Schweitzer Fachinformationen
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Der Greyhound-Bus von Prince George, British Columbia, nach Niagara Falls, Ontario, braucht drei Tage, acht Stunden und fünfzehn Minuten. Gina wollte so schnell wie möglich dorthin, und weil wir so drei Tage lang in keinem Motel übernachten mussten, würden wir hinterher ein bisschen Geld übrig haben, um uns das Marineland-Aquarium und Ripley's Believe It or Not! oder irgend so ein Zeug anzuschauen.
Gina schlief die ganze Fahrt durch. Ich glaube, sie ging nicht einmal aufs Klo. Ein paarmal versuchte ich, sie aufzuwecken, wenn wir zum Essen anhielten, aber sie drehte sich immer nur zum Fenster und kuschelte sich noch tiefer in ihren Sitz. Sie hat mir mal gesagt, dass sie nur richtig gut schlafen kann, wenn sie Auto oder Bus fährt. Irgendwas an der Bewegung auf der Straße schläfert sie ein, wie ein Baby in der Wiege.
Die Frau auf der anderen Seite des Ganges hatte blonde Locken, riesige Möpse und eine Bluse mit Leopardenmuster. Sie löste Kreuzworträtsel, trank Cola light und rauchte bei jedem Stopp eine Zigarette. Ihre Zigaretten bewahrte sie in einem kleinen Silberetui auf. Ich glaube, es waren Menthol-Zigaretten, aber genau konnte ich es nicht erkennen. In der ersten Nacht, während sie schlief, klaffte der Ausschnitt ihrer Bluse so weit auf, dass ich ein Stück ihrer Brustwarze sehen konnte. Ich starrte ungefähr zwei Stunden darauf, bis ich selbst einschlief.
Am nächsten Morgen waren wir irgendwo in den Bergen, und sie lächelte mich an. Ihre Lippen waren ganz glänzend und rosa.
«Willst du ein Kaugummi?» Sie hielt mir einen Streifen Juicy Fruit über den Gang hin.
«Klar.» Ich nahm es, und unsere Finger berührten sich. «Danke.»
«Ist das deine Mom?»
«Ja.»
«Was macht sie so?»
«Sie meinen, wenn sie nicht schläft?»
Sie lachte. «Genau.»
Die Frau klapperte mit ihren falschen Nägeln auf der Armlehne herum. Ich zuckte mit den Achseln. «Dasselbe wie Sie, schätze ich.»
Sie rümpfte die Nase. «Ach ja? Und was wäre das?»
«Sie ist eine umherziehende Stripperin.»
Sie blinzelte ein paarmal, wobei etwas von ihrer Wimperntusche abblätterte, dann drehte sie sich zum Fenster. Beim nächsten Stopp raffte sie ihren Kram zusammen und setzte sich nach ganz vorne. Den Rest der Reise über sah ich weder sie noch ihre Brustwarzen wieder.
Als ich noch kleiner war, brachte Gina nach ihrer Schicht manchmal Freundinnen mit nach Hause. Sie tranken dann Weinschorle und aßen Pistazien und lachten und erzählten Witze, deren Pointen ich nicht verstand. Sie fanden mich unheimlich süß, und ich fand sie alle richtig toll. Mit ihren hohen, engen Stiefeln und ihren bunten, glitzernden BHs wirkten sie auf mich wie Superheldinnen.
Aber irgendwann fingen sie an, alle gleich auszusehen, und während ich größer wurde, wurden sie älter. Ihr Lachen wurde rauer, ihr Make-up dicker, und statt Witze zu erzählen, beklagten sie sich nur noch über alles und jeden. Sie hörten auf, mich süß zu finden, und fingen an, auf mich einzureden, dass ich Frauen bloß immer gut behandeln und ihnen nicht das Herz brechen solle. Außerdem solle ich die Klobrille wieder nach unten klappen, mich gerade halten und immer ein Kondom benutzen, und wenn ich es vergäße und ein Mädchen von mir schwanger würde, solle ich wenigstens bei ihm bleiben, und ich solle immer, immer, immer Trinkgeld geben. Roz kniff mich während dieser Mahnungen immer in die Wangen. Roz war Ginas Freundin, und sie hatte nur ein riesiges Nasenloch, ohne Scheidewand. Wenn ich sie ansah, kam es mir vor, als ob ich in ein schwarzes Loch starren würde. Roz kniff mir manchmal so fest in die Wangen, dass ich am nächsten Morgen mit zwei blauen Flecken im Gesicht in die Schule musste. Einmal sagte ich zu Gina, dass ich es satthätte, dass ihre Freundinnen mir immer sagten, was ich tun solle. Was glaubten die eigentlich, wer sie sind?
«Das sind meine Freundinnen, Tucker», erwiderte sie. «Sie wollen nur das Beste für dich.»
«Sie sind dumm.»
«Sag das nicht.»
«Warum nicht? Es stimmt.»
Sie seufzte. «Kann ja sein, aber jeder braucht Freunde. Besonders wenn man keine Familie hat.»
«Ich bin deine Familie», sagte ich.
«Ja, das bist du.»
«Reicht das nicht?»
«Hör mal», sagte Gina. «Wie fändest du es denn, wenn ich dir sagen würde, dass du deine Freunde nicht sehen darfst?»
Ich zuckte mit den Achseln. «Wär mir egal.»
«Es wäre dir egal?»
«Ich bin doch sowieso nie lange genug in einer Stadt, um Freunde zu finden, also macht es überhaupt keinen Unterschied», erklärte ich.
«Du hast aber schon Freunde gehabt», wandte Gina ein.
«Nicht wirklich.»
Sie sah mich an und neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
«Ich habe noch nie einen besten Freund gehabt.»
Ihr Blick trübte sich. Sie strich mir über den Kopf, aber ich wich ihrer Berührung aus. «Eines Tages finden wir einen Ort, der einfach passt, und dann bleiben wir ganz lange dort», sagte sie.
«Ein ganzes Jahr zum Beispiel?»
«Mindestens ein Jahr, vielleicht sogar länger.»
«Okay», sagte ich. «Das wäre gut.»
Sie lächelte.
«Aber könntest du Roz vielleicht sagen, dass sie mich nicht immer in die Wange kneifen soll? Ich hasse das.»
«Das kann ich machen», sagte sie.
Immer wenn ich Roz danach traf, kniff sie mich nicht mehr in die Wange, sondern verpasste mir stattdessen Kopfnüsse, was noch mehr weh tat, aber wenigstens machte das keine blauen Flecken.
Ich stellte meinen Sitz zurück und schlief ein bisschen. Irgendwann mitten in der Nacht wurde ich von einem hupenden Auto geweckt und konnte dann nicht mehr einschlafen. Ich las in meinem Buch 1000 Gefahren: Dem Yeti auf der Spur, in dem man wählen kann, wie die Geschichte weitergeht. Ich musste auf den Mount Everest klettern, starb dabei aber ständig. Einmal wurde ich von einer Lawine begraben. Ein anderes Mal stieg ich zu hoch auf den Berg, ohne mich vorher an die dünne Luft dort oben zu akklimatisieren. Beim dritten Mal erfror ich, weil ich meine Jacke einem Freund geliehen hatte, der auf einer vereisten Stelle ausgerutscht war und sich den Arm gebrochen hatte. Ich wollte nicht mehr sterben, und der doofe Yeti war mir auch egal. Wahrscheinlich gibt es ihn noch nicht mal. Warum verbringen manche Leute ihr ganzes Leben damit, nach Wesen zu jagen, an deren Existenz sowieso niemand glaubt? Warum nimmt sie nicht jemand beiseite und schreit ihnen ins Gesicht: «Hey! Hör zu! Die Sache, der du dein ganzes Leben lang nachgejagt bist, gibt es verdammt noch mal überhaupt nicht, also kannst du jetzt endlich damit aufhören, deine Zeit zu verschwenden, und was Sinnvolles tun!» Ich stopfte das Buch ganz unten in meinen Rucksack. Darin war noch ein anderes Buch, das mir Mrs. Jamieson, die Bibliothekarin in meiner Schule in Prince George, an meinem letzten Tag geschenkt hatte: Wo der rote Farn wächst. Darauf war ein Stempel mit der Aufschrift AUSGEMUSTERT. Den Rest der Nacht verbrachte ich damit, es zu lesen. Und dann war ich froh, dass die Leopardenblusen-Frau nach vorn umgezogen und Gina komplett weggetreten war, weil ich plötzlich ganz gerührt war von dem Buch, und ich wollte nicht, dass sie mich so sahen. Ich starrte bis zum Sonnenaufgang aus dem Fenster. Der Himmel sah aus, als hätte jemand seinen Orangensaft über der Prärie ausgekippt. Ich stellte mir vor, wie es wäre, einen Hund zu haben, jemanden, der dich so sehr liebt, dass er sein eigenes Leben für dich opfern würde. Ich warf einen Blick zu Gina. Sie schlief tief und fest. Das weißblonde Haar bauschte sich um ihr Gesicht wie bei einer Pusteblume. Ich dachte darüber nach, dass sie mich bekommen hatte, als sie ein Teenager war, praktisch selbst noch ein Kind wie ich - und dass sie vielleicht genau das für mich getan hatte, ihr eigenes Leben für mich geopfert. Ich dachte, wenn Gina tot wäre, würde ich wohl auch aufhören zu essen, so wie die kleine Ann es getan hatte, als Old Dan starb. Und während ich langsam wieder einschlief, hoffte ich, dass nach Ginas und meinem Tod jemand einen roten Farn zwischen unseren Grabsteinen pflanzen würde.
Wir suchten uns ein Motel, das nicht direkt im Zentrum lag, weil Gina sagte, dass es dort ruhiger sei. Was sie eigentlich meinte, war, dass es billiger sein würde. Die Farbe auf dem Schild des Motels blätterte ab, sodass man kaum lesen konnte, was darauf stand. Aber wenn man ein paar Schritte zurücktrat und blinzelte, konnte man die Buchstaben annähernd erkennen. Niagara Motel stand dort. Ich fand, dass es irgendwie majestätisch klang. Als wir am Münztelefon in der Lobby vorbeikamen, stellte ich mir vor, Bryce anzurufen, einen Jungen, den ich aus Prince George kannte, und ihm zu sagen, wie sehr ich mich freute, endlich aus dem stinkigen P.G. raus zu sein und jetzt im Niagara Motel zu wohnen. Und dass mein Leben absolut großartig sei und zukünftig auch so bleiben würde.
Ich fand es aufregend, in einer neuen Stadt zu sein, aber vor allem war ich froh, nicht mehr im Bus sitzen zu müssen. Mein Rücken schmerzte, meine Füße fühlten sich geschwollen an, und mein Mund war ganz trocken. Gina dagegen war gerade ins Guinness-Buch der Rekorde für das längste Nickerchen aller Zeiten eingegangen und strahlte völlig verjüngt. Nachdem wir in unser Zimmer gegangen waren und geduscht hatten, kauften wir uns eine Tüte Cool Ranch Doritos und Crystal Pepsi aus dem Automaten. Gina behauptete, Crystal Pepsi sei besser für uns, weil sie klar ist, und...
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