Kapitel 1
Ein Tag im März
"Luca! Luca, komm her!"
Er war gerade draußen damit beschäftigt, die Ferkel mit einem Zweig in den Stall zu bugsieren. Das gelang ihm mehr schlecht als recht und er fürchtete schon Pasquales Blick, wenn der bemerken sollte, dass er sich zwar die Schuhe, die Hose und auch das Gesicht schmutzig gemacht hatte, das halbe Dutzend rosa Schweinchen aber immer noch fröhlich grunzend auf dem matschigen Boden umherlief.
"Luca!" Die Stimme kam näher. Ängstlich schaute er sich um. "Luca, wo bleibst du? Ich habe dich schon mehrmals gerufen. Wie siehst du eigentlich aus? Komm mit rein. Papa ist aus dem Krankenhaus zurück." Annas Stimme wurde leiser, sie schien einen Kloß im Hals zu haben. "Mit Mama stimmt was nicht. Komm, Kleiner."
Mit ihren acht Jahren war Anna gerade mal zwei Jahre älter als Luca, aber sie sagte immer "Kleiner" zu ihm, obwohl Luca nicht der Kleinste war. Seit sie das neue Schwesterchen Clara hinzubekommen hatten, war er das erst recht nicht mehr. Und dann war da noch Lorenzo, der erst vier war.
Anna nahm Luca an die Hand und zusammen gingen sie mit schnellem Schritt, dem Luca so gerade noch folgen konnte, über den Hof zum Wohnhaus. Auf dem Weg dorthin fiel es Luca nicht besonders auf, dass an diesem kalten Tag im März die Wolken über den Himmel rasten. Die Sonne schien zwar, aber es war kalt, was Luca rote Wangen und eine rote Nase bescherte. Sein Papa sagte immer, um ihn zu ärgern, er hätte eine kleine Kartoffelnase. In dem Moment wunderte er sich nicht, dass der Traktor nicht dort stand, wo er sonst stand, wenn er nicht benötigt wurde, sondern mitten im Hof vor dem Kuhstall. Ebenso wenig irritierte es ihn, dass das Fahrrad von Don Alfonso an der Hauswand lehnte. Und dennoch schienen alle diese Eindrücke in seine Erinnerung eingebrannt zu sein, wenn er sich - auch Jahrzehnte später - an diesen Tag erinnerte.
Es war der Tag, an dem seine Mutter starb.
Sie kamen ins Haus und standen auch schon in der Küche. Es war ein Bauernhaus aus dem vorigen Jahrhundert, in das ihr Vater und ihre Mutter mit ihren ältesten Kindern Pasquale, Emma und Francesco ziehen mussten, als Lucas Onkel Vittorio den Familienbesitz beim Kartenspielen verloren hatte. Sie durften den Hof und das dazugehörige Land mit seinen Feldern und den Weinbergen als Pächter bewirtschaften und sich somit ein klägliches Auskommen sichern. Insbesondere Pasquale und Francesco erzählten oft von den alten Tagen. Doch sie mussten immer aufpassen, dass ihr Vater das nicht mitbekam. Er wollte davon nichts hören. Heute weiß Luca, dass es ihm wehgetan haben muss. Damals hatte er das allerdings nicht verstanden. Er hörte den Geschichten gerne zu. Sie waren wie aus einer anderen Welt. So etwa soll es in ihrem alten Haus eine geschwungene steinerne Treppe gegeben haben, die in die obere Etage führte, in der sich die Schlafzimmer befanden. Nicht eine einfache Holztreppe wie bei ihnen zu Hause, die insbesondere im Winter immer unter der Last der Füße, die auf ihr auf- und abgingen, erbärmlich stöhnte. Und sie hatten wohl ebenfalls eine Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde. Das alles war für ihn unvorstellbar und herrlich zugleich. Und dennoch war dieses alte Bauernhaus, in dem er und auch Anna geboren waren, mit seiner alten Treppe und dem alten Ofen in der Küche und den grünen Holzfensterläden und dem direkten Durchgang über die Diele zum Stall - all das war sein Zuhause. Er liebte es, wenn seine Mama Brot gebacken hatte, dessen Duft das ganze Haus erfüllte. Mama.
Anna hielt immer noch seine Hand. Sie hielt sie nun so fest, dass es Luca fast wehtat. Ihr Papa saß auf einem Stuhl, der seitlich am großen Tisch stand, an dem sie alle acht jeden Tag gemeinsam ihre Mahlzeiten einnahmen. Er stütze sich mit einem Ellbogen auf dem Tisch ab und hielt seine Stirn. Er weinte. Noch nie hatte Luca ihn weinen sehen. Auch heute weiß er nicht genau, was das mit ihm damals machte. Was er weiß, ist, dass seit dem Tag alles anders war.
"Kinder, setzt euch hierher." Es war die Stimme von Don Alfonso. "Luca, Anna, kommt her." Der Geistliche ging auf sie zu und zog sie auf das alte Sofa, das gleich rechts neben der Küchentür unter einem Fenster stand. Sie sollten das schmerzverzerrte Gesicht ihres Vaters nicht sehen, der die beiden noch gar nicht bemerkt zu haben schien, bis Don Alfonso ihre Namen ausgesprochen hatte, und aus dessen Augen Schuld, Verzweiflung und Scham zugleich sprachen, als fühlte er sich ertappt, dass Anna und Luca ihn so zu Gesicht bekamen. Pasquale und Francesco standen hinter ihm und schauten mit versteinerten Mienen auf den Boden, auf den Tisch, auf ihre Hände. Emma saß auf dem Stuhl, der immer hinten an der Wand stand, hinter der sich die kleine Spülküche befand. Sie trug das alte blaue Kleid, das sie immer trug, wenn sie das Essen für die Familie kochte. Die Hände im Schoß, weinte auch sie. Und als hätte auch sie erst in dem Moment bemerkt, dass Anna und Luca in die Küche gekommen waren, stand sie hastig auf, wischte sich die Tränen aus den Augen, strich sich eine Haarsträhne hinter ein Ohr und kam zu ihnen auf das alte Sofa. Sie setzte sich zwischen sie, umschloss Annas Kopf mit ihrer rechten Hand und Lucas Kopf mit ihrer linken. Sie küsste Luca auf die Stirn und drückte ihn an ihre Brust. Die große Schwester Emma, die schon immer eine zweite Mutter für sie gewesen war. Und wie es das unbarmherzige Schicksal für sie alle vorgesehen hatte, musste sie dieser Mutterrolle fortan noch mehr nachkommen. Der Einzige, der fehlte, war der kleine Lorenzo, der gerade seinen Mittagsschlaf hielt. Und natürlich Clara, aber die war ja gerade mal eine Woche alt und bei der Mama im Krankenhaus. Das zumindest dachte Luca. Und ganz falsch lag er damit nicht. Beide waren sie im Krankenhaus, Clara und Mama, nur dass seine Mutter an dem kalten, aber dennoch sonnigen Morgen im März gestorben war, als sich ein Blutgerinnsel in ihrem Kopf festgesetzt hatte und sie erst das Bewusstsein und dann ihr Leben verlor.
"Mama kommt nicht mehr nach Hause", sagte sein Papa mit einer Stimme, die Luca fremd war. Papa, der immer morgens vor dem Frühstück feierlich das Gebet für die Familie sprach. Papa, der ihm mit unendlicher Geduld gezeigt und mit seiner verständnisvollen Stimme erklärt hatte, wie man aus Holzsohlen, Leder und Zwirn Schuhe zusammennähte, obwohl das gar nicht zu Lucas Aufgaben gehörte, da er noch zu klein dazu war. "Mama kommt nicht mehr nach Hause", wiederholte er diesen Satz mit einer brüchigen, flatterhaften Stimme, die an einen Schmetterling erinnerte, der verzweifelt versucht, bei starkem Wind auf einer Blume Halt zu finden, letztendlich aber von einer Böe davongeweht wird. "Sie ." - doch weiter kam er nicht. Er saß da mit offenem Mund und roten Augen, die durch sie alle hindurchzustarren schienen, als suchten sie nach den passenden Worten, die in dieser unsäglichen Situation ausgesprochen werden wollten. Doch die Suche war vergebens. Er schaffte es nicht weiterzusprechen, schloss den Mund wieder und schaute Luca und Anna nur an, die ihm am anderen Ende der Küche gegenübersaßen und ebenso verzweifelt in seinen Augen nach einem Sinn suchten. Einen Sinn, von dem sie sich Trost erhofften.
"Pietro, lassen Sie mich ." Es war Don Alfonso, der das Schweigen schließlich beendete. Er stand von dem Sofa auf, auf dem er mit Luca, Anna und Emma gesessen hatte, stellte sich nun mitten in die Küche und hielt die gefalteten Hände vor die Brust. Luca fand das sogar lustig, da es den Anschein hatte, als wollte Don Alfonso zu einer Predigt ansetzen. So bedeutungsvoll kannte er ihn nur aus der Kirche. Zwar war er häufig bei ihnen zu Besuch, aber dann, um mit ihnen zu essen oder mit Papa über die Bibel oder Politik zu diskutieren, und dafür saß er mit am Tisch und stand nicht mitten in der Küche.
"Marcella . eure Mutter, ist heute von uns gegangen." Von uns gegangen? Sie war doch im Krankenhaus. Warum kam sie nicht nach Hause? Wo war sie denn hingegangen? "Sie erlag heute Morgen einem Blutgerinnsel in ihrem Kopf. Die Ärzte haben alles versucht, aber der Herr hat sie zu sich geholt." Der Herr hat sie zu sich geholt? Luca verstand das nicht. Anna musste es verstanden haben, denn kaum hatte Don Alfonso "zu sich geholt" gesagt, fing sie an zu weinen.
"Emma, was heißt 'zu sich geholt'?", wollte Luca wissen.
"Mama ist gestorben", sagte Emma flüsternd. "Sie ist jetzt beim lieben Gott und den Engeln." Was redeten sie alle da? Das konnte doch nicht sein! Luca sprang vom Sofa auf und lief zu seinem Vater.
"Papa, Mama wollte mir doch noch beibringen, wie man Strümpfe strickt, und sie hat mir versprochen, dass ich im Frühling mit zur Viehschau darf und . Das geht doch nicht! Don Alfonso, da hat der liebe Gott doch bestimmt etwas falsch gemacht! Mama wollte doch noch gar nicht zu ihm. Und was ist denn mit Clara?" Luca stampfte mit einem Fuß auf dem alten Küchenboden auf. Mit geballten Fäusten bellte er ihnen all den Protest entgegen, den ein Sechsjähriger aufbringen konnte, dem man gerade seine Mutter genommen hatte.
"Kind ." Zu mehr war auch Don Alfonso nicht in der Lage.
Luca schaute hastig einen nach dem anderen an, doch keiner hatte eine Antwort auf seine Fragen. Alle saßen oder standen sprachlos da und weinten. Luca musste raus. Er rannte aus der Küche, durch die Diele nach draußen, über den geschotterten Hof, auf den Weinberg zu, über das nasse Gras, durch den saftigen Löwenzahn, unter den Weinstöcken entlang, die ihn - noch laublos - mit ihren knorrigen Ästen wie ein abgebrannter Dachstuhl nicht vor der kalten Luft, dem...