Schweitzer Fachinformationen
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Paris, September 1940. Nach drei Monaten unter Nazi-Besatzung kann Inspecteur Eddie Giral eigentlich nicht mehr viel schocken. Denkt er zumindest, bis er auf ein Mordopfer trifft, das eigentlich im Gefängnis sitzen sollte. Giral weiß das deswegen so genau, weil er ihn erst kürzlich selbst eingebuchtet hat .
Dieser Tote ist weder der erste noch der letzte Kriminelle, der aus dem Gefängnis und auf die Straße gelassen wird. Aber wer zieht die Fäden, und warum? Diese Fragen führen Giral von Jazzclubs zu Opernsälen, von alten Flammen zu neuen Freunden, von den Lichtern von Paris zu den dunkelsten Landstrichen und zu der höchst beunruhigenden Erkenntnis, dass man, um das Richtige zu tun, sich manchmal auf die falsche Seite schlagen muss.
Das Dachfenster war nicht aufgestemmt worden.
Ich hatte Boniface unten gelassen, um die Hausmeisterin zu befragen - sein duftiger Charme schien sie zu beruhigen, sodass ich dachte, er werde wahrscheinlich mehr aus ihr herausbekommen als ich. Inzwischen war ich die Treppe hinaufgestiegen, um das Dach zu kontrollieren. Julot war alte Schule, er hatte unumstößliche Gewohnheiten, eine verräterische persönliche Handschrift. Das war einer der Gründe, warum er im Gefängnis saß. Oder hätte sitzen sollen.
Ich schaute mich oben in sämtlichen Räumen um. Eine seiner Gewohnheiten bestand darin, in die Häuser, die er ausräumen wollte, über die Dächer und ein Fenster im obersten Stockwerk oder - seine Lieblingsvariante - ein Dachfenster einzusteigen.
»Warum hast du dein Vorgehen geändert?«, fragte ich ihn, auch wenn er mich nicht hören konnte. »Und was wolltest du in einem Laden, der geschlossen ist?«
Julot war kein Superhirn, aber auch ihm musste klar gewesen sein, dass ein leerer Club auch einen leeren Safe bedeutete. Es sei denn, er hätte etwas anderes erfahren. Was trotzdem nicht das Abweichen von seinem üblichen Vorgehen erklärte. Mit einem letzten Blick auf das Doppelfenster in der Dachschräge ging ich zurück nach unten, wo Boniface der Hausmeisterin gerade erklärte, sie könne nach Hause gehen.
»Sie haben uns sehr geholfen«, versicherte er ihr in diesem besonderen Tonfall. Aber es funktionierte. Hatte sie vor einer halben Stunde noch geheult, so schwebte sie jetzt davon, als wäre sie dreißig Jahre jünger und hätte den Morgen mit ihrem Liebhaber verbracht.
Als sie gegangen war, stellte ich mich zu Boniface in den Alkoholdunst des schwach beleuchteten Saals. Noch wollte ich nicht ins Büro zurück.
»Mehr oder weniger, was wir schon wussten«, sagte er auf die Aussage der Hausmeisterin bezogen. »Der Club muss von den Deutschen geschlossen worden sein, sodass im Safe ganz sicher kein Geld lag. Sie kommt jeden Montagmorgen, um nach dem Rechten zu sehen, sonst ist hier keiner. Geputzt wird nicht, weil der Besitzer es sich nicht mehr leisten kann.«
»Hat sie gesagt, wer der Besitzer ist?« Ich fragte mich, ob es eine Gestalt aus meiner Vergangenheit sein konnte.
»Jean Poquelin. Er ist weg.« Dann zitierte er aus dem Gedächtnis: »>Mit einer seiner Freundinnen.< Sie weiß nicht, wo er ist, aber er soll morgen zurückkommen.«
»Nehmen Sie ihn genauer unter die Lupe. Wir müssen diesen Monsieur Poquelin sprechen, sobald er wieder hier ist.« Der Name sagte mir nichts. »Hat sie eine Ahnung, ob er das Büro benutzt hat, vor allem den Safe?«
»Soweit sie weiß, nicht. Ich habe sie danach gefragt.«
Wir gingen zurück, um uns das Büro gründlicher anzusehen. Der Schreibtisch war leer bis auf eine Kladde und ein Kassenbuch, die frei von der auf allen anderen Oberflächen liegenden Staubschicht waren. Als ich mit dem Finger über die grüne Tischlampe fuhr, war er grau. Das Büro schien benutzt, aber nicht geputzt zu werden. Was uns nicht weiterhalf.
Genau wie ich vermied es Boniface, die auf dem Chefsessel sitzende Näharbeit zu betrachten. Aus dem Augenwinkel nahm ich sie zwangläufig wahr.
»So etwas macht man nicht mit jemandem, den man beim Ausräumen des Safes erwischt«, sagte ich zu Boniface. »Man schießt auf ihn oder schlägt ihn nieder. Oder ruft uns an. Oder erst das eine und dann das andere.«
»Und wenn er ein erfahrener Einbrecher war, wäre er hier sowieso nicht eingestiegen.«
Ich brummte zustimmend. Vor seinem Ausflug ans Mittelmeer hatte ich nie mit Boniface zusammengearbeitet. Ich hatte ihn immer eher als den Schaum, nicht als den Kaffee eingeschätzt. Deshalb überraschte mich seine Beobachtungsgabe. Ich erzählte ihm von Julots üblichem Vorgehen. »Ich glaube nicht, dass er aus eigenem Willen hergekommen ist. Und ganz sicher war er nicht allein. Julot wäre nur unter Zwang durch die Tür gekommen. So etwas hätte sein Stolz nicht zugelassen.«
»Also hat ihn jemand dazu gebracht, einzubrechen und den Safe zu öffnen. Und dann hat man ihm das hier angetan.«
»Warum? Warum hat man ihn nicht einfach umgebracht und die Leiche verschwinden lassen?«
»Vielleicht sollte es eine Warnung sein.«
»Was mich noch neugieriger darauf macht, was dieser Jean Poquelin zu sagen hat. Alle Anzeichen deuten auf einen Bandenmord hin. Wenn es eine Warnung sein soll, muss Poquelin der Adressat sein.« Ich zwang mich, Julot anzusehen. »Nichts von alldem erklärt allerdings, warum Julot nicht im Gefängnis sitzt. Er hatte noch mindestens vier Jahre Haft vor sich.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich ihn in den Knast gebracht habe.«
Boniface schien etwas erwidern zu wollen, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür, und der zweite Streifenpolizist ließ jemanden ins Zimmer.
»Eddie, guten Morgen.«
Ich drehte mich um und sah, wie Bouchard, der Pathologe, seinen uralten Homburg abnahm und ihn lässig auf einen Kleiderständer in einer Zimmerecke hängte. Lächelnd wandte er sich mir zu, seine Augen wirkten durch die halbkreisförmigen Gläser der stets auf der krummen Nase sitzenden Brille stark vergrößert. Mit seinen grau gesprenkelten zurückgekämmten Haaren ließ er an einen Akademiker aus dem neunzehnten Jahrhundert denken.
»Morgen, Boniface«, fügte er hinzu. »Es überrascht mich, Sie wieder hier zu sehen. Haben Sie, wo immer Sie waren, zu viele Ehemänner gegen sich aufgebracht? Nein, sagen Sie nichts, es interessiert mich nicht.«
Mir war immer klar gewesen, warum ich Bouchard mochte. »Morgen, Doc.« Ich mochte es auch, ihn Doc zu nennen. Er hasste es.
»Also dann, was haben wir hier?« Bouchard stellte seinen Arztkoffer zu Julots Füßen. Er beugte sich vor, um die groben Stiche zu betrachten, mit denen die Lippen zusammengehalten wurden. »Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass wir nicht nach einem Chirurgen suchen.«
»Oder nach einer Schneiderin«, sagte Boniface in honigsüßem Ton, aber mit süffisantem Grinsen.
Bouchard funkelte ihn an. »Haben Sie sonst nichts zu tun?«
»Doch, haben Sie«, sagte ich zu Boniface. »Ich möchte, dass Sie herausfinden, warum Julot vorzeitig aus Fresnes entlassen wurde. Gehen Sie zum Richter und fragen Sie ihn nach dem Grund.«
Er nickte zustimmend, wobei jedes einzelne seiner geölten Haare an Ort und Stelle blieb, was mich irgendwie ärgerte.
Bouchard nahm mehrere Instrumente aus seinem Koffer und wandte sich Julot zu. Ich versuchte, nicht hinzusehen. Um mich abzulenken, betrachtete ich die Wände des Büros. Es funktionierte, aber anders als erwartet. Vier gerahmte Fotos, die in einem Viertelkreis an der Wand hinter dem Schreibtisch hingen, fesselten meine Aufmerksamkeit. Auf der Stelle vergaß ich Julot mit seinen Basse-Couture-Lippen, Bouchard mit seinen namenlosen Instrumenten und Boniface mit seinem Redestrom. Stattdessen starrte ich auf die Fotos oder, präziser ausgedrückt, auf die fotografierten Menschen. Natürlich waren sie älter als zu der Zeit, als ich sie gekannt hatte, trotzdem wusste ich, wer sie waren.
»Warum wurde er Julot le Bavard genannt?«, fragte Boniface in meinem Rücken. Ich zuckte zusammen. Er war noch immer nicht gegangen. »Julot der Schwätzer. War er etwa ein Spitzel?«
Ich drehte mich zu Boniface um. »Nein, er war kein Spitzel. Er hat einfach ununterbrochen gequasselt.«
»Ein Spitzel?« Denise spuckte das Wort zusammen mit ein paar an ihren Zähnen klebenden Tabakfäden aus. Wütend drückte sie die Zigarette in dem Blechaschenbecher aus, die Glut zischte in einer kleinen Pfütze verschütteten billigen Cognacs. »Julot war alles Mögliche. Aber sicher kein Spitzel. Das wissen Sie selbst, Eddie.«
Sie sah mir ins Gesicht. Jahrelanges Rauchen und das Leben mit...
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