Schweitzer Fachinformationen
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Es wurde allmählich dunkel, und da bekam sie Angst. Der Regen fiel ohne Unterlass, und die Gehsteige glänzten feucht im Laternenlicht. Menschen mit Regenschirmen liefen vorbei, in Wettermänteln, sehr in Eile, ihre Gesichter müde. Die Autos glitten über den nassen Asphalt, und die eine oder andere Hupe tutete weich.
Sie wollte sich auf eine Parkbank setzen, weil sie den Regen eigentlich nicht spürte und ihr die kühle Luft nichts ausmachte. Nur eben etwas Angst, weil noch nicht entschieden war, wohin sie gehen würde. Die Bank wäre ein Ruheort gewesen. Aber die Passanten musterten sie befremdet, und sie setzte ihren Weg fort.
Sie war müde. Sie dachte immer wieder: «Was wird denn jetzt werden?» Wenn sie weiterlief. Das war keine Lösung. Nach Hause zurückkehren? Nein. Sie hatte Bedenken, dass irgendeine Kraft sie an den Ausgangspunkt versetzen würde. In ihrer Benommenheit schloss sie die Augen und stellte sich einen großen Strudel vor, der aus «Elviras Heim» schoss, sie mächtig ansaugte und zurück ans Fenster beförderte, das Buch in der Hand, ein Wiederherstellen der täglichen Szene. Sie zuckte zusammen. Sie wartete, bis gerade niemand des Weges kam, und sagte mit aller Kraft: «Nein, du gehst nicht zurück.» Das beruhigte sie.
Jetzt, da sie beschlossen hatte fortzugehen, wurde alles neu geboren. Wäre sie nicht so verwirrt gewesen, sie hätte unendlich genossen, was ihr nach zwei Stunden aufgefallen war: «Gut, die Dinge sind noch da.» Eine wirklich außerordentliche Entdeckung. Seit zwölf Jahren war sie verheiratet, und nach drei Stunden Freiheit gehörte sie wieder fast ganz sich selbst - erst mal nachsehen, ob alles noch da war. Hätte sie diese Tragödie auf einer Bühne gespielt, dann hätte sie sich abgetastet, sich gekniffen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Aber wenn sie auf eines keine Lust hatte, dann darauf, eine Rolle zu spielen.
Allerdings waren in ihr nicht nur Freude und Erleichterung. Auch ein bisschen Angst und zwölf Jahre.
Sie überquerte den Boulevard und lehnte sich gegen die Brüstung, um aufs Meer hinauszuschauen. Es regnete noch immer. Sie hatte den Bus in Tijuca genommen und war im Glória-Viertel ausgestiegen. Jetzt hatte sie schon den Morro da Viúva2 hinter sich.
Das Meer war aufgewühlt, und wenn sich die Wellen an den Felsen brachen, bespritzte salziger Schaum sie über und über. Einen Moment lang überlegte sie, ob die Stelle wohl tief war, es ließ sich kaum erahnen: Das dunkle, schattige Wasser konnte wenige Zentimeter über dem Sand liegen oder endlose Tiefen verbergen. Sie beschloss, sich ein weiteres Mal diesen Spaß zu machen, jetzt, da sie frei war. Man brauchte nur lange ins Wasser zu schauen und sich vorzustellen, dass diese Welt kein Ende hatte. Dann war es, als würde man ertrinken und mit den Füßen niemals den Meeresboden erreichen. Ein äußerst beklemmendes Gefühl. Aber warum suchte sie es dann?
Das mit dem Meeresboden, den man nicht erreichen konnte, kam noch aus ihrer Kindheit. Als sie in der Grundschule die Schwerkraft durchgenommen hatten, hatte sie einen Mann erfunden, der an einer komischen Krankheit litt. Und zwar wirkte bei ihm die Schwerkraft nicht . Also fiel er aus der Welt, und dann fiel er immer weiter, weil sie nicht wusste, welches Schicksal sie ihm geben sollte. Wohin fiel er wohl? Sie kam zu einem Entschluss: dass er immer weiterfiel und sich daran gewöhnte, er aß im Fallen, er schlief im Fallen, er lebte im Fallen, bis er starb. Ob er wohl immer noch weiterfiel? Aber in diesem Augenblick machte die Erinnerung an den Mann sie nicht beklommen, im Gegenteil, sie bescherte ihr ein Aroma von Freiheit, wie sie es seit zwölf Jahren nicht mehr kannte. Ihr Ehemann hatte nämlich eine äußerst merkwürdige Eigenschaft: Seine Anwesenheit genügte, um die kleinsten Bewegungen in ihrem Denken erstarren zu lassen. Anfangs hatte ihr das eine gewisse Ruhe vermittelt, neigte sie doch dazu, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sinnlos waren, wenn auch unterhaltsam.
Der Regen hat aufgehört. Es ist nur noch kühl und wirklich angenehm. Ich gehe nicht zurück nach Hause. O ja, das ist ein unendlicher Trost. Wird er überrascht sein? Ja, zwölf Jahre wiegen wie kiloweise Blei. Die Tage zerfließen, verschmelzen und bilden einen einzigen Block, einen großen Anker. Und der Einzelne ist verloren. In ihren Blick tritt etwas von einem tiefen Brunnen. Dunkles und stilles Wasser. Ihre Gesten werden farblos, und sie hat nur noch eine Angst im Leben: dass etwas kommen könnte und sie verändern. Sie lebt hinter einem Fenster, beobachtet durch die Scheiben, wie die Regenzeit die Zeit der Sonne überdeckt, wie dann der Sommer zurückkehrt und wieder der Regen. Wünsche sind Gespenster, die sich auflösen, wenn man das Licht des gesunden Menschenverstandes einschaltet. Warum sind Ehemänner der gesunde Menschenverstand? Der ihre ist besonders solide, gut und fehlerfrei. Einer von denen, die nur eine bestimmte Bleistiftmarke verwenden und auswendig wissen, was auf ihren Schuhsohlen steht. Man kann ihn bedenkenlos fragen, wann Züge fahren, welche Zeitung die höchste Auflage hat, ja in welcher Weltgegend sich Affen am schnellsten reproduzieren.
Sie lacht. Jetzt kann sie lachen . Ich habe im Fallen gegessen, im Fallen geschlafen, im Fallen gelebt. Ich werde mir einen Ort suchen, an dem ich Fuß fassen kann .
Sie fand diesen Gedanken so lustig, dass sie sich über die Mauer beugte und in Gelächter ausbrach. Ein dicker Mann blieb in einer gewissen Entfernung stehen und blickte herüber. Was mache ich jetzt? Vielleicht hingehen und sagen: «Guter Mann, es regnet.» Nein. «Guter Mann, ich war eine verheiratete Frau, jetzt bin ich eine Frau.» Sie ging weiter und vergaß den Dicken.
Sie macht den Mund auf und spürt, wie die frische Luft sie überspült. Warum hat sie so lange auf diese Erneuerung gewartet? Erst heute, nach zwölf Jahrhunderten. Sie war aus der kalten Dusche getreten, hatte leichte Kleidung angezogen, nach einem Buch gegriffen. Aber heute war anders als all die Nachmittage in all den Jahren. Es war heiß, und sie erstickte schier. Sie riss sämtliche Fenster und Türen auf. Aber nein: Die Luft war einfach da, reglos, ernst, schwer. Keine Brise, der Himmel tief, die Wolken dunkel und dicht.
Wie ist es noch mal passiert? Am Anfang nur das Unwohlsein und die Hitze. Dann begann etwas in ihr zu wachsen. Plötzlich zog sie sich mit schweren, sorgfältigen Bewegungen die Kleidung vom Leib, zerfetzte sie, riss sie in lange Streifen. Die Luft schloss sich um sie, drückte auf sie ein. Da erschütterte ein lauter Knall das Haus. Fast gleichzeitig fielen die ersten dicken, warmen Wassertropfen.
Reglos stand sie in der Mitte des Zimmers, keuchte. Der Regen wurde stärker. Sie hörte, wie er auf das Zinkdach im Hinterhof prasselte und das Hausmädchen aufschrie, bevor es nach draußen lief, um die Wäsche hereinzuholen. Jetzt herrschte die reinste Sintflut. Ein frischer Wind fuhr durchs Haus, glättete ihr das heiße Gesicht. Von da an wurde sie ruhiger. Sie zog sich an, suchte alles Geld zusammen, das sie im Haus hatte, und ging.
Jetzt hat sie Hunger. Seit zwölf Jahren hat sie keinen Hunger mehr gehabt. Sie wird in ein Restaurant gehen. Das Brot ist frisch, die Suppe ist heiß. Sie wird Kaffee bestellen, einen duftenden, starken Kaffee. Ach, wie schön alles ist, wie zauberhaft. Das Hotelzimmer hat etwas Fremdes, das Kissen ist weich, die Wäsche duftet sauber. Und wenn sich dann die Dunkelheit im Zimmer ausbreitet, wird ein riesiger Mond aufziehen, nach so einem Regen, ein kühler, ruhiger Mond. Und sie wird schlafen, vom Mondenschein bedeckt .
Der Tag wird anbrechen. Sie wird den Vormittag freihaben, um einzukaufen, was sie für die Reise benötigt, das Schiff legt ja erst um zwei Uhr nachmittags ab. Das Meer liegt ruhig da, fast ohne Wellengang. Der Himmel ist von einem heftigen, grellen Blau. Das Schiff entfernt sich rasch . Und kurz darauf Stille. Die Wasser singen am Rumpf, sanft, rhythmisch . Ringsum flattern die Möwen, weißer Schaum, dem Meer entflohen. Ja, all das!
Aber sie hat nicht genug Geld, um zu reisen. Schiffspassagen sind so teuer. Und von all dem Regen, den sie abbekommen hat, ist ihr innerlich ganz kalt. Sicher, sie kann in ein Hotel gehen. Das ist wahr. Aber die Hotels von Rio sind nicht das Richtige für eine unbegleitete Dame, bis auf die besten Häuser. Und in denen könnte sie irgendeinem Bekannten ihres Mannes begegnen, was ihm geschäftlich sicherlich schaden würde.
Oh, das ist alles gelogen. Was ist die Wahrheit? Zwölf Jahre wiegen wie kiloweise Blei, und die Tage legen sich uns um den Leib und drücken immer fester zu. Ich gehe zurück nach Hause. Ich kann nicht wütend auf mich sein, dazu bin ich zu müde. Und sowieso passiert alles nur, ich löse hier nichts aus. Es sind eben zwölf Jahre.
Sie tritt ins Haus. Es ist spät, und ihr Mann liegt lesend im Bett. Sie sagt, Rosinha sei krank geworden. Ob er denn ihre Nachricht nicht erhalten habe, dass sie erst abends nach Hause käme? Nein, sagt er.
Sie trinkt ein Glas heiße Milch, denn Hunger hat sie keinen. Sie schlüpft in ein Nachthemd aus blauem Flanell mit weißen Pünktchen, wirklich sehr weich. Sie bittet ihren Mann, das Licht auszuschalten. Er küsst sie auf die Wange und sagt, dass sie ihn um Punkt sieben wecken soll. Sie verspricht es, er dreht den Schalter.
Zwischen den Bäumen steigt ein Licht auf, das groß ist und rein.
Eine Zeit lang liegt sie mit offenen Augen da. Dann wischt sie sich die Tränen am Laken ab, schließt die Augen und sucht sich eine bequeme Position. Sie spürt, wie das Mondlicht sie gemächlich...
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