Schweitzer Fachinformationen
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Köln, 2. März 1945
Morgennebel stieg vom Rheinufer her auf, waberte über die Schutthaufen, während das durchdringende Aufheulen der Alarmsirenen über die Ruinenskelette der Innenstadt hallte.
Keuchend kletterte Mattes Dreesen den Geröllberg hoch, schlitterte auf der anderen Seite hinunter und scheuerte sich dabei das Schienbein wund, während er sich seine Beute an die Brust drückte. Ein Jutesack mit einer Zwiebel, zwei verschrumpelten Kartoffeln und zwei verbeulten Konservendosen mit Fleischwurst. Er hatte Glück gehabt, das stundenlange Durchwühlen ausgebombter Keller hatte sich ausgezahlt. Man durfte sich dabei nur nicht erwischen lassen. Plünderei wurde hart bestraft, manchmal sogar durch Erschießen.
Die auf- und abschwellende Sirene des Fliegeralarms schien die Luft zum Vibrieren zu bringen. Es roch noch immer nach dem Rauch der Feuer vom letzten Angriff vorgestern. Brandbomben hinterließen stets diesen säuerlichen Gestank. Mit seinen dreizehn Jahren konnte sich Mattes kaum mehr daran erinnern, dass es in Köln je nach etwas anderem gerochen hatte.
Er rannte über den kleinen Platz vor der Gereonskirche, in deren Nordwestflanke ein Loch klaffte, als hätte Gott eigenhändig einen Spalt durch die Mauer des Dekagons getrieben. Gottes Zorn oder eine Bombe der Gegner - das Ergebnis war dasselbe.
Nur noch wenige Schritte. Gleich da drüben lag die Norbertstraße mit dem öffentlichen Schutzkeller. Dort wohnten er und Mutter jetzt. Zusammen mit vielen anderen Leuten, deren Häuser und Wohnungen zu Schutt und Staub zerbombt worden waren. Wenigstens waren sie so nicht allzu weit von ihrem einstigen Zuhause an der Friesenstraße entfernt. Da stand noch immer die eine Mauerhälfte mit der Eingangstür zu Vaters Apotheke. Der einzige, vom Feuer verkohlte Überrest.
Mattes strauchelte über einen Geröllbrocken, fiel hin, ließ dabei den Jutesack fallen. Die Konservendosen schepperten, eine Kartoffel kullerte aus dem Sack und rollte davon.
Sogleich rappelte er sich wieder auf. Und dann hörte er es. Jenes dumpfe, immer lauter werdende Dröhnen von Motoren, das einem sogar im Bauch nachhallte.
Er sah auf. Der Morgenhimmel im Westen war dunkel geworden. Verdeckt von unzähligen Bomberfliegern. Die Geschosse der Flak vom Butzweiler Hof trommelten ihnen entgegen.
»Mach schon, Junge! Runter in den Keller«, brüllte ihm der Luftschutzwart Jupp von der anderen Straßenseite her zu.
Die Kartoffel. Er musste die davongerollte Knolle holen, Mutti sollte doch endlich wieder lächeln. Zum ersten Mal, seit Vater in Norwegen gefallen und Hannelore, Mattes' ältere Schwester, bei einem Fliegerangriff im Juni voriges Jahr ums Leben gekommen war.
Die Bomben fielen bereits drüben in Ehrenfeld. Mattes kannte das Geräusch, er hatte es schon so oft gehört: zuerst das lang gezogene Kreischen, dann jenen winzigen Moment der Stille. Das letzte Atemholen, bevor die Wucht der Explosionen alles zerfetzte.
So schnell er konnte, klaubte er die Kartoffel vom Boden, hastete über die Straße, dem alten Jupp mit seiner viel zu eng sitzenden Uniform entgegen.
»Rein mit dir.« Der Schutzwart zog ihn am Arm heran. »Wird gleich mächtig ruppig werden da draußen.«
Ein letzter Blick zurück. Die ersten Fliegergeschwader wummerten über das Neustadt-Viertel. Dunkle Schatten im Morgennebel.
Die Bomben schlugen ein, kaum dass Jupp die dicke Stahltür hinter sich verriegelt hatte. Die Explosionen brachten das Gewölbe zum Erzittern. Kalkmörtel rieselte zu Boden.
Unten im Keller saßen die Leute auf Holzbänken, Sandkisten, Koffern, Kleiderbündeln oder auf den schmalen Schlafpritschen entlang den Wänden. Frauen mit gebeugten Schultern und Rosenkränzen in den Händen. Mütter, die ihre Kinder an sich drückten. Ein paar der Kleinsten wimmerten, die anderen saßen nur still da. Im Schein der Karbidlampen wirkten ihre Gesichter noch bleicher. Elektrisches Licht gab es hier schon seit letztem Oktober keines mehr.
Neben dem Kellereingang standen zwei Fässer mit Löschwasser, drei Spaten und zwei Hacken. Für den Fall, dass ein Feuer ausbrach oder der Zugang durch Geröll verschüttet wurde. In der Wand am anderen Ende des Raums war ein Durchbruch in den angrenzenden Keller - eine kleine, durch zwei Querstäbe verriegelte Klapptür aus Holz. Der Notausgang. Direkt daneben starrten in schwarzen Lettern die Worte »Hinsetzen! Ruhe bewahren! Nicht rauchen!« von der Wand. Auf umgedrehten Obstkisten zwischen den Sitzreihen brannten zwei Kerzen. Damit man es rechtzeitig bemerkte, falls die Luft im Raum schlecht wurde, denn dann fingen sie an zu flackern.
Vorsichtig bahnte sich Mattes den Weg über Taschen, Körbe und Beine zu der Schlafpritsche, die er sich mit seiner Mutter teilte. Zwei Decken lagen ordentlich gefaltet da, der Koffer mit ihren Habseligkeiten und Ausweisen sowie das Bündel, das auf den ersten Blick wie ein paar alte Kleider aussah. Darin waren Vaters gute Schuhe und der Familienschmuck eingewickelt. Doch Mutti war nirgends zu sehen.
»Bei der Agnes Völkl drüben an der Helenenstraße haben die Wehen eingesetzt«, flüsterte eine Pritschennachbarin. »Sie haben deine Mutter gerufen, kurz bevor der Alarm losgegangen ist.« Sie zuckte beinahe entschuldigend die Schultern. »Außer ihr gibt's im ganzen Viertel keine andere Hebamme mehr.«
Sofort fuhr Mattes herum, stürmte zur Treppe in Richtung Ausgang, ohne Jupp zu beachten, der ihm noch nachbrüllte, dass er sich gefälligst hinsetzen sollte. Doch in diesem Moment schlug eine Bombe in direkter Nähe ein.
Die Wucht der Explosion presste Mattes schier die Luft aus der Brust. Der Boden unter seinen Füßen schaukelte, brachte ihn zu Fall. Er prallte mit der Schulter gegen die Wand und blieb dort am Boden kauern. Die Hände über den Kopf legen, sich nach vorn beugen und ganz klein machen, so hatte Mutti immer gesagt.
Frauenschreie und Kinderschluchzen und ohrenbetäubendes Krachen. »Vater unser, der du bist im Himmel.« Ein den Bomben entgegengebrülltes Flehen um Gnade.
Mattes kniff die Augen fest zusammen und duckte den Kopf noch tiefer zwischen die Arme. Deckenverputz prasselte auf seinen Rücken. Mörtelstaub knirschte zwischen seinen Zähnen. Er schmeckte Salz im Mund.
Das nächste tosende Wummern. Der nächste Knall. Die nächste Explosion. Wieder und immer wieder. So lange, bis jedes Zeitgefühl verloren ging. So lange, bis man an nichts anderes mehr denken konnte. So lange, bis jede einzelne Erschütterung im Körper nachhallte, als wäre man ein hilflos durch die Luft wirbelnder Mörtelbrocken.
Und dann herrschte auf einmal Stille. Es konnten Stunden vergangen sein oder vielleicht sogar Tage, Mattes wusste es nicht. Die Leute hatten inzwischen aufgehört zu beten, Vergebung und Gnade gab es ohnehin keine mehr, oder es fehlten ihnen die Worte.
»Ist es vorbei?«, fragte eine dünne, zitternde Mädchenstimme.
Blinzelnd sah er auf. Er erkannte die Leute, die noch immer dort auf den Bänken entlang der Wände hockten. Erschöpfung lag auf ihren Gesichtern, während sie sich einer nach dem anderen bekreuzigten. Staubschwaden kringelten sich im Lichtschein der Laternen.
Mattes hustete und kam wankend auf die Beine. In der Hand hielt er noch immer die Kartoffel. Seine Finger hatten tiefe Dellen in die runzlige Schale gegraben.
»Jemand verletzt?«, rief Jupp in die Runde.
Doch Mattes rannte die Treppe hoch, noch bevor die Entwarnungssirene ertönte.
Mutti.
Er musste alle Kraft aufbringen, um den schweren Hebel zu bewegen und die Stahltür wenigstens so weit zu öffnen, dass er sich hindurchzwängen konnte.
Draußen schlug ihm Hitze entgegen. Kein Feuersturm, dafür gab es in den Ruinen Kölns nicht mehr genügend eng nebeneinanderstehende Häuser, die einen solchen hätten verursachen können. Trotzdem wirbelten Funken sowie Aschefetzen durch die Luft, Rauch- und Staubschwaden verdunkelten den Himmel, machten das Atmen schwer und brannten in den Augen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte bis vor dem Angriff noch eines der wenigen beinahe unversehrten Gebäude des Viertels gestanden. Jetzt war das Dach mitsamt dem oberen Stockwerk weg. Von den Sprengbomben zu Trümmern zerschlagen. Flammen loderten aus den Fensterlöchern im Erdgeschoss und der offenen Tür, über der, an einem einzelnen Haken hängend, ein Schild mit der Aufschrift »Fleischerei Schuber« schaukelte. An der Hausecke klebte ein Plakat mit den Worten »Unerschütterlich. Kampfentschlossen. Siegesgewiss!«. Eine Gruppe Zwangsarbeiter versuchte vergebens, den Brand zu löschen.
Mattes rannte los. Mutti. Sie war in der Helenenstraße. Er versuchte, nicht auf die Krater zu achten, die zwischen den Schuttbergen klafften. Auf den von der Wucht einer Detonation in der Mitte wie ein Streichholz umgeknickten, astlosen Baum. Geschweige denn auf den zur Unkenntlichkeit verbrannten Körper, der dort unter den qualmenden Balken eines eingestürzten Dachstuhls lag.
Ihm stockte der Atem. Vor lauter Rauch und immer größer werdender Angst.
So schnell er konnte, kletterte Mattes über Geröll, rannte und kroch. Hielt nur kurz inne, um nach Luft zu schnappen oder weil Rauch und Staub ihm die Sicht nahmen und er in die falsche Richtung lief. Die Trümmerhaufen sahen alle gleich aus, machten eine Orientierung unmöglich. Brennende Häuserskelette überall. Mit leeren Fensterhöhlen, die aussahen wie klaffende Mäuler....
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