und Schüler" eine Zeichnung erstellt, dann ist der Lehrer "räumlich" ganz oben positioniert. Unter den Schülern finden sich wiederum eigene räumlich soziale Positionierungen. Genauso verhält es sich auch mit Hunden.
© Anna Auerbach
Hunde legen sich nicht irgendwohin: Emma blockiert den Laufweg der anderen.
WER BEWEGT WEN IM RAUM?
Raum umgibt uns, wir bewegen, verhalten und positionieren uns darin. Die Position des Individuums im Gesamtkomplex der sozialen Beziehungen gibt Auskunft über dessen Status. Sie lässt sich am räumlichen Verhalten der einzelnen Interaktionspartner erkennen. Hunde denken in Räumen und nutzen territoriale Verhaltensweisen, um sich räumlich und damit auch sozial hoch zu positionieren. So überprüfen sie im Zusammenleben unsere Führungsqualitäten, und ob sie sich an uns orientieren können. Wer Einfluss auf die räumliche Position des anderen nehmen kann, der steigt im sozialen Rang und je höher der soziale Rang, desto höher ist auch das soziale Gewicht des Betreffenden.
Die zentrale Frage lautet also: "Wer bewegt wen im Raum?" Denn wer sich als richtungsweisend beweist, ist tonangebend im sozialen Miteinander.
BEISPIEL
Ich nehme Raum ein. Ich schiebe mein Gegenüber von mir weg, nehme ihm den Platz.
Ich halte und fülle Raum. Ich besetze einen von mir definierten Bereich, mein Gegenüber hat hier keinen Platz.
Ich mache Raum frei. Ich mache meinem Gegenüber Platz.
Ein Beispiel aus dem Alltag Sie sind bei der Futterzubereitung und Ihr Hund soll solange an der Tür warten. Der Hund hält sich nicht an Ihre Vorgabe und betritt unaufgefordert die Küche. Sie gehen also auf ihn zu, nehmen ihm Raum und schieben ihn so zurück zur Tür. Nun haben Sie das Futter fertig angerichtet und bitten den Hund herein, das heißt, Sie verkleinern den von Ihnen besetzten Bereich. Das Futter stellen Sie neben sich und dem Hund ab. Dieser hält angemessen respektvoll Abstand. Sie bleiben noch einen Augenblick stehen, treten dann zurück, nehmen also Ihre Präsenz aus der Situation und machen so den Raum und damit auch den Napf frei. Der Hund darf jetzt an sein Futter gehen.
Wenn Sie Ihren Alltag über Raumvorgaben strukturieren, geben Sie die Richtung an und Ihr Hund folgt im Idealfall. Konflikte sind dabei unvermeidbar und wichtig, denn sie ermöglichen es Ihnen, Ihre Vorstellungen zunehmend kompetent durchsetzen. Natürlich unter Berücksichtigung der Belange des Hundes. Es sollte immer geprüft werden, ob Ihr Hund gerade keine Lust hat, Ihre Vorgaben zu akzeptieren, oder ob man zu viel von ihm erwartet und er zum Beispiel aufgrund von Überforderung oder auch Ihrer Überpräsenz, der Bitte nicht Folge leisten kann (siehe...