Schweitzer Fachinformationen
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1988
Der Säugling im Nebenzimmer schrie sich die Seele aus dem Leib.
Marlies Prechtel war schon zweimal drüben bei dem Kind gewesen, um es zu beruhigen, jedoch vergeblich. Nicht einmal auf den Arm nehmen ließ es sich. Das kleine Gesicht wurde krebsrot, und der Körper des Kindes versteifte sich, sowie sie es aus seiner Wiege nahm. Der Vater musste sich um es kümmern, doch er stand unter Schock.
»Gerhard?« Sanft legte Marlies dem großen, starken Mann die Hand auf den Unterarm.
Gerhard Merten saß mit gesenkten Schultern vor dem großen Esstisch, den er selbst geschreinert hatte. Von der Zimmerdecke hing die einzige Lampe im Raum, mit dem rot-weiß karierten runden Schirm, und verbreitete behagliches Licht, das in völligem Kontrast zu der Erschütterung des Abends stand.
»Soll ich nicht doch einen Arzt rufen?«, fragte Marlies behutsam.
Gerhard schüttelte den Kopf.
»Du kannst nix dafür«, sprach Marlies weiter und zog ihre Hand wieder zurück. »Die Ursel war krank, anders kann ich mir das nicht erklären.«
Gerhard beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und stöhnte unterdrückt auf, als litte er Höllenqualen. So mochte es auch sein.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Gerhard, dann sag es mir«, forderte Marlies ihn auf. Sie sah unauffällig auf die große Uhr, die über dem Kühlschrank hing. Jetzt war sie schon zwei Stunden bei dem Nachbarn, dessen Leben in den Grundfesten erschüttert worden war. Drüben, zwei Häuser weiter, wartete Lutz, ihr Mann. Er passte auf die zehnjährigen Zwillinge Martina und Karin auf. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause ging.
»Kannst nix machen. Danke, Marlies«, stieß Gerhard mit rauer Stimme hervor. Das Brüllen des Babys ging in kraftloses Wimmern über. Im besten Fall schlief das Kind eine Weile.
Aus geröteten Augen sah Gerhard sie an.
»Wie hat sie mir das antun können?«, fragte er sie, mit solcher Verzweiflung in der Stimme, dass Marlies an sich halten musste, um ihn nicht zu umarmen. Doch sie waren ja nur Nachbarn, nicht einmal wirklich befreundet, und womöglich hätte er sie als zudringlich empfunden.
»Vielleicht hat sie .« Marlies ließ den Satz offen, machte aber eine Handbewegung auf Mundhöhe, als würde sie ein Glas austrinken. Sie schämte sich, noch während sie sprach. Man sollte doch den Toten nichts Schlechtes nachsagen.
»Die Ursel hat fast nie Alkohol getrunken«, wehrte Gerhard ab. Marlies ließ ihre Hand sinken.
»Dann hat sie vielleicht jemand runtergestoßen«, murmelte sie und erschauerte.
»Glaub ich nicht.« Gerhard rang um Fassung. »Die Ursel war mit allen gut. Wer hätt' das tun sollen?«
»Die von der Polizei werden das schon rausfinden«, versuchte sie, den verzweifelten Witwer zu trösten.
Gerhard nickte schwer. Das Baby fing wieder an zu weinen.
»Geh heim, Marlies. Ich dank dir, dass du da warst. Ich muss .« Er zeigte mit dem Daumen zu der Tür nach nebenan.
Marlies stand auf, froh, dass sie aus der unglückseligen Atmosphäre fliehen konnte. Es war ein nicht zu begreifendes Drama. Der arme Mann, und auch wegen der Kleinen tat es ihr furchtbar leid.
»Du weißt, dass du dich jederzeit melden kannst, wenn du Hilfe brauchst«, versicherte sie noch einmal.
»Ja, danke«, erwiderte Gerhard, stemmte sich in die Höhe und ging an ihr vorbei, zum Nebenraum. Ehe er die Tür öffnete, wandte er sich ihr zu.
»Tschüs, Marlies.«
»Tschüs.«
Sie verließ die Küche, ging den schmalen Hausflur entlang und trat nach draußen in die kühle dunkle Nacht, die nach dem nahenden Herbst roch. Die Feuchtigkeit des Regens, der am späten Nachmittag eingesetzt und am frühen Abend wieder aufgehört hatte, schimmerte im Licht der Straßenlaternen auf dem Gehweg. Am Himmel funkelten ein paar Sterne.
Das zornige Schreien des Babys war bis nach draußen zu hören. Marlies zog ihre Jacke über der Brust zusammen und eilte nach drüben, zu ihrem Mann und ihren Kindern. Dort warteten Wärme, Geborgenheit und Sicherheit.
Gerhards Leben war zerstört. Von solch einem Schlag, wie er ihn heute erlitten hatte, vermochte sich kein Mensch je mehr zu erholen.
***
Gerhard Merten lehnte am Sims des Bürofensters seiner Schreinerei.
Der kleine Raum war randvoll mit Papieren und Akten, größtenteils in einem deckenhohen Regal gelagert. Zwischen dem Regal und dem Fenster fristete eine kümmerliche Yucca-Palme ihr Dasein. Ihre Blätter sahen kraftlos und staubig aus, die Erde war vertrocknet und löste sich vom Rand des Pflanztopfes.
Gerhard beobachtete seine Sekretärin, Betty Steinlein, die konzentriert eine Rechnung erstellte, ohne sich von seiner Anwesenheit stören zu lassen. Wenn es sie nervös machte, dass er nur ein paar Schritte von ihr entfernt stand und schwieg, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
Eine Schönheit war sie nicht, die Betty. Ein bisschen zu stämmig für seinen Geschmack. Und Kurzhaarschnitte, so fand er, standen einer Frau auch nicht gut zu Gesicht. Aber fleißig, gepflegt und sympathisch war sie. Und alleinstehend, zumindest soweit er wusste, dafür mit einem unehelichen Kind, das nur wenig älter war als seines.
Gerhard nahm aus seiner Hemdtasche die Packung Zigaretten, in der auch ein Feuerzeug steckte. Er entzündete einen der Glimmstängel, nahm einen tiefen Zug und fasste hinter sich. Irgendwo auf dem Sims stand der Aschenbecher aus blauem Kunststoff mit dem sinnigen Aufdruck »Nur für Raucher«. Ursula hatte ihm das Teil zu Beginn ihres Kennenlernens von einem Flohmarkt mitgebracht. Ursula, die nun schon fast ein Jahr unter der Erde lag.
»Betty?« Gerhard räusperte sich. Seine Sekretärin sah auf.
»Ja, Herr Merten?« Aufmerksam blickte sie ihn an.
»Lassen Sie mal für den Moment die Arbeit liegen.« Er schnippte die Asche in den Aschenbecher und bemerkte dabei ein leichtes Zittern seiner Hand.
Betty legte wunschgemäß die Hände in den Schoß.
»Ich fall jetzt mal gleich mit der Tür ins Haus«, begann Gerhard. »Wie lange arbeiten Sie jetzt für mich?«
»Ein halbes Jahr«, antwortete sie höflich, wirkte aber ein wenig ratlos.
»In der Zeit haben wir uns ja ein bisschen kennengelernt, und ich meine, wir verstehen uns ganz gut«, fuhr er fort, blickte auf seine Zigarette, wandte Betty den Rücken zu und drückte sie im Aschenbecher aus, obwohl er noch nicht einmal die Hälfte geraucht hatte. Stattdessen öffnete er das Fenster und wedelte mit der Hand, als wollte er den Qualm aus dem Zimmer haben.
»Schon«, stimmte seine Sekretärin ihm zu.
»Würden Sie mich heiraten, Betty?«, fragte er, entschlossen, den zentralen Punkt des Gesprächs sofort hinter sich zu bringen.
»Was?« Entgeistert sah die junge Frau ihn an.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, bat er, ging zu ihr und setzte sich auf den Rand ihres Schreibtisches. »Reden wir einfach offen miteinander. Wir stecken beide in einer Notlage, aus der wir uns gegenseitig heraushelfen könnten.«
Betty gab keine Antwort.
»Wir haben beide ein kleines Kind, das wir versorgen müssen und natürlich auch wollen. Aber wir haben keinen Partner, der uns dabei unterstützt. Meine Frau hat sich vom Siegesturm gestürzt und mich und unser Kind unserem Schicksal überlassen. Sie hatten, wenn ich das so sagen darf, wohl große Hoffnungen daraufgesetzt, dass Ihr Freund für Sie seine Frau verlässt, stattdessen hat er Sie verlassen. Nun stehen wir beide da und müssen irgendwie den Kopf über Wasser halten, nicht wahr?«
Röte war in die Wangen der jungen Frau gestiegen.
»Der Alltag ist ein einziger Kampf, wenn wir ehrlich sind, oder? Ihr Baby ist im Hort, der wohl einen Großteil Ihres Gehaltes verschlingt, außerdem fehlt Ihnen die Zeit, dem Kind die notwendige Mutterliebe zu geben. Und ich habe nun schon das dritte Kindermädchen. Das taugt doch alles nichts, oder?«
»Herr Merten, ich weiß nicht, ob .«
Rasch winkte er ab.
»Ich weiß, das klingt jetzt alles furchtbar nüchtern und sachlich. Wie ein Geschäft.« Nun wurde er doch unsicher. Vielleicht war er zu ehrlich. Frauen wollten umworben werden, aber er wollte Betty auch nichts vormachen.
»Betty, wenn du Ja sagst, ihr sollt es gut bei mir haben.« Er beschloss, zu einer vertraulichen Anrede zu wechseln. »Ich meine es wirklich so. Die Schreinerei läuft gut, das weißt du ja. Du bekommst ja alles mit.«
Sie nickte, und er spürte einen Funken Hoffnung, sie könnte über seinen Vorschlag zumindest nachdenken.
»Du müsstest nicht mehr arbeiten. Ich habe ein großes Haus, da ist Platz für uns alle. Du kümmerst dich um die Kinder und den Haushalt, und ich sorge für euch«, sprach er weiter. »Ich komm dir auch nicht zu nahe, wenn du das nicht willst. Du kannst ein eigenes Schlafzimmer haben.«
»Aber, Herr Merten, das ist doch...
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