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Das Fest war zu Ende. Auf einen Schlag erloschen die Lichter, und die todmüden, erhitzten Gäste taumelten hinaus in die Stille, ins trügerische Samtblau der mexikanischen Nacht. Wie schwanger hing die Luft von den orangeroten Blüten an dem Strauch, der die Siedlung begrenzte. Der Duft war wie alles in diesem von Gott verfluchten Land - zu bittersüß und zu betörend, zu heftig und zu unauslöschlich.
Marthe war entsetzlich übel. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich noch einmal übergeben, nur dass hier draußen niemand auf sie achtete, während sich drinnen, im Saal, aller Augen auf sie gerichtet hatten. Dieser Saal, in dem sie die Hochzeit von Marthes Bruder gefeiert hatten, war in Wahrheit höchstens ein Salon, sosehr ihr Vetter Kurt, der im Begriff stand, das Haus zu erben, versuchte damit Staat zu machen. Vollgestellt und eng war er, so dass man einander nicht ausweichen konnte und ein jeder alles mitbekam.
Ein jeder hatte mitbekommen, dass Marthe aufgesprungen war, um zu brüllen wie eine der Marktschreierinnen, die auf dem Malecon fauliges Gemüse verkauften. Nie zuvor hatte sie sich derart gebärdet, und vermutlich hatte es ihr, die als die kühle der beiden Schwestern galt, auch niemand zugetraut. All das Aufgestaute, den Schmerz und den Zorn, hatte sie aus sich herausgeschrien, und zum Schluss war ihr der schaumige Pulque, den sie seit Stunden in sich hineingeschüttet hatte, aus dem Mund geschwappt. Was danach geschehen war, verschwand im Nebel. Fiete hatte ihr geholfen, sich auf dem Sofa niederzulegen, mehr wusste sie nicht. Nur, dass sie etwas getan hatte, das sich nicht rückgängig machen ließ, dass ihr Leben, so wie es gewesen war, nicht weiterging.
Und dabei war von ihrem Leben ohnehin so wenig übrig, seit sie in dieses Veracruz gekommen waren, in die ewige Hitze, die Luft, die süßlich roch, nach Krankheit und Verwesung, nie nach Salz und nach dem nahen Meer. Ein halbes Jahr war das her, damals war Mai gewesen, und jetzt war Oktober, doch noch immer ließ die Hitze nicht nach. Marthes Atem ging schwer, und ihr Leib, auf dem die Kleider klebten, kam ihr vor, als quölle er vor Wärme auf. Sie versuchte nach oben zu sehen, in das endlose Blau, das nie schwarz wurde und ihr dennoch dunkler erschien als jeder Himmel in Hamburg. Die gefächerten Wedel einer Palme begannen sich hoch über ihr zu drehen, ihr wurde schwindlig, und sie schwankte gegen eine Häuserwand.
Warum war sie so einsam, warum half ihr niemand? Welches Mädchen hätte in Hamburg allein durch die Nacht taumeln dürfen? Nicht Marthe Hartmann, niemals Marthe Hartmann! Ein Mann ihrer Familie hätte sie begleitet, doch eine Familie, die diesen Namen verdiente, besaß sie nicht mehr. Was davon übrig war, lebte am anderen Ende der Welt. Sie waren auf sich gestellt, ihre Schwester Vera, ihr Bruder Christoph und sie, denn dass sie der Sippe ihres Onkels eine Last waren, hatte Marthe auf grausame Weise begreifen müssen, kaum dass der vergiftete Atem des fremden Landes sie im Hafen umfangen hatte.
Wir hatten nur einander, und jetzt haben wir niemanden mehr. Ihr war noch immer übel, doch ihr Kopf war erfüllt von gefährlicher Klarheit. Irgendwie musste sie weiterkommen, um die Ecke und in die finstere Gasse, zu dem schmalbrüstigen Häuschen, in dem sie eine Kammer mit ihrer Schwester teilte. Nicht heute Nacht, durchfuhr es sie. Heute Nacht würde sie mit niemandem die Kammer teilen, und wenn die Schwester im Dunkeln aus dem Bett stieg, wäre keiner da, um ihr zu folgen. Sie leidet doch an Mondsucht! Ich muss ihr doch folgen, um sie zu beschützen.
Marthe stieß sich von der Wand ab und ging weiter. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und das Festkleid hing in Fetzen um die Schenkel - wie eine von der Straße sah sie aus, wie eine der Dirnen aus dem Hafen. Wie konnte sie so ruhig sein? Hatte sie nicht alles verloren? Zuerst ihr Zuhause und dann, in dieser einen Nacht, den Rest. Den Mann, den sie liebte. Ihre Würde. Und Vera.
Vielleicht würde sie nicht einmal in dem Häuschen bleiben dürfen. Im Geist sah sie sich auf einem der menschenleeren Pfade, die aus dem Sumpfloch von Stadt hinaus und dem Ring der uralten Wälder, der Kette der eisblauen Berge und dem weiß drohenden Kegel des Vulkans entgegenführten, die Füße wund, der Nacken der Sonne ausgesetzt. Die Vorstellung schreckte sie nicht. Es war doch alles vorüber. In diesem Augenblick trunkener Klarheit glaubte Marthe tatsächlich, dass ihr nichts mehr etwas anhaben konnte.
Nur ins Haus wollte sie. Schlafen, trotz der Wärme und der fortwährend summenden Insekten, vergessen, was hinter ihr lag. Die Tränen, die sie auf den Wangen spürte, waren Tränen der Erschöpfung. In ihrem Schädel drehten sich Bilder, und an den Schläfen begann ein Pochen. Wieder taumelte sie gegen eine Wand, und diesmal versagten die Beine ihr den Dienst. Sie, Marthe Hartmann, die Starke, Unerschütterliche, sackte zusammen wie ein Bündel Lumpen. Das fremde Land, in dem die Vögel nicht sangen, sondern brüllten, hatte sie in die Knie gezwungen. Sie schlang die Arme um sich und ertastete den Riss an der Schulter ihres Kleides, der von Peters Händen stammte. Bei Gott, der sanfte Peter! Sie lehnte den Kopf an die Mauer, doch der Stein verschaffte ihr keine Kühlung. Nie im Leben hatte sie sich so allein gefühlt.
»Marthe?«
Sie zuckte zusammen. Die Stimme gehörte ihrem Bruder, aber wie konnte das sein? Christoph war nicht hier, er war in einem Gasthaus im Hafen, um mit Inga, dem verhuschten Ding, das er geheiratet hatte, die Hochzeitsnacht zu begehen, ehe sie in zwei von den Lutenburgs gemietete Zimmer zogen. Sie hatten ja nichts. Kein Haus, um die Braut heimzuführen, kein Geld für Hochzeitsnächte. Nicht einmal einen Pfarrer und kein bisschen Segen.
»Marthe«, wiederholte der Bruder. »Du musst ins Bett. Hier auf der Straße kannst du nicht bleiben.«
Sie blickte auf.
»Ich helfe dir«, sagte er, jedoch ohne ihr den Arm zu reichen. Stattdessen starrte er sie an, als würde er in dem Mädchen mit dem verheulten Gesicht und dem zerrauften Haar nicht seine Schwester erkennen, sondern La Llorona, den Geist der weinenden Frau aus den Legenden der Eingeborenen.
Marthe wollte etwas sagen, doch sie brachte nicht mehr hervor als: »Vera.«
Christoph schüttelte den Kopf. In der blauen Nacht war sein Gesicht so bleich wie vorhin, als es vor Entsetzen alle Farbe verloren hatte. »Sie ist im Kontor, wo Kurt sie eingeschlossen hat. Er will, dass sie dort bleibt, bis sie in die Heirat einwilligt.«
»Ich muss zu ihr!«
»Nicht heute Nacht.« Endlich entschloss sich Christoph, Marthe beim Arm zu nehmen und die Gasse entlangzuführen. »Du kannst jetzt nichts ausrichten. Gesagt worden ist ohnehin zu viel.«
Sie gingen weiter. Jeder Schritt erforderte Mühe. »Was machst du überhaupt hier?«, rang Marthe sich ab. »Wo ist Inga?«
»Im Hafen.«
»Wartet sie auf dich?«
Er zuckte traurig mit den Schultern. »Sie hat gesagt, sie weiß, dass meine Schwestern immer an erster Stelle stehen werden. Ich soll gehen, hat sie gesagt, denn in Gedanken bin ich ohnehin bei euch.«
»Es tut mir leid«, murmelte Marthe.
Christoph sagte nichts mehr. Sobald sie das Haus erreichten, schloss er auf und schob Marthe hinein. »Kommst du zurecht?«
Sie nickte, ohne zu wissen, ob er es im Dunkeln sah. Er zögerte, doch als sie sich schwankend zur Treppe begab, trat er vor die Tür der Kammer, die er seit Mai bewohnt und jetzt, mit seiner Hochzeit, aufgegeben hatte. »Christoph«, rief sie, »gehst du nicht wieder zu Inga?«
»Ich denke, ich bleibe besser hier«, gab er ausdruckslos zurück.
Um wen hatte er Angst? Heute Nacht gab es keine Vera zu bewachen, und außerdem hatte das immer Marthe getan. »Du glaubst doch auch, dass ich es ihnen sagen musste, oder? Ich habe es für uns getan, Christoph. Für die Familie.«
Er gab keine Antwort. »Leg dich schlafen.«
Marthe blieb stehen, bis seine Tür zuschlug, dann ging sie nach oben in ihre Kammer, zündete keine Kerze an, sondern zerrte sich das Kleid im Dunkeln vom Leib. In Unterröcken warf sie sich aufs Bett, fand jedoch keinen Schlaf. Im Zimmer war es noch stickiger als draußen, und ein Fenster durfte man nicht öffnen, weil dann die Nacht von Veracruz hereindrang - Insektenschwärme, Gegröle betrunkener Matrosen und warmer, wie vergifteter Wind.
Noch heftiger quälten sie Gedanken. Sie sah Vera vor sich, das kleine Mädchen mit dem schönen Haar, das stumm und seltsam in ihrem Hamburger Haus umhergegangen war, seine Schritte leicht wie Flügelschläge und sein leises Lachen ein Taubengurren. Das Haus hatte sie beschützt, der scheinbar florierende Handel des Vaters, das geordnete Leben, von dem Marthe geglaubt hatte, es würde auf alle Zeit so weitergehen. Dann aber war ihre Welt ins Wanken geraten. Auf einen Schlag hatten sie Halt und Heimat verloren, und der zarten Vera blieben nur mehr ihre Geschwister zum Schutz.
Sie muss denken, wir hätten sie verraten, Christoph und ich. Ich bin auf sie losgegangen, und er stand dabei und schwieg. Vor nicht einmal zwölf Stunden hatte Marthe geglaubt, sie habe auf der Welt keinen Wunsch als den Sohn der Lutenburgs, und jetzt schien er ihr geradezu bedeutungslos. Mit beiden Händen fuhr sie in ihr stumpfes, störrisches Haar. Wie hatte sie überhaupt so verblendet sein können zu glauben, ein Peter Lutenburg werde sich mit ihr als Ersatz begnügen? Sie wünschte sich nichts mehr als einen Weg zu Vera. Aber wie kann es einen geben? Nach allem, was geschehen ist, wie könnten wir einander verzeihen?
Durch die Stille der Nacht schnitt ein Heulen, zu grauenhaft, um menschlich zu sein. Marthe glaubte zu spüren, wie ihr das Blut in den Adern gefror. La Llorona, durchfuhr es sie. Der Geist der weinenden...
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