Schweitzer Fachinformationen
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Wir stürzen ab.
Ich liebe Dich.
Tu, was du willst.
Papa.
(SMS aus einem Flugzeug über Zentralafrika im April 2005)
15. Dezember 2005
Es ist nicht meine Art, Tagebuch zu schreiben, aber alle sagen, ich soll es tun, und jetzt kann ich schon wieder nicht schlafen, ich liege da und spüre, dass ich jetzt wütend genug für so was bin oder fertig genug, oder was es auch sein mag, jetzt werde ich also schreiben, und der Psychotyp mit dem Bart da unten in der Stadt, in der Klinik, der jetzt seit bald einem halben Jahr herumnölt, dass ich mich öffnen soll, meine eigene Trauer spüren soll und all das, der kann sich freuen.
Diese ganzen Leute, die nur mein Bestes wollen, die habe ich scheißsatt. Und auch, dass alle es so furchtbar schlimm finden. Maßlos schlimm. Niemand kann mich ansehen ohne gleich diesen »Ach die Ärmste«-Blick. Ich hasse das immer mehr. Ich finde es ja auch ziemlich schlimm, aber das ist doch meine Sache. Ich werde noch verrückt davon, unablässig die Ärmste zu sein. Als ob sonst niemand etwas Trauriges oder Schwieriges erleben würde. Als ob ich die Einzige auf der Welt wäre, die ihre Familie verloren hat.
Fräulein Meier ist immer eine böse Hexe gewesen, aber seitdem ich allein bin, säuselt sie nur noch herum, alles ist ganz wunderbar, auch wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, fast wäre es mir lieber, wenn sie immer noch eine Hexe wäre, aber das kann ich ja irgendwie nicht sagen, und Constance, die Ärmste, weiß gar nicht, wie sie mit mir umgehen soll. Heute war ich irgendwann so weit, ihr zu sagen, sie soll sich ihre Scheiß-Pferde in den Arsch stecken. Wir saßen in der U-Bahn auf der Heimfahrt vom KG, dem Kristelig Gymnasium, und als wir in die Station Besserud kamen, nahm sie meine Hände und flehte mich schier an, ich solle nach Sørkedalen zum Reiten mitkommen. Seit Monaten quält sie mich damit, dass ich zum Reiten mitkommen soll, wenn man Constance glaubt, ist das Reiten das reinste Allheilmittel, ich brauche mich nur auf ein Pferd zu setzen, schon spielt es irgendwie überhaupt keine Rolle mehr, wie viele Familienmitglieder ich verloren habe oder auf welche Weise, denn das Pferd mit seiner Wärme und Kraft und so weiter kuriert mich augenblicklich und bringt mich ins Leben zurück, aber dann habe ich Constance gefragt, ob Pferde manchmal mit Mann und Maus durchs Eis brechen und untergehen, und Constance antwortete, dass das nie vorkommt, und da sagte ich, ich habe keinen Nerv dafür, und sie sah mich an aus ihren Rehaugen, als ob ich ihr ganz fürchterlich leidtun würde, und ich sah sie an aus meinen Rehaugen und fand, dass sie mir noch viel mehr leidtat, und da saßen wir nun mit unseren Rehaugen und taten einander ganz fürchterlich leid, bis sie begriff, dass ich mich über sie lustig machte, und da stieg sie aus der U-Bahn aus, und ich rief ihr nach, dass sie sich ihre Pferde an eine ganz bestimmte Stelle stecken könne, und gestern brachte ich es nicht über mich, zur Schule zu gehen, jetzt denkt sie sicher, mit unserer Freundschaft ist es vorbei oder so, und ich spüre, dass mir das egal ist, ich kann sogar begreifen, dass das eine ziemlich traurige Sache ist, also dass mir das egal ist.
17. Dezember
Jetzt schreibe ich ja schon wieder. Ich weiß nicht, warum, aber das ist auch egal. Das Warum interessiert mich auf einmal nicht mehr, merke ich. Ich stelle nur fest, dass Dinge passieren. Flugzeuge fallen vom Himmel. Mir auch egal, warum. Aber merkwürdigerweise tut das Schreiben gut, obwohl ich dem Psychotypen mit dem Bart, Geir heißt er, nur ungern recht gebe. Er findet sich so wahnsinnig toll und überlegen und meint, er weiß einfach alles über Menschen, denen es schlecht geht, und darüber, wie man ihnen helfen kann, in ein annähernd normales Leben zurückzufinden, wie er es nennt, und vor ein paar Wochen hab ich ihn gefragt, ob er mal seine Familie durch ein Flugzeugunglück verloren hat, aber das hat er nicht, also fragte ich ihn, wie er da so todsicher wissen kann, wie es mir geht, und er sagte, er hat eben so eine lange Erfahrung und außerdem Unis und Institute in Norwegen und im Ausland besucht und mit Dutzenden Menschen in meiner Situation gesprochen, und ich sagte, er soll sich zum Teufel scheren, und er lächelte großzügig und warm in seinen Bart hinein und schaffte es, trotz allem immer noch irgendwie sympathisch zu wirken, und das ist fast das Schlimmste. Er sagt es zwar nie, aber mir ist jedes Mal klar, dass er hier derjenige ist, der recht hat, und das Einzige, was Probleme schafft, ist meine Einstellung, aber wo sind wir denn bitte, wer, der vor ein paar Monaten seine Familie durch einen Flugzeugabsturz in Afrika verloren hat, wird dazu eine offene und herzliche Einstellung haben, und bald ist auch noch Weihnachten. Mein erstes Weihnachten allein in diesem wahnsinnig großen und leeren Haus. Ich hab sicher fünfzehn Einladungen bekommen, um bei Tanten und Onkeln und Freunden von Mama und Papa oder bei den Eltern meiner Freunde das Fest zu feiern, aber ich lüge sie alle an von wegen, ich hätte schon bei Constance und ihren Eltern zugesagt. Und denen sage ich, ich bin bei Trond und Bitten. Ja, das ist schön, sagen sie. Das Wichtigste ist, dass ich nicht allein dasitze. Die Leute sind so voller Bullshit. Tausende sitzen zu Weihnachten allein zu Hause. Und was soll ich überhaupt mit Weihnachten? Ich hab sowieso nicht vor, noch besonders lange zu leben. Also, etwas Bestimmtes beschlossen habe ich noch nicht. Abwarten.
20. Dezember
Als ich vorhin gerade am Panoramafenster saß, ist mir ein Gespräch zwischen Tom und Papa eingefallen, das ich mal mitgehört hab, als ich auf dem Sofa lag und sie dachten, ich schlafe. Das war, als Tom mit Keramik-Renate zusammen war und in einer Band spielte und Schriftsteller und Künstler und alles Mögliche werden wollte. Er wollte sogar auf dem KG aufhören. Papa nahm ihn sich zur Brust, und ich lag da und grinste in mich hinein. Ich war voll und ganz auf Papas Seite. Typisch für mich. Papa war ganz ruhig und sagte, Menschen wie wir tun etwas Wichtigeres, als zu musizieren und herumzuspielen und einen auf kreativ zu machen. Die meisten, die sich kreativ nennen, sagte er, sind nicht die Spur kreativ. Sie maßen sich das nur an, um so dazustehen wie diejenigen, die wirklich kreativ sind, und dann brauen sie irgendeinen Piss zusammen, für den sich kein Mensch interessiert. Einen auf interessant und schöpferisch machen, das ist das Einfachste von der Welt, hat Papa gesagt. Wer wirklich innovativ ist, der ist es einfach, und Punkt. Der macht da keine große Nummer draus. Und dann sagte er, falls Tom auf dem KG aufhören würde, dann würde er ihm den Geldhahn abdrehen, und Tom müsste von A bis Z für sich selbst sorgen. Falls er aber erst das Gymnasium und dann das Jurastudium absolvieren würde und danach schreiben oder töpfern oder weiß der Teufel was für ein Zeug machen will, dann wäre das seine Sache, und Papa würde sich nicht weiter einmischen. Ich erinnere mich gut, wie blass Tom während dieses Gesprächs wurde. Papa deutete hinunter auf die Stadt und sagte, Tom solle diejenigen, die da unten wohnen, schreiben und Blödsinn machen und all so was, vergessen. Wir, die wir hier oben am Hang wohnen, wir sorgen dafür, dass die Räder sich drehen, wir schöpfen Werte, und außerdem finde ich, diese Renate, die ist nichts für länger, die ist zu ungezähmt, zu unverbindlich für dich, drücke ich mich klar genug aus, verstehst du, was ich sage? Tom verstand.
Drei Monate nach seinem letzten Juraexamen fiel das Flugzeug vom Himmel.
Und jetzt bin ich es, die schreibt, Papa. Obwohl du gesagt hast, dass solche wie wir nicht schreiben. Du hast dich geirrt. Dass ich schreibe, beweist, dass du dich geirrt hast. Und es ist deine Schuld, dass ich schreibe. Deine verfickte Schuld.
21. Dezember
Constance denkt natürlich, dass die Sonne heute wendet. Ich hab versucht, ihr klarzumachen, dass die Sonne überhaupt nicht wendet, sondern ab heute um 19 Uhr 35 täglich ein wenig höher steigt. Die Sonne merkt davon nichts, hab ich ihr erklärt. Wir schon. Am Neujahrsabend wird der Tag hier in Oslo schon sechs Minuten länger sein. Aber die Sonne spürt davon nichts, und gewendet hat sie in ihrem Leben noch nie. Constance wird ungern korrigiert, sie wurde wütend und sprang auf, um in Sørkedalen reiten zu gehen, und ich ging nicht zu der Sonnwendfeier, die sie heute Abend veranstaltet hat. Erst muss es einen kalten Tag in der Hölle geben, bevor ich mir vorstellen mag, zu feiern, dass die Tage länger werden. Meine Wunschvorstellung sind eher kürzestmögliche Tage. Kaum aufgestanden, könnte ich schon wieder ins Bett. Das wäre ideal. Constance hat Probleme. Sie weiß über nichts etwas. Sie hat keine Ahnung, ob die Uhr vor- oder zurückgestellt werden muss, wenn die Sommerzeit anfängt. Sie dreht noch durch, wenn ihr eines schönen Tages klar wird, dass sie nicht ihr Leben lang als Pferdemädchen wird bestehen können.
Versuchte Krzysztof zu überreden, dass er Weihnachten nicht nach Hause fährt. Ich hab gesagt, mir ist es unheimlich allein im Haus. Aber er wollte nach Hause. Ich hab ihn gut bezahlt, damit er auch zurückkommt. Das hätte Papa auch so getan. Krzysztof leistet unglaublich gute Arbeit. Der zweite Pool ist fast fertig. Ich habe ihn dazu gebracht, dass er ihn in Papas Geist zu Ende baut. Kleine, dunkelblaue achteckige Kacheln, dieselben wie im Schwimmbecken in dem Hotel, wo wir letztes Jahr zu Ostern in Berlin gewohnt haben. Mama wären sie wahrscheinlich nicht recht gewesen....
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