Schweitzer Fachinformationen
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Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen. Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir. Ein bisschen lang ist sie wohl, schließlich ist viel geschehen, doch wenn ihr es nicht allzu eilig habt, werdet ihr vielleicht die Zeit erübrigen. Immerhin betrifft die Geschichte euch: Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft. Glaubt nicht, ich wollte euch von irgendetwas überzeugen, wovon es auch sei; was ihr denkt, ist schließlich eure Sache. Wenn ich mich nach all diesen Jahren entschlossen habe, sie niederzuschreiben, dann nur, um mir selber Klarheit zu verschaffen, nicht euch. Lange kriecht man als Raupe über diese Erde und wartet auf den prächtigen durchscheinenden Schmetterling, den man in sich trägt. Und dann vergeht die Zeit, die Verpuppung findet nicht statt, wir bleiben Larven. Das ist eine betrübliche Feststellung, aber was soll man machen? Natürlich bleibt immer noch der Selbstmord. Doch ehrlich gesagt, lockt er mich wenig. Sicher, ich habe lange daran gedacht, und sollte ich doch darauf zurückgreifen, wüsste ich auch wie: Ich würde mir eine Handgranate gegen das Herz drücken und mit einem wilden Ausbruch der Freude aus dieser Welt scheiden. Eine kleine runde Granate, die ich behutsam entsichern würde, bevor ich den Bügel freigäbe, und bei dem kurzen metallischen Klicken des Zünders lächelte ich, dem letzten Geräusch, das ich hören würde - abgesehen vom Hämmern meines Herzens in den Ohren. Und dann endlich das Glück, oder jedenfalls der Friede, und die Wände des Büros mit Fetzen dekoriert. Die Putzfrauen würden saubermachen, dafür werden sie schließlich bezahlt, selber schuld. Doch wie gesagt, der Selbstmord reizt mich nicht. Ich weiß übrigens nicht, warum, ein altes moralphilosophisches Relikt vielleicht, das mich predigen lässt, wir seien schließlich nicht auf dieser Welt, um uns zu amüsieren? Aber wozu dann? Keine Ahnung, um zu überdauern vermutlich, die Zeit totzuschlagen, bevor sie dich erschlägt. So gesehen, ist das Schreiben ein Zeitvertreib wie jeder andere auch. Nicht, dass ich viel Zeit zu verlieren hätte, ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich habe, wie man so sagt, Beruf und Familie, mithin Verpflichtungen, all das kostet Zeit, lässt kaum welche, um seine Erinnerungen zu schreiben. Und Erinnerungen, die habe ich in Hülle und Fülle. Ich bin geradezu eine Erinnerungsfabrik. Am Ende werde ich ein ganzes Leben damit verbracht haben, Erinnerungen zu fabrizieren, obwohl man mich heute eher dafür bezahlt, Spitze zu fabrizieren. Im Grunde hätte ich genauso gut darauf verzichten können, diese Geschichte aufzuschreiben. Schließlich bin ich nicht dazu verpflichtet. Seit dem Krieg habe ich mich unauffällig verhalten. Gott sei Dank habe ich im Unterschied zu vielen meiner ehemaligen Kameraden nie das Bedürfnis gehabt, meine Memoiren zu schreiben, weder um mich zu rechtfertigen, weil es nichts zu rechtfertigen gibt, noch aus finanziellen Gründen, weil ich auch so mein gutes Auskommen habe. Einmal war ich auf einer Geschäftsreise in Deutschland und hatte eine Besprechung mit dem Direktor eines großen Unternehmens für Unterwäsche, dem ich Spitzen verkaufen wollte. Ich war ihm von alten Freunden empfohlen worden. Ohne viel Worte wussten wir, was wir voneinander zu halten hatten. Nach unserer Besprechung, die übrigens äußerst positiv verlaufen war, erhob er sich, nahm ein Buch aus dem Regal und schenkte es mir. Es waren die posthum erschienenen Memoiren von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen, mit dem Titel Im Angesicht des Galgens. »Ich habe von seiner Witwe einen Brief bekommen«, berichtete mein Gegenüber. »Sie hat das Manuskript, das er nach seinem Prozess verfasst hatte, auf eigene Kosten veröffentlicht, um den Unterhalt für ihre Kinder bestreiten zu können. Können Sie sich vorstellen, so weit zu kommen? Die Witwe des Generalgouverneurs! Ich habe bei ihr zwanzig Exemplare bestellt, zum Verschenken. Außerdem habe ich alle meine Abteilungsleiter angehalten, eines zu kaufen. Ich habe ein rührendes Dankschreiben von ihr bekommen. Kannten Sie ihn?« Ich versicherte ihm, dass ich ihn nicht kannte, das Buch aber mit Interesse lesen würde. In Wirklichkeit schon, ich bin ihm kurz begegnet, erzähle es euch später vielleicht noch, falls ich den Mut oder die Geduld dazu aufbringe. Aber damals davon zu sprechen hätte keinen Sinn gehabt. Das Buch war übrigens sehr schlecht - verworren und wehleidig, es trieft vor einer seltsam frömmelnden Scheinheiligkeit. Diese Aufzeichnungen mögen vielleicht ebenfalls verworren und schlecht sein, doch ich werde mich darum bemühen, klar zu bleiben. Ich kann euch versichern, dass sie zumindest frei von jeglicher Reue sein werden. Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht. Meine Familienangelegenheiten, von denen ich vielleicht auch noch erzähle, betreffen nur mich allein. Was das Übrige angeht, habe ich zum Ende hin sicherlich den Bogen überspannt, aber da war ich schon nicht mehr ganz ich selbst, ich taumelte, und um mich herum geriet die ganze Welt ins Wanken, ich war nicht der Einzige, der den Verstand verlor, das müsst ihr mir zugutehalten. Und außerdem schreibe ich nicht, um meine Witwe und meine Kinder zu versorgen, denn ich bin sehr wohl in der Lage, für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Nein, wenn ich mich endlich zum Schreiben entschlossen habe, dann sicherlich, um mir die Zeit zu vertreiben, womöglich auch, um ein oder zwei dunkle Punkte zu klären - für euch vielleicht und für mich selbst. Zudem glaube ich, dass es mir guttun wird. Denn meine Stimmung ist eher trübe. Was bestimmt an der Verstopfung liegt. Ein leidiges und schmerzhaftes Problem und für mich neu; früher verhielt es sich genau umgekehrt. Lange Zeit musste ich drei- bis viermal am Tag auf die Toilette, wenn es heute einmal pro Woche wäre, könnte ich von Glück reden, so bin ich auf Einläufe angewiesen, eine denkbar unerquickliche, aber wirksame Prozedur. Ihr müsst schon verzeihen, dass ich euch mit so anstößigen Einzelheiten komme: Ich habe doch wirklich das Recht, ein bisschen zu klagen. Und wenn ihr das nicht aushaltet, tätet ihr gut daran, die Lektüre schleunigst abzubrechen. Ich bin nicht Hans Frank, ich hasse Getue. Im Rahmen meiner Möglichkeiten möchte ich so genau wie möglich sein. Trotz meiner Schwächen, und davon hatte ich einige, gehöre ich zu denen, die meinen, nur wenige Dinge im menschlichen Leben seien wirklich unentbehrlich: Luft, Essen, Trinken, Verdauung und die Suche nach Wahrheit. Der Rest ist Beiwerk.
Vor einiger Zeit hat meine Frau eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht, vermutlich wollte sie mir eine Freude machen. Natürlich hatte sie mich nicht gefragt. Sie ahnte wohl, dass ich es kategorisch abgelehnt hätte, da hat sie mich lieber vor vollendete Tatsachen gestellt. Als das Tier einmal da war, ließ sich nichts mehr daran ändern, die Enkelkinder hätten geweint und so weiter. Trotzdem war diese Katze äußerst unangenehm. Wenn ich sie streicheln wollte, um meinen guten Willen unter Beweis zu stellen, verzog sie sich aufs Fensterbrett und starrte mich mit ihren gelben Augen an. Machte ich Anstalten, sie auf den Arm zu nehmen, kratzte sie mich. Nachts aber rollte sie sich auf meiner Brust zusammen, eine beklemmende Last, und im Schlaf träumte ich, ich würde unter einem Steinhaufen erstickt. Mit meinen Erinnerungen erging es mir ganz ähnlich. Als ich zum ersten Mal daran dachte, sie schriftlich niederzulegen, nahm ich Urlaub. Was vermutlich ein Fehler war. Dabei hatte alles gut angefangen: Ich hatte eine beträchtliche Anzahl von Büchern zu dem Thema gekauft und gelesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Organigramme gezeichnet, detaillierte Zeittafeln angelegt und so fort. Doch mit diesem Urlaub hatte ich plötzlich Zeit und begann nachzudenken. Außerdem war gerade Herbst; während ein schmutzig grauer Regen die Bäume entlaubte, stieg langsam die Angst in mir auf. Ich stellte fest, dass mir das Denken nicht guttat.
Dabei hätte ich darauf gefasst sein können. Meine Kollegen halten mich für einen ruhigen, bedächtigen, überlegten Menschen. Ruhig, das schon, aber sehr oft am Tag beginnt es in meinem Kopf zu fauchen und zu grollen, dumpf wie im Ofen eines Krematoriums. Ich rede, diskutiere, treffe Entscheidungen wie alle Welt, doch an der Theke, vor meinem Kognak, male ich mir aus, wie ein Mann mit einem Jagdgewehr hereinkommt und das Feuer eröffnet. Im Kino oder Theater stelle ich mir vor, wie eine entsicherte Handgranate unter den Sitzreihen entlangrollt. An einem Feiertag sehe ich auf dem öffentlichen Platz ein Auto voller Sprengstoff explodieren, den festlichen Nachmittag zum Massaker entarten, das Blut zwischen den Pflastersteinen rinnen, Fleischklumpen an den Hauswänden kleben oder durch die Fenster fliegen und in der Sonntagssuppe landen, höre die Schreie, das Stöhnen der Menschen, denen die Bombe die Gliedmaßen abgerissen hat, wie ein neugieriger Bub Insekten die Beine ausrupft, das stumpfsinnige Vorsichhinbrüten der Überlebenden, eine eigenartige Stille, die sich wie Watte auf das Trommelfell...
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