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"Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren" lautet das oberste Prinzip der Menschenrechte als Konsequenz aus den Verbrechen an der Menschlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit ist der Auftrag verknüpft, in der Gegenwart und für die Zukunft eine menschenwürdige Welt zu gestalten.
Die vorliegende Studie dokumentiert Gewalt an Heranwachsenden, die in Kärnten von der Jugendwohlfahrt betreut und/oder im Gesundheitswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt wurden. Aufgezeigt werden fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen, die oft als unvorstellbar gelten und von denen heute viele Menschen wünschen, sie wären nie geschehen. Im Zentrum der Studie stehen zwei Institutionen, die ihrem gesellschaftlichen Auftrag zufolge - so müsste man annehmen - das Kindeswohl schützen sollten. Jahrzehntelang wurden sie jedoch für Hunderte Kinder und Jugendliche zu Orten unermesslicher Gewalt: das Landesjugendheim Rosental in Görtschach (Ferlach) und die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (vgl. Kap. 2). Ausgehend von diesen beiden Institutionen wird die Dimension dieses gewaltvollen Teils der österreichischen Geschichte sichtbar gemacht.
Die Akten der beiden Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten (2013- 2015, ab 2020) und die vorliegende Studie zeigen in aller Deutlichkeit ein Systemversagen von (Sozial- und Gesundheits-)Politik, Sozialverwaltung und jenen Institutionen auf, deren Aufgabe die Betreuung, Heilung, Bildung und/oder Unterstützung von Kindern und Jugendlichen war. Mit dem bewegenden Landesakt "Geste der Verantwortung" übernahmen im Januar 2020 der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser und weitere LandespolitikerInnen nachträglich die politische Verantwortung für dieses Systemversagen gegenüber den ehemals von Gewalt betroffenen Menschen. Das Anerkennen der Gewalt als Menschenrechtsverletzung in dieser und anderen Veranstaltungen (u.a. in der Landesregierung, im Klinikum Klagenfurt und in der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) ist grundlegend, um gesellschaftliche (politische und fachliche) Veränderungen im Sinne der Kinderrechte und des Kindeswohls zu realisieren. Verantwortungsübernahme und menschenrechtsorientierte Handlungen ermöglichen, dass anstelle des täterloyalen (Ver-)Schweigens und des einvernehmlichen 'Nicht-Erinnerns' die Stimmen hinter dem Schweigen hörbar werden: die Stimmen der damaligen Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien. Dies ermöglicht eine Mehrperspektivität innerhalb des kollektiven Gedächtnisses in Kärnten und darüber hinaus auf nationaler Ebene, die mit Prozessen der Demokratisierung einhergeht.
Mittels Wertschätzung und Transparenz intendiert die vorliegende Publikation, demokratische Entwicklungen dort zu stärken, wo Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahrhundert durch das Wirken von Jugendwohlfahrt sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Exklusion und Gewalt erlitten. Sichtbar wird dabei ein heilpädagogisches Gewaltregime in Kärnten und weiteren Teilen Österreichs, das auf Basis pseudowissenschaftlicher Theorien durch Medizin (Psychiatrie), Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik sowie Hochschulen, Politik und Justiz abgesichert wurde. Eine Orientierung an Menschen- und Kinderrechten setzt voraus, sich von der im vergangenen Jahrhundert in Österreich etablierten medizinisch-psychologischen Heilpädagogik zu verabschieden. Denn diese begründete ideologisch jenen Machtmissbrauch von Psychiatrie und Wissenschaft (vgl. Kap. 3 und 4), der den gesellschaftlichen Rahmen für die sprachlos machende Gewalt bildete, die diese Studie aufzeigt.
Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurde seitens der Heilpädagogik durch missbräuchlichen Bezug auf 'Kindeswohlinteressen', durch Verweise auf vermeintlich innovative Fachpraxen und Wissenschaftlichkeit sowie das Sammeln von gesellschaftlichen Ehrungen vertuscht. Hierin liegt u.a. die Verantwortung von Wissenschaft und Bildungssystem am Aufrechterhalten des Gewaltsystems. Seitens der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt wurde diese Verantwortung von Rektor Oliver Vitouch und der Senatsvorsitzenden Larissa Krainer durch Initiativen zur Neuinterpretation des damaligen Handelns der Universität übernommen. Auf der Ebene der Kinder- und Jugendpsychiatrie als disziplinärer Nachfolgerin der medizinisch-psychologischen Heilpädagogik erinnert ihr Ehrenpräsident Ernst Berger kontinuierlich an die gewaltvollen Wurzeln der Disziplin und an die Notwendigkeit, sich mit diesen fachlich als Disziplin auseinanderzusetzen. Diese gesellschaftlich notwendigen Anstrengungen wirken in das kollektive Gedächtnis im Sinne des Kindeswohls und der Menschenrechte hinein; es werden weitere gesellschaftliche Auseinandersetzungen notwendig sein. In einer Demokratie gibt es hierzu - angesichts dieses historischen Machtmissbrauchs der Heilpädagogik als wissenschaftlicher Teildisziplin und als Handlungsorientierung des damaligen Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens - keine Alternative zur verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Institutionelle Gewalt, wie die Gewalt in öffentlichen Institutionen der Fürsorge, Heilung, Bildung und Betreuung, verliert ihre zerstörerische Wirkung erst, wenn die Gewalthandlungen beendet werden und über die erlittene Gewalt und ihre Auswirkungen öffentlich so gesprochen werden kann, dass sie als Menschenrechtsverletzung anerkannt und darüber mit individueller, struktureller und politischer Unterstützung realisierbare gesellschaftlichen Veränderungen verbunden werden. Auf diesen Zusammenhang und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung weist u.a. der Bericht der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" (UKASK 2020:6) hin. Dabei wird die gesamtgesellschaftliche Bearbeitung als Ergänzung zu individueller Bearbeitung von Traumata z.B. in Therapien oder sozialpädagogischen Begleitungen sowie zur juristischen Aufklärung von Straftaten verstanden.
"Gesellschaftliche Aufarbeitung basiert auf der Annahme, dass erlebte, verschwiegene und vertuschte Gewalt die Gegenwart beeinträchtigt und Unrecht gegenüber betroffenen Menschen ist. [...] Aufarbeitung soll aufdecken, in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Institution stattgefunden hat, welche Strukturen unter Umständen mit dazu beigetragen haben, dass Täter und Täterinnen Kindern und Jugendlichen Gewalt angetan haben, wer davon gewusst hat, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja, warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zielt Aufarbeitung auf Anerkennung des Leids und auf die Rechte und Unterstützung erwachsener Betroffener. Sie will einen Beitrag dazu leisten, Kinder und Jugendliche besser zu schützen und ihre Rechte zu etablieren [...]. Durch öffentliche Berichterstattung und Empfehlungen kommt Aufarbeitung zu einem Ergebnis, an das für Prävention angeknüpft werden kann" (UKASK 2020:8).
Diese kinderrechtsorientierte Haltung ist auch das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie. Wir laden Sie ein, sich aus einer menschenrechtsorientierten Perspektive, die Hoffnung verantwortungsvoll mit realisierbaren gesellschaftlichen Veränderungen verbindet (vgl. Scherling 2019), mit diesem Teil der Kärntner (und der weiteren österreichischen!) Geschichte zu beschäftigen.
Die Daten der an der Kinder- und Jugendanwaltschaft angesiedelten ersten Opferschutzkommission des Landes Kärnten (2013-2015) zeigen, dass Kinder und Jugendliche über mehrere Jahrzehnte Gewalt in Institutionen erlitten. Die meisten Menschen, die sich an die Opferschutzstelle wandten, erinnerten sich an Gewalt, die vom Heilpädagogen Franz Wurst und weiteren Fachkräften ausging. Als Orte wurden vor allem die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt, das Landesjugendheim Rosental sowie ambulante Settings, wie z.B. die Privatpraxis von Primar Franz Wurst und ambulante heilpädagogische Beratungen im Kontext der Jugendwohlfahrt genannt (vgl. Liebhauser/Laurer 2015; Liebhauser 2017).
Das Landesjugendheim Rosental war eine ländlich gelegene Großeinrichtung für Jungen. Der dortigen Fremdunterbringung ging in der Regel eine (stationäre) heilpädagogische Diagnostik und Begutachtung voraus. Basierend auf diesen heilpädagogischen Gutachten verfügte die Jugendwohlfahrt Heimeinweisungen von Kindern und Jugendlichen. In der Fremdunterbringung übernahmen erneut Fachkräfte des Landeskrankenhauses die heilpädagogische Versorgung der Heranwachsenden. Heilpädagogische Diagnostik, medizinisch-psychologische Gutachten und Führungsberichte der Jugendwohlfahrt waren somit entscheidungsweisend für den weiteren Verbleib der Kinder und Jugendlichen im Landeskrankenhaus, im Jugendheim und...
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