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»Und wenn du mich zurück in deinen Bauch steckst, Mama, schützen kannst du mich nicht mehr!«
Das war das Letzte, was er zu seiner Mutter gesagt hatte. Die wischte sich nun mit einem weißen Kopftuchzipfel die Tränen aus den rotgeweinten Augen und wiederholte immer wieder diesen einen Satz. Den hatte damals auch Hüseyins Schwester Aysel gehört, denn auch sie hatte vor der Tür gestanden, als ihr Bruder für immer gegangen war. Sie hatte ihn noch umarmt, doch er hatte ihre Geste nicht erwidern können, so furchtbar geschwächt und der Welt entfremdet war er schon gewesen. Den linken Arm hatte er allein schon wegen seiner Schusswunde nicht mehr hochgebracht. »Irgendwie muss er gewusst haben, dass er in den Tod ging«, sagte Aysel später. »Ich ahnte, dass wir nichts für ihn tun konnten, und das alles wohl nur wegen dieser Frau.«
Das waren nicht Hüseyins letzte Worte überhaupt, aber doch der letzte Satz beim Abschied von Mutter und Schwester. Der Vater war längst verstorben, die Brüder beide in Amerika.
Als ich zu Hüseyins Familie nach Mardin flog, waren Häuser und Straßen der altehrwürdigen Stadt an der syrischen Grenze mal wieder in roten Staub gehüllt, als habe ein versierter Theaterregisseur sich für Hüseyins düstere Prophezeiung und den brennenden Schmerz seiner Familie um die passende Kulisse bemüht. Ich kannte diese roten Staubwolken. Schon zu Kinderzeiten, als ich Hüseyins Schulkamerad war, wehte es aus der syrischen Wüste so heiß zu uns herüber, dass wir kaum atmen konnten und sandrot eingefärbt wurden. Wenn die roten Winde aufkamen, räumten die Händler ihre Ware weg, jeder flüchtete sich nach drinnen, und wer draußen blieb, schleppte sich mit einem Taschentuch vor dem Mund hustend dahin. Als ich nun nach Jahren in meine Heimatstadt zurückkehrte, stellten sich die roten Wolken zum Empfang wieder ein.
Und das hatten sie auch getan, als Hüseyin sich von seiner Familie verabschiedete. Als sie ihn an der Tür zum letzten Mal gesehen hätten, erzählte Aysel, sei sein Gesicht vor lauter Staub ganz rot gewesen. Die Mutter habe, wie es bei uns Brauch ist, Wasser hinter ihm her geschüttet. »Denk nicht so schlimme Sachen, Junge! Geh wie das Wasser, komm wie das Wasser!« Aber da sei er von der roten Wolke schon verschluckt worden.
»Blutverschmiert habe ich das Gesicht meines Jungen zum letzten Mal gesehen«, sagte die Mutter, und zu Aysel gewandt: »Sprich ja in diesem Haus den Namen dieser Teufelin nicht mehr aus. Sie hat meinen herrlichen Jungen auf dem Gewissen, hat unsere Familie zerstört. Wo sie hintritt, bringt sie Unheil. Nenn sie gefälligst nur noch Teufelin.«
Da wurde ich erst recht neugierig auf die Frau und auf alles, was Hüseyin zugestoßen war. Hier in Mesopotamien war er verletzt worden, dann musste er ausgerechnet nach Amerika, um dort umgebracht zu werden. Hier angeschossen, dort drüben erstochen, was für ein Schicksal!
Bevor Hüseyin knapp zwei Monate nach seiner Ankunft in den USA in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Jacksonville sein Leben aushauchte, brachte er noch mehrfach heraus: »Ich war ein Mensch.« Einer seiner Brüder erzählte später, da niemand den Satz verstand, habe ein indischstämmiger Arzt ihn mit dem Handy aufgenommen. Er spielte ihn später den Brüdern vor und wollte wissen, was er bedeutete. Erst meinte der Arzt, sie hätten ihn wohl nicht genau übersetzt, denn es müsse doch eher heißen »Ich bin ein Mensch«, doch die beiden bestätigten, Hüseyin habe eindeutig die Vergangenheitsform benutzt und somit gesprochen wie ein Toter.
Im nach Mardin übersandten Totenschein hieß es, der türkische Staatsbürger Hüseyin, 32 Jahre alt, weiß (caucasian stand genau da), sei am 26. Juli 2016 um 23.44 Uhr den schweren Verletzungen erlegen, die ihm durch Stiche in die Bauch- und Nierengegend beigebracht worden seien.
Vielleicht sollte ich erst mal erzählen, wie ich in die Sache überhaupt verwickelt worden bin. Eines Vormittags saß ich wie üblich gegen elf Uhr in der Redaktionskonferenz unserer Zeitung, und alle an dem ovalen Tisch spuckten aus, was sie zu bieten hatten. Kollege Recep, den wir mit dem Spitznamen Kommissar aufzogen, wartete wie jeden Tag mit blutigen Meldungen und noch blutigeren Fotos auf, die unsere Seite drei zieren sollten. Wenn er auf seine unnachahmliche Art davon schwärmte, er habe wieder etwas ganz Besonderes, dann wussten wir schon, dass wir auf einen grässlichen Verkehrsunfall oder ein Verbrechen gefasst sein mussten, auf jeden Fall aber auf eine irgendwie verstümmelte Leiche. Je mehr Blut zu sehen war, desto fantastischer fanden wir ein Foto in unserer Zeitungssprache. Er fing mit dem an, was quasi sein tägliches Brot war, nämlich mit an Frauen begangenen Verbrechen. Ein Mann hatte mitten auf der Straße seine Ex-Frau erstochen, ein Polizist mit der Dienstwaffe seine Frau erschossen und sich danach selbst gerichtet; so ging es fort und fort. Zum Abschluss eine Meldung, die ihm nicht sonderlich wichtig schien. In Jacksonville in den USA war ein zweiunddreißigjähriger Türke namens Hüseyin Yılmaz in der von seinen Brüdern betriebenen Pizzeria von Rassisten mit Messerstichen so schwer verletzt worden, dass er im Krankenhaus nicht mehr gerettet werden konnte. Der Bürgermeister der Stadt hatte die Tat in einer Mitteilung scharf verurteilt und von Islamfeindlichkeit gesprochen. Ein blutiges Bild war nicht dabei, da dergleichen in den USA nicht veröffentlicht wurde, doch die Zeitung hatte über das Einwohnermeldeamt von Mardin ein Foto von dem Mann aufgetrieben. Unser Chefredakteur ordnete an, die Meldung nur klein zu bringen, da sie höchstens für religiöse Leser von Interesse sei; ich aber stutzte wegen etwas ganz anderem. Wenn jemand Hüseyin Yılmaz hieß, aus Mardin stammte und zweiunddreißig Jahre alt war, konnte er eigentlich niemand anderes sein als mein alter Schulkamerad Hüseyin; es sei denn natürlich, damals wären dort tatsächlich zwei Hüseyin Yılmaz auf die Welt gekommen. Ich fragte Kommissar Recep, aus welcher Gegend von Mardin der Mann stamme, und als er Kızıltepe antwortete, gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass der in Amerika umgebrachte Mann tatsächlich der schmächtige, hellwache Junge war, mit dem ich jahrelang die Schulbank gedrückt, Celikçomak und Murmeln gespielt und aus Nestern Vogeljunge geholt hatte.
Als ich in Mardin ankam und unseren wie durch ein Wunder noch immer nicht zugebauten Platz wiedersah, auf dem allerdings niemand mehr Celikçomak spielte, kam mir aus der Welt der Kindheit jener Hüseyin von damals in den Sinn, und ich stellte ihn mir beim Celikçomak vor. Bei diesem Spiel musste man mit einem Stock auf ein kleineres, auf einem Stein balancierendes Stöckchen so geschickt schlagen, dass es in die Luft flog, und es dann gleich wieder treffen und so weit wie möglich wegschlagen; in späteren Jahren war mir das als eine Art Baseball für Arme erschienen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, wieder selbst so einen Stock in der Hand zu halten, und war ganz verblüfft, wie schnell die Bilder von damals sich wieder einstellten. Nicht nur Hüseyin sah ich vor mir, sondern auch die anderen Freunde: Mehmet, Raif, Safter, Fikret, Münir, Tahir. Der kleinste und dünnste von uns war stets der spitzgesichtige Hüseyin gewesen. Beim Armdrücken machte er nie mit, weil er sich von vornherein geschlagen gab. Im Koranunterricht dagegen, in den wir allesamt geschickt wurden, war er der gelehrigste. Wenn wir in dem kahlen Raum vor den Holzpulten niederknieten und aus den Umhängetaschen das Heft mit dem arabischen Alphabet herausholten, las er mühelos die Buchstaben ab: Elif, Be, Te, Se, Cim, Ha . Ganz verdattert waren wir, als er einmal sagte, am liebsten würde er eine Sekunde lang das Gesicht des Propheten sehen und gleich darauf sterben. Überhaupt steckte er voller Todesgedanken. Von dem roten Wind behauptete er, der werde uns als Zeichen für den Jüngsten Tag geschickt, damit wir uns nicht mit irdischem Tand begnügten. Da lachten wir nur, bis uns vor lauter Wüstensand im Mund die Zähne knirschten, dann hielten wir uns irgendein Tuch vors Gesicht und machten, dass wir nach Hause kamen. Dass wir mit Gummischleudern Vögel jagten, warf er uns als Sünde vor, worüber wir nur spotteten. »Isst du etwa keine Hühner, das sind doch auch Vögel, bloß dass sie nicht fliegen!«
Da wiegte er gedankenvoll den Kopf. »Na ja«, sagte er, »wer weiß, ob nicht gerade dieser Vogel von den Mauerseglern abstammt, die aus ihren Schnäbeln Steine auf die Soldaten des Götzendieners Abraha geworfen haben, als der mit Elefanten gegen Mekka loszog.«
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