Carapax

Lisa Ginzburg
Carapax
Ein Roman

Aus dem Italienischen von Stefanie Römer





Wenn ich ich bin, weil ich ich bin,
und du bist du, weil du du bist,
dann bin ich ich und du bist du.
Aber wenn ich ich bin, weil du du bist,
und du bist du, weil ich ich bin,
dann bin ich nicht ich und du bist nicht du.

Rabbi Menachem Mendel von Kotzk

Die Vergangenheit ist ein Leuchtturm und kein Hafen.

Russisches Sprichwort









Für meine Mutter















Erster Teil
Strömungen

Ich beschließe, dass ich unbedingt nach Rom muss. Ich beschließe es eines Abends, während ich mich abschminke. Pierre liegt schon im Bett, im Badezimmerspiegel kann ich ihn durch den Spalt der leicht geöffneten Tür sehen, wie er so tut, als lese er Der Mann, der den Zügen nachsah, den Krimi von Simenon - aber er tut eben nur so: Er ist hundemüde und viel zu beschwipst, um sich tatsächlich konzentrieren zu können.
Wir sind gerade von einem dieser offiziellen Dinner zurück, zu denen ich ihn in meiner - wie ich finde, ziemlich gut gespielten - Rolle der Diplomatengattin begleite. Langweilige und immergleiche Abendessen, immer gleich die Käsesorten vor dem Dessert, die üppigen Torten, der Ton der Gespräche, die Gesichter, das Getue, das Hin und Her zwischen Themen, die mich weder interessieren noch jemals überraschen.
Wie man sich abschminkt (und schminkt), hat mir Leyla beigebracht, eine befreundete Kosmetikerin - genauer gesagt, meine Kosmetikerin und inzwischen beste Freundin. Wir führen völlig unterschiedliche Leben, sie und ich. Leyla ist nicht verheiratet, sie hat keine Kinder. Sie kümmert sich um ihren Vater, den es vor über fünfzig Jahren aus Fort-de-France auf den Kleinen Antillen nach Paris verschlagen hat, einen reizenden älteren Herrn mit weißem Haar, das prächtig mit seiner dunklen Haut kontrastiert (einmal, an einem unvergesslichen Sonntag, war ich zusammen mit Leyla bei ihm zu Hause, in Champigny, zum Mittagessen eingeladen). Ihr Geschäft hat Leyla vollkommen allein aufgebaut, und gerade steht sie kurz davor, die über fünfundzwanzig Jahre lang angemieteten Räume ihres Kosmetiksalons im 17. Arrondissement zu kaufen, ein Etappenziel, auf das sie zu Recht stolz ist. Ich fühle mich wohl in Leylas Gesellschaft, ich liebe es, mich mit ihr auf einen Kaffee oder zum Lunch zu treffen. Manche Menschen schlagen dich von der ersten Sekunde an in ihren Bann, scheinen dich zu beflügeln, und Leyla ist solch ein Mensch für mich: ihr Kampfgeist, ihre Eleganz, das stets perfekte Make-up - die bunten Schals über den dunklen Kleidern, der auffällige Schmuck, die hohen Absätze, auf denen sie mit echter, beneidenswerter Nonchalance durch die Welt geht. Ich vertraue Leyla, vielleicht, weil sie mich ein bisschen an meine Mutter erinnert: Sie durchschaut die Dinge, ist achtsam, niemals taktlos, die Erfahrung hat sie gelehrt, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, ohne dabei in Zynismus zu verfallen, und trotz ihres nicht immer ganz einfachen Lebens als Woman of Color in Frankreich habe ich sie noch nie wütend oder verzagt erlebt. Leyla hat mir also erklärt: Bevor man das Gesichtswasser verwendet, muss zuerst die Reinigungsmilch eingezogen sein - die letzten Reste von Eyeliner, Wimperntusche oder Kajal entfernt man am besten nach der Reinigungsmilch und vor dem Gesichtswasser. Die Lippen werden mit einer Arganöl-Creme befeuchtet, die man mit dem Finger einem sündhaft teuren, winzigen Döschen entnimmt, das ich, müde wie ich bin, nicht mehr aus meiner Tasche drüben holen will. Ich belasse es bei Reinigungsmilch und Gesichtswasser. Pierre hat kapituliert, mit letzter Anstrengung hat er das LED-Nachttischlämpchen ausgeschaltet und ist weinselig eingeschlafen. Ich sehe mich im Spiegel und finde mich wie üblich weder schön noch hässlich, ehrlich gesagt sehe ich mich gerade überhaupt nicht, so gedankenverloren, wie ich bin.
Ich war nur selten in Rom in den letzten Jahren, und auch nur zu "besonderen" Anlässen. Gemeinsam mit Nina zur Beerdigung unserer Mutter. Davor, lange davor, zu Weihnachten, zusammen mit Pierre und den Kindern, Valentina und Samuel, die damals noch klein waren. Pierre hatte darauf bestanden, mit Nachdruck, fast schon indigniert: "Sie müssen doch auch die Stadt kennenlernen, in der ihre Mutter aufgewachsen ist; ihre Wurzeln liegen nicht nur in Paris, Maddalena, sondern auch in deiner Heimat!" In meinem Kopf bleibt Rom jedoch ein schwieriger Ort: ein Gewirr aus Erinnerungen, bei denen ich aus einer Art Selbstschutzinstinkt nicht allzu lange verweile.
Aber sieh an, heute Abend habe ich es beschlossen, ohne Wenn und Aber. Ich muss nach Rom.
Nina und ich waren schon immer ständig in Kontakt, doch seit sie nach New York gezogen ist, hat sie ein noch größeres Bedürfnis sich auszutauschen. Wegen jeder Lappalie ruft meine Schwester mich an oder schickt mir WhatsApp-Nachrichten. Sie treffen rund um die Uhr ein, ohne jede Rücksicht auf die Zeitverschiebung zwischen uns. Mitten in der Nacht, am frühen Morgen, tagsüber, wenn ich allein unterwegs bin, abends genau dann, wenn ich mich gerade mit Pierre und den Kindern zu Tisch setze. Gnadenlos verkündet der Mitteilungston des iPhones den Eingang neuer Worte. Übergriffige Attacken, störend wie ein nerviges Nebengeräusch. Mittlerweile schalte ich das Handy oft aus, um unerreichbar zu sein; doch sobald ich es wieder einschalte und Ninas Nachrichten sehe, werde ich jedes Mal unruhig und fühle mich verpflichtet, ihr zu antworten. "Ich hab geschlafen", "Ich kann gerade nicht", "Können wir morgen telefonieren?" tippe ich hektisch, in der Hoffnung, meine Schwester möge den leisen Wink verstehen und sich kommunikativ ein wenig zügeln. Doch vergebens: Nina bleibt sich treu, stört uns weiterhin unbarmherzig. "Oh Maddi, wie dumm von mir, tut mir leid, daran hab ich echt nicht gedacht!": eine Meisterin der Entschuldigung, nur um gleich darauf völlig unbekümmert, als wäre nichts gewesen, abermals zu den unmöglichsten Zeiten ihre Salven abzufeuern. Ich sehe es ihr nach; doch Pierre ist stinksauer. "Das gibt's doch nicht! Deine Schwester ist dermaßen narzisstisch, sie würde ohne mit der Wimper zu zucken sogar ein Baby aus dem Schlaf reißen!", flucht er, wenn ich vergessen habe, das Handy auf stumm zu schalten und uns der Mitteilungston von WhatsApp unsanft weckt. Wieder tippe ich geduldig: "Bitte, Nina, denk an die Zeitverschiebung, sonst krieg ich Ärger." Erneut stelle ich telematische Stille her - unterbrochen von einer Flut aus Emojis, die Nina mir schickt und die ich später entdecke, Myriaden von Gesichtern, Herzchen-Augen, betenden Hände, ein Sonnenschirm, zwei sich berührende Sektgläser, Blumensträuße, geschälte Bananen, unzählige Noten, die unsere neuerliche Harmonie symbolisieren (oder heraufbeschwören) sollen.
Alles wie gehabt. Nina: Sie ist es, die zählt, sie an erster Stelle. Im Gegensatz zu Pierre regt mich ihre Egozentrik nicht auf. Ich kenne meine Schwester nicht anders, sie ist so, seit wir auf der Welt sind. Nina, meine kleine Schwester, schön und launisch, überschäumend, schwierig, die Primadonna. Anstrengend. Das komplette Gegenteil von mir, Maddalena, Kurzform Maddi, die schüchterne ältere Schwester, nüchtern, zurückhaltend. Die Nina stets unterstützt, die sie rechtfertigt, die ihr Schutzschild ist; ich, ihr liebstes Publikum.
Ich weiß genau, welche Gründe hinter den Exzessen meiner Schwester stecken, ich kenne jeden einzelnen. Wenn sie übertreibt, wenn sie fantasiert, wenn sie bestimmte Situationen oder ihr Gegenüber nicht begreift, dann vor allem deshalb, weil sie sich nicht beherrschen kann. Ihr Wesen ist impulsiv und vielschichtig, ein Auf und Ab aus ständig schwankenden Stimmungen. Und verkompliziert wird das Ganze noch durch ihre Schönheit: magnetisch, von einer Anziehungskraft, deren wahres Ausmaß Nina bis heute nicht begreift. Selbst als erwachsene Frau erkennt sie noch immer nicht, welche Wirkung sie auf andere ausübt.
"Wow, was für ein Blick!": Schon abertausende Male habe ich dieses an sie gerichtete Kompliment aus dem Mund von Bekannten, Verwandten, Fremden vernommen. Allesamt hingerissen von der Farbe ihrer Augen, grün wie die von Gloria, unserer Mutter. Ein sattes Grün, aus dem Verletzlichkeit, aber auch Dominanz spricht - eine Kombination von irritierender Faszination. Ein Blick, dem man sich nicht entziehen kann, von einer Intensität, die noch betont wird durch die ebenfalls makellos schönen, wie Möwenflügel geschwungenen dunklen Augenbrauen. Während ich den Körperbau der Cavallari, der Familie unseres Vaters, geerbt habe - grobe Knochen, leicht kantige hohe Hüften, Sebas schmale Schultern -, hat Nina Glorias Figur, dieselben langen Beine, wohlgeformt und gerade, den vollen Busen, den im Verhältnis zu den Beinen etwas (aber nur eine Spur) zu kurzen Oberkörper. Denselben Gang von natürlicher Anmut, eine spontane Eleganz, die ich immer für unerreichbar hielt.
Ich lebe seit jeher mit Ninas Persönlichkeit, ich kenne sie in- und auswendig. Noch während sie ihre Mitmenschen mit ihrer aufdringlichen Natur beglückt, scheint sie sich dafür zu entschuldigen. Sie treibt einen zur Weißglut, doch gleichzeitig bettelt sie, völlig hilflos, um Verständnis. Ich, ihre (einzige) Schwester, kann das spüren. Den anderen entgeht dieser stumme Hilfeschrei: Auf sie macht Nina den Eindruck einer wunderschönen und temperamentvollen, aber auch launischen und widersprüchlichen Frau. Ninas Gesellschaft ist schön und schwierig zugleich - und unfassbar anstrengend.Einmal, an einem Samstagnachmittag, nahm unser Vater uns mit zu einer Astrologin nahe der Via Nomentana. Viale Pola lautete die Adresse, eine kleine Seitenstraße im Schatten der Platanen entlang einer endlosen Mauer, niedrige Jugendstilhäuser mit karmesinroten und weißen Stuckelementen an den Fassaden. Die Astrologin wohnte im Erdgeschoss, sie erstellte ihre Horoskope in einem großen Zimmer am Ende eines Korridors, inmitten von mit altrosa Samt bespannten Wänden. Alles in ihrer Wohnung wirkte alt, staubig und bizarr, so bizarr wie sie selbst - groß, stämmig, schwarze Lockenmähne, rollende, leicht hervorstehende Augen. Während des gesamten Besuchs ließ sie die riesigen Papierbögen mit unseren Geburtshoroskopen vor sich auf dem Tisch liegen: kryptische Arabesken, auf die sie von oben schaute, während sie ständig den Zwicker mit ovalen, randlosen Gläsern auf der Nase zurechtrückte, von dem man nicht wusste, ob er tatsächlich als Sehhilfe diente oder nur Show war. Ihr Name war Angela Perrone; sie hatte eine Horoskop-Kolumne in einer großen Frauenzeitschrift und war offensichtlich stolz auf diese Aufgabe, was sich auch an der Inbrunst zeigte, mit der sie ihre Orakelsprüche deklamierte, untermalt von übertrieben vielsagenden Blicken - sie glich einer Zauberin, die uns hypnotisieren wollte. Seba, unser Vater, hatte sie während der Arbeit auf einer Hochzeit kennengelernt, zu der sie eingeladen war. Nicht, dass sie im eigentlichen Sinne schön gewesen wäre, aber sie hatte ihm gefallen und sobald er erkannte, dass sie ohne Begleitung war, begann er sie mit derselben freundlichen Beharrlichkeit zu umgarnen, mit der er sie später zum Essen einlud und dann ins Bett lockte. Zwei oder drei Treffen, mehr nicht, einer dieser Flirts, die schon zu Ende sind, bevor sie richtig begonnen haben. Allerdings nicht ohne Spuren zu hinterlassen, denn seitdem glaubte Papa an Horoskope. Auch wenn sich Angela Perrone in die Schar der einst geliebten "guten Freundinnen" eingereiht hatte, nutzte Seba die Astrologie weiterhin als bevorzugtes Instrument, um das Leben zu interpretieren. Die Deutung der Planeten blieb aus seiner Sicht die zuverlässigste unter den mannigfaltigen Zukunftsprognosen, auf die er in seiner Unruhe und Verlorenheit vertraute, nachdem unsere Mutter fortgegangen war. Es gab die Phase der Glückskekse, die beim Chinesen auf der Piazza Vittorio zusammen mit der Rechnung gebracht wurden. Papa zerbrach sie ungestüm, um die Sprüche auf den kleinen Zetteln zu lesen, die er danach faltete und im Portemonnaie aufbewahrte, und jeden Sonntag wollte er aufs Neue in dieses Restaurant, nur um noch mehr zu bekommen. "Eine Niederlage ist das Samenkorn des Erfolgs" war der Favorit, gut sichtbar an den Kühlschrank geklebt. Danach folgten nacheinander die Vorteile der veganen Ernährung, die unglaubliche Wirkung des Ashtanga Yoga, die Irisdiagnostik und das Handlesen, die Analyse der Körpersprache sowie die hellseherischen Künste der Grafologie und der Numerologie. Doch wie auch immer die Prophezeiung lautete, die Diagnose blieb ein und dieselbe. Seba Cavallari litt an Traurigkeit. Er war von der Mutter seiner beiden Töchter verlassen worden und nun, wie bei Depressiven in der ersten posttraumatischen Phase so oft der Fall, wollte es ihm einfach nicht gelingen, wieder auf die Beine zu kommen. Über die Gründe seines Schicksals spekulieren, das vermochte er, doch sich "in sein Schicksal ergeben" war ihm unmöglich.
Seit damals sprach unser Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit wem auch immer über Astrologie. Über die Sterndeutung offenbarte er seinen Kummer, jene dumpfe Niedergeschlagenheit, die ihn peinigte. "Gloria, Jungfrau mit Aszendent Jungfrau, mit Mond und Mars im Skorpion. nur ein Stier mit Aszendent Krebs und dem Mond im Schützen wie ich konnte auf die bescheuerte Idee kommen, mit so einer Frau eine Familie zu gründen", hörte ich ihn einmal sagen. Ich lauschte hinter der Tür zum Wohnzimmer, wo er nach dem Essen telefonierte, während er auf Nina aufpasste, die wie hypnotisiert Susi und Strolch schaute. Keine Ahnung, mit wem Papa sprach; aber gewiss waren es jene Worte, jenes "nur jemand wie ich konnte auf die bescheuerte Idee kommen.", die bei mir den Groschen fallen ließen. Er und Mama würden nie mehr zusammenkommen. Wir konnten toben, verzweifeln, uns mit aller Kraft wünschen, die Zeit möge sich wie ein Band zurückspulen lassen. Das Leben verfluchen, so viel wir wollten: Zwischen Seba und Gloria, zwischen unserem Vater und unserer Mutter, war es aus und vorbei.
Ich war neun, Nina acht. Gloria war inzwischen seit einigen Wochen weg. Es handelte sich nicht um eine Pause, nicht um die vorüberziehende Wolke eines heftigeren Streits als sonst, nicht um ein vom Schicksal mit hinterhältiger List ausgehecktes kurzeitiges Ereignis. Nein: Nach diesem aufgeschnappten "auf die bescheuerte Idee kommen, eine Familie zu gründen" war alles anders. Der Himmel barg weitaus mehr, als die Erde fassen konnte; wenn in den Sternen geschrieben stand, dass Seba Cavallari und Gloria Recabo, unsere Eltern, sich trennen sollten, dann konnte man wirklich nichts mehr machen. Man konnte es nur noch akzeptieren.
Die Astrologin hatte nur die beiden bettlakengroßen Papierbögen mit unseren Geburtshoroskopen, Ninas und meinem, nebeneinanderlegen müssen, um die wesentlichen Charakterzüge zu erfassen, die unsere vollkommen gegensätzlichen - "aber auch gut zusammenpassenden", wie die Signora eiligst betonte - Persönlichkeiten bestimmten. Nina, Jungfrau Aszendent Zwilling mit dem Mond im Widder, "blitzschnelle Auffassungsgabe, brillant, aber empfänglich für Stimmungsschwankungen; ein weiter Weg bis zum Gleichgewicht der Selbstbeherrschung". Ich, Krebs mit Aszendent Steinbock und dem Mond in den Fischen, riskierte das Gegenteil: Meine außerordentliche Empfindsamkeit würde mich daran hindern, mich mitzuteilen und in der Welt zu behaupten. Dann machte sie sich auf Sebas Bitte daran, Mamas Persönlichkeit zu entschlüsseln und verschiedene Zukunftsszenarien für die schwer kriselnde Beziehung der beiden zu wagen. Völlig überwältigt, wie ich inzwischen war, hörte ich in diesem Moment schon gar nicht mehr zu. Ich suchte Trost in den Sternzeichensymbolen, die mit Stecknadeln an den Samtwänden angeheftet waren, jenen Figuren halb Mensch, halb Tier. Fasziniert vor allem von der majestätischen Freiheit des Schützen, die Pferdefüße ein großartiger Kontrast zu dem menschlichen Oberkörper.
"Mama, wo bist du, warum rufst du nie an?" Von der Kraft der Figuren ermutigt, fand die Sehnsucht eine Stimme, brach sich in Worten Bahn.
Es war bereits dunkel, als wir endlich wieder im Freien standen und uns auf dem schmalen Gehsteig der Viale Pola auf den Rückweg zum Auto machten. Die Astrologin hatte uns einen durchsichtigen Plastikbären mit kleinen, in buntglänzendes Stanniolpapier eingewickelten Schokoladenbärchen darin geschenkt. Im Auto schlugen wir ihm den Kopf auf, um uns gleich darauf wütend um die kreuz und quer über den Sitz verteilten Süßigkeiten zu streiten. Ein heftiger Streit; bis Nina zu heulen begann, mit der zermürbenden Ausdauer ihrer Launen, gepaart mit leiser Verzweiflung. "Schalt das Radio aus, Papa, hier hinten versteht man rein gar nichts!", hörte ich sie schluchzen. Die Musik war tatsächlich viel zu laut, sie erfüllte den ganzen Innenraum und ließ die Fenster erzittern - Papa musste sie aufgedreht haben, um unseren Streit zu übertönen. Doch das wirklich Entscheidende war nicht die Spannung; sondern Ninas Selbstherrlichkeit, mit der sie ihren Schmerz abreagierte, die Show, die sie abzog, indem sie alles herausließ, womit sie nicht umgehen konnte. Und es war egal, dass stets sie es war, die lamentierte, niemals ich. Ninas Szenen gaben unser beider Traurigkeit eine Stimme. Meine Schwester war mein Megafon.
Gloria fehlte uns. Unsäglich. Ihre Abwesenheit war ein Loch: ein Abgrund, der uns seit unerträglich vielen Tagen zu verschlingen drohte.
Im Augenblick will ich noch niemandem von meiner möglichen Reise nach Rom erzählen, weder Pierre noch den Kindern. Die Idee muss erst reifen, in meinem Kopf klare Formen annehmen, damit ich sie richtig kommunizieren kann. Mir schwebt ein kurzer Aufenthalt vor, eine Woche höchstens. Ich werde zum ersten Mal allein verreisen; ein Novum, das meine Kinder möglicherweise erstaunen, vielleicht verärgern wird. Ich zögere, verheddere mich in meinen eigenen Fragen.
"Ich muss was Dringendes mit dir besprechen, Maddi, hast du eine Minute?" Ich habe vergessen, das Handy auszuschalten, Ninas WhatsApp-Nachricht schneit mitten in der Nacht herein. "Was heißt 'hast du eine Minute'? - die Nacht hat viele Minuten und alle sind ungünstig", denke ich, so unsanft aus dem Schlaf gerissen, verärgert. Pierre schlummert seitlich zusammengerollt, die mageren langen Beine rechtwinklig angezogen, in einer seltsamen halb-fetalen Stellung, die mich anrührt. Zum Glück hat ihn der Mitteilungston nicht geweckt, seinem Atem lauschend, versuche ich mich zu beruhigen, im Halbdunkel folge ich mit angestrengtem Blick dem kaum wahrnehmbaren, von seinem leichten Schnarchen verursachten Auf und Nieder der Bettdecke. "Es ist spät, Nina, richtig spät", tippe ich leise, dann schicke ich meine Antwort wütend ab. Sie soll das endlich begreifen, verdammt nochmal!
Nicht, dass das, was sie mir mitzuteilen hat, keinen Anruf wert wäre. In Paris ist es zwölf Uhr mittags, ich stoße die schwere Glastür des Club Med Gym in der Rue Cadet auf, wo jeden Mittwoch mein Pilates-Kurs stattfindet, als das Handy in meiner Manteltasche vibriert.
"Guten Morgen, Ninutschka. sag, was gibt's, ich bin gerade auf dem Sprung, aber schieß los." Trotz meines versöhnlichen Tons signalisiere ich, dass ich in Eile bin, denn abgesehen davon, dass sich Nina sowieso niemals in andere hineinversetzt, bin ich zudem die letzte, um die sie sich Gedanken macht.
"Ich verlasse Brian, Maddi."
"Wie, du verlässt ihn? Oh Nina, aber."
Ich bemerkte ein Zittern in ihrer Stimme, dieses unmerkliche Kippen kurz vor dem Weinen. "So ein Arsch, ich will nichts mehr von ihm wissen! NICHTS, verstehst du?!"
Willkommen zurück, Kummer. Da seid ihr ja wieder, Sorgen der Vergangenheit - in der ihr euch versteckt habt. Es ist lange her, dass ich als Blitzableiter für die Wutausbrüche meiner Schwester herhalten musste, dass ich mir ihretwegen Gedanken machte. Seit sie Brian kennengelernt hat, habe ich mich erleichtert gefühlt, freier. Nina hatte endlich ein echtes eigenes Leben, unabhängig von mir. Was der Geografie nicht gelungen war, hatte die Liebe vermocht: Ein weiter leerer Raum trennte uns. Ein erfrischendes Gefühl, eine Möglichkeit, mich nur auf mich zu konzentrieren. Eine gesunde Distanz nicht so sehr aufgrund von Meilen und Meeresarmen als vielmehr aufgrund von Respekt, Autonomie, Stille. Zwei Schwestern, zwei Leben. Weniger Einmischungen. Und mit einem Mal reicht die Ankündigung einer bevorstehenden Trennung und schon werde ich wieder in Ninas Leben hineinkatapultiert. Als wäre kein Tag vergangen, seit wir untrennbar waren, undenkbar die eine ohne die andere.
Brian O'Brien: Ire, übergesiedelt nach Brooklyn, wo er nacheinander drei Kunstgalerien eröffnet hat, jedes Mal mit Erfolg. Alle in der Familie hatten auf ihn gesetzt - alle außer Pierre, der immer bissig ist, wenn es um seine schöne und launischen Schwägerin, die stürmische und übergriffige Nina, geht: "Den serviert sie auch ab, du wirst schon sehen", prophezeite er mir schon am Ende des Abends, an dem sie uns Brian vorstellte. "Nein, diesmal hält es!", widersprach ich ihm. "Er ist ein richtiger Mann, erwachsen, eine echte Persönlichkeit." Der Grund für meinen Optimismus an jenem Abend war jedoch weder Brians sympathische Art noch sein gutes Aussehen - Nina hatte schon immer eine Schwäche für schöne Männer, nichts Neues also. Was mir Hoffnung machte, war vielmehr, dass ich sie ganz anders erlebte als sonst, freundlich, aufgeräumt, großmütig. "Kann ich dir helfen?", hatte sie gezwitschert, als sie zu mir in die Küche kam - und wir waren zusammen dortgeblieben, um Pestonudeln und einen Tropischen Salat zuzubereiten, ganz die aufopfernden braven Schwesterlein, deren Männer derweil im Wohnzimmer gute Gespräche führen, ein so klischeehaftes wie neuartiges Drehbuch für uns.
Sieh an, anstatt sich wieder und wieder an den falschen Männern die Zähne auszubeißen, hat sich meine Schwester endlich entschlossen, erwachsen zu werden, hatte ich schon am Telefon gedacht, als sie mir zum ersten Mal von Brian erzählte. Auch sie war also in der Lage, sich eine "gute" Liebe zuzugestehen. Vielleicht würde sie nie heiraten, sagte ich mir damals, aber zumindest gesetzter werden - das rechte Maß finden, etwas mehr zur Ruhe kommen, weg von dem gehetzten Rhythmus, den sie nicht nur sich selbst ständig aufzwang, sondern auch mir, ihrer Schwester, die sich auf der andern Seite des Ozeans zögerlich auf dem unsicheren Terrain zwischen Imagination und Realität bewegte, nur um ihr nahe zu sein.
Und jetzt plötzlich dieser Anruf, die Nachricht, dass sie ihn verlässt. Was treibt sie dazu, vor allem nach so langer Zeit? Hat Brian sie etwa betrogen? Er sieht irre gut aus mit seinem rötlichen Bart, dem hellen Teint und den Sommersprossen, den fröhlichen und wachen blauen Augen: leicht möglich, dass er sich von irgendeinem Mädchen hat bezirzen lassen, das in seiner Galerie aufgetaucht ist, irgendeine günstige Gelegenheit, zu der er schwer nein sagen konnte.
"Was für ein Wichser, Maddi, ich sag's dir! Er hat mir vor allen Leuten eine Szene gemacht, weil ich neulich auf der Vernissage eines griechischen Künstlers angeblich viel zu viel um den Typen, diesen Künstler, herumscharwenzelt bin und ihm schöne Augen gemacht habe. Eine Eifersuchtsszene vom Feinsten und das einfach so in der Öffentlichkeit, ohne daran zu denken, was das bedeutet. Und weißt du, was sich der Vollidiot dann noch getraut hat mir ins Gesicht zu sagen?"
Ich würde viel lieber mehr über den griechischen Künstler erfahren, aber ich halte mich zurück.
"Du bist ein armseliges Flittchen: Das hat er zu mir gesagt. mich so zu demütigen, vor all den Leuten, die ich kenne. Du weißt ja, wo die Galerie liegt, in der Montague Street, du hast sie ja selbst gesehen, nur ein paar Blocks vom Sri Chinmoy Center entfernt, wo ich immer zur Meditation hingegangen bin. Der perfekte Standort: Zusammen mit der Vernissage des Griechen wollten wir den Jahrestag der Galerie feiern - so gut wie alle unsere New Yorker Freunde und Bekannte waren da. Nach ein paar Minuten hat es mir gereicht, diese Szene war einfach zu viel: Ich hab mein Glas auf den Boden geschmissen und bin abgehauen, nach Hause. Es war schrecklich, Maddi, ehrlich. Einfach nur schrecklich."
Ninas Wutanfälle: Ein Terrain, das mir bis auf den letzten Millimeter vertraut ist. Ihre Wut ist ebenso intensiv wie zuvor ihre Liebe. Jähzorn, Gereiztheit, verletzter Stolz. Abläufe, die ich blind und fehlerfrei rekonstruieren kann, einfach deshalb, weil ich sie so perfekt verinnerlicht habe wie ein Schauspieler seine Rolle kurz vor der Premiere. Nina: wie sie jede Dynamik zerstört, indem sie mühsam aufgebaute Beziehungen für null und nichtig erklärt. Wir waren noch in der Schule, da schaffte es meine Schwester während der Probe zu einer Tanzvorführung, sich mit all ihren Klassenkameradinnen zu zerstreiten, weil sie sich nicht auf ihre Seite geschlagen hatten, als sie mit der Lehrerin über eine Stelle der Choreographie diskutierte, die aus ihrer Sicht zu mechanisch wirkte. "Der reinste Kindergarten, lauter kopflose Hühner, die einer Prinzipienreiterin hinterherlaufen, warum muss ich bei so was mitmachen?", zeterte sie tags darauf vor mir. Vermutlich hatte sie Recht, aber ihre Wut war eine Zumutung; mir wurde klar, dass meine Schwester eine Zicke war, und das beunruhigte mich. Nur mit viel Geduld und noch mehr Überredungskunst ließ sie sich schließlich umstimmen und nahm trotz ihres Grolls an der Aufführung teil. Armer Brian, denke ich jetzt: Er hat keine leichten Tage vor sich.
Während ich noch immer am Telefon bin, reicht mir der Junge an der Rezeption des Fitnessstudios ein Handtuch und das Schloss für den Spind in der Umkleidekabine. "Sorry, Ninutschka, ich muss jetzt wirklich aufhören. lass uns so bald wie möglich weiterreden. Aber versuch bitte nichts zu überstürzen. Lass dir Zeit."
"Zeit wofür, Maddi? Und aus welchem Grund sollte ich nichts überstürzen? Es ist aus. Ich mach Schluss. So jemanden will ich nicht, so einen beschissenen, eifersüchtigen Mistkerl. Du weißt doch, unterdrückter Frust ist der schlimmste . heute führt er sich so auf, nach all der Zeit, die wir nun schon zusammen sind, wagt es, mir bescheuerte Szenen zu machen. Und morgen? Was, glaubst du, kommt wohl als nächstes?"
Wenn es nach ihr ginge, würden wir den ganzen Nachmittag reden, das weiß ich. Ich komme zu spät zum Pilates-Kurs, die Trainerin verweist mich mit einer freundlichen Geste auf einen Platz ganz hinten im Raum, wo ich meine Matte ausrolle. Eineinhalb Stunden pures persönliches Wohlbefinden. Die Muskulatur dehnen, die von meinen verrückten Spaziergängen verspannten Bänder lockern, den Atem kontrollieren und gleich einem "Fluss aus Licht" (so nennt es die Trainerin) in alle Glieder strömen lassen. Alles ausblenden, das mich nichts anzugehen braucht, während dieser kurzen Auszeit. Auf mich selbst hören, nur auf mich. Doch das Gespräch mit Nina hat die Alarmglocken in meinem Kopf läuten lassen: Wie niemandem sonst (und mehr noch als meinen Kindern) gelingt es meiner Schwester, sich meines Inneren, meiner Gedanken zu bemächtigen. Ich verfalle ins Grübeln, und dieses ununterbrochene Wälzen von Problemen - sich ständig im Kreis drehende Betrachtungen, die wieder und wieder beim ein und demselben Thema landen - macht die Wirkung von Pilates wieder zunichte. Eine mentale Unruhe, die mir nur allzu bekannt ist; und das gerade jetzt, wo ich überlege, ob ich nach Rom fahren soll oder nicht, wo ich einen klaren Kopf brauche, um mich dieser Möglichkeit zu widmen, ihr Für und Wider abzuwägen, ihr meine komplette Aufmerksamkeit zu schenken.

In der Wohnung im römischen Stadtteil Monteverde, in der wir als kleine Mädchen nach unserem Wegzug aus Genzano lebten, gingen die Fenster unserer beiden Zimmern auf die Parkanlage der Villa Doria Pamphili hinaus. Der umlaufende Balkon, der die Zimmer mit der Küche verband, weitete sich vor dem Wohnzimmer zu einer schönen Loggia, von der aus man viel Himmel und zur Seite hin die Anhöhe des Quattro Venti, am Horizont das Gasometer und, mit ein wenig Glück, zwischen vertrockneten Brombeersträuchern sogar ein kleines Stück Tiber sehen konnte.
Dank der Bäume in unserer Nachbarschaft klang das Asthma, das mich seit einiger Zeit quälte, ab; paradoxerweise hatte ich in Rom weniger Beschwerden als in Genzano, wo es natürlich viel Grün gegeben hatte, jedoch nicht in unmittelbarer Nähe. Vielleicht waren es auch psychologische Gründe, die meine Beschwerden linderten. Ich fühlte mich weniger verletzlich, weil unser häuslicher Alltag (Ninas und meiner) eine neue Form annahm, weniger absurd, weniger anstrengend wurde. Dennoch hielt sich die Verbesserung in Grenzen: Seit dem Umzug nach Rom traten die Anfälle zwar nicht mehr so häufig auf, dafür aber heftig wie eh und je.
Die ersten Anzeichen eines Asthmaanfalls waren mir bestens bekannt. Ein leichter Schmerz auf Höhe des Brustkorbs, ein nach und nach immer heftiger werdendes Stechen auf der Seite zwischen den Rippen. Und der Husten: Ein trockenes Hüsteln, in immer schneller aufeinanderfolgenden und immer quälenderen Stößen, begleitet von Erbrechen, wenn ich gerade gegessen hatte, ein Würgereiz, der ich selbst dann nicht unterbinden konnte, wenn ich Wasser in kleinen Schlucken trank, wie es mir der Arzt empfohlen hatte. Dieser Husten war der Vorspann der Attacke, die kurz darauf ihren Höhepunkt erreichte: Ich bekam keine Luft mehr, mein Herz begann wie verrückt zu rasen; mir wurde schwindelig und, wenn ich stand, musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Ventolin aus meiner dunkelblauen Kosmetiktasche, die Nina so schnell es ging aus dem obersten Fach des Badschranks holte. Und die Angst: eine Angst, die mich selbst danach nicht verließ, nachdem der Anfall vorbei war, wenn sich mein Atem wieder etwas normalisiert hatte, einatmen, ausatmen, die Lippen gespitzt wie ein Vogelschnabel - auch das hatte mir der Doktor beigebracht. Kleine Portionen Sauerstoff für meine gequälten Lungen. Nina stand mir bei: Einmal blieb sie über eine Stunde bei mir im Zimmer, wartete mit mir, bis die Tür wieder zur Tür wurde, die Wand zur Wand und Nina wieder zu Nina. Sie, die mir die ganze Zeit mit der Hand die Stirn gestützt, mit der anderen das Haar gerichtet, die schweißnassen Strähnen hinter die Ohren gestrichen hatte. Erfahren, fähig. "Es ist vorbei, Maddi, es ist schon wieder vorbei" - wie es mich beruhigte, wenn mir meine Schwester diese Worte ins Ohr flüsterte.
Während der Anfälle duldete ich nur sie in meiner Nähe. "Ich bleibe bei Maddalena, ich weiß, was zu tun ist", hörte ich sie zu den Erwachsenen sagen. "Lasst mich mit ihr allein, bitte, ich meine es ernst", beharrte sie - und wie gebieterisch sie klang, wenn sie so redete. Sie hatte eine eigene Technik entwickelt, wechselnde, hilfreiche Positionen. Sie setzte sich hinter mich und umfasste mich in der Taille, um gleich darauf den Arm nach oben wandern zu lassen und die kleine Handfläche dort sanft auf das Zwerchfell zu pressen, wo sie den stärksten Schmerz vermutete (ich hatte ihr die Stelle nicht gezeigt, Nina hatte sie intuitiv entdeckt.) In diesen so schwierigen und schmerzhaften Momenten vertraute ich ihr blind. Mit erstaunlicher Sorgfalt befolgte sie alle Anweisungen für den Notfall: die Kappe vom Ventolin abziehen, den Zylinder des Sprays drehen und mir sofort zum Inhalieren an den Mund setzen (mir selbst zitterten die Hände zu sehr, ich hätte diese Schritte nie alle auf einmal erledigen können.)
Nina, die danach fieberte, immer im Mittelpunkt zu stehen, launisch, herrisch in ihrem Geltungsdrang, wurde in diesen Ausnahmezuständen zu einem anderen Menschen.
"Hörst du mich, Maddi?"
"Ja, ja, es wird schon besser. ein bisschen." Ich rang immer noch nach Luft, aber zumindest war der Schwindel weg.
"Komm, lass uns etwas rausgehen, meinst du, du schafft das, wenn ich mitkomme?"
Wir gingen spazieren, Arm in Arm, erst in Genzano, später dann im Park der Villa Pamphili, Schritte im Grünen, Ruhe, tiefe Atemzüge: Nach und nach bekam ich wieder Luft, glücklich, dass Nina für mich da war und nicht, wie sonst üblich, ich für sie. Abweichungen von Mustern, die uns noch mehr zusammenschweißten.
Zu der Zeit, als ich nach Frankreich zog, litt ich kaum mehr an Asthma: Die Anfälle waren immer seltener und schwächer geworden und hörten nach der Geburt meiner Kinder völlig auf. Doch trotz der Angst, die mir die Atemnot verursachte, hatten diese dramatischen Situationen auch einen positiven Effekt. Sie besiegelten unseren Pakt als Schwestern endgültig. Nina war die Einzige auf der Welt, auf die ich wirklich zählen konnte. Eine für die andere das rettende Ufer, ein Damm gegen das Chaos, durch das wir plötzlich hindurchmussten, dieses riesige Schlamassel, in das man uns, ohne nach unserer Meinung zu fragen, geworfen hatte. Unser Pakt war ein Schutz, ein Schild - ein Carapax, wie der Panzer einer Schildkröte. In den Momenten meiner größten körperlichen Gebrechlichkeit spürte ich ihn, ein deutlicher, klarer Gedanke, vom Körper direkt auf die Seele übertragen.


Danach verfiel Nina wieder in ihr heilloses Wirrwarr, ich in meinen Kontrollwahn, zurückgezogen, aber wachsam. An der Wand neben meinem Bett hatte ich ein Foto von Gloria mit uns beiden aufgehängt. Seba hatte es aufgenommen, an einem Sonntag vor langer Zeit, als wir alle zusammen zum Nemisee gefahren waren. Es war windig gewesen an jenem Tag, wir hatten am Ufer mit Gloria Fangen gespielt: im Bild wir drei, Mutter und Töchter, mit zerzausten Haaren, atemlos, fröhlich. Mama in der Mitte, wir an sie geschmiegt. Ich betrachtete das Bild wieder und wieder. Abends, wenn mich niemand sehen konnte, drehte ich mich zur Wand und sah es an, während ich im Inneren Gespräche führte: stumme Dialoge, die mein großes Geheimnis waren.
Ich hatte schon einmal mit einem anderen Foto gesprochen, das mich noch genauso wie damals aufwühlte, wenn ich daran dachte. Ein Einzelportrait von Gloria, das - in fünfzigfacher Kopie - in einem weit zurückliegenden Februar tagelang überall in Genzano hing. Sie, Gloria, strahlte darauf, den roten Regenmantel in der Taille mit einem Gürtel gebunden, die Schnalle leuchtend und schwarz wie die Knöpfe. Mama hatte ihn in der Via Appia Nuova gekauft, diesen Regenmantel, an einem Samstag während eines gemeinsamen Bummels mit uns, wenige Wochen, bevor sie für immer wegging. Das Rot ging im Schwarzweiß des Bildes verloren, doch das Lichtspiel der Kontraste und die Eleganz des Mantels entsprachen der Realität. Unter der Fotokopie stand in Großbuchstaben das Wort "VERMISST", und darunter, in kleinerer Schrift, eine Telefonnummer.
Nina und ich haben bei verschiedenen Gelegenheiten darüber gesprochen, die letzte ist noch gar nicht lange her. Die schwierigste Erinnerung bleibt für uns beide die an jenes Foto, das kopiert und überall aufgehängt worden war. Die Scham beim Gedanken, dass alle es sehen konnten, angeklebt an die Scheibe des Buswartehäuschens in Richtung Rom, in der Aula unserer Schule, am Eingang des Postamts und des Rathauses, in allen drei Bars auf dem Hauptplatz, an der Tür des Freizeitzentrums in der Via delle Rose, wo Jung und Alt die Wochenenden verbrachten - sogar dort. Der Ekel angesichts des gespielten Mitleids von Bekannten, Schulkameradinnen, Lehrern. Mit gesenktem Blick liefen wir an Oma Immas Hand durch die Straßen, das Herz vor Kummer zusammengeschnürt, stumm.
Nur abends redeten wir, kurz vor dem Einschlafen.
"Was denkst du, wo sie ist, Maddi?"
"Weit weg, glaube ich. Aber du wirst sehen, Mama kommt wieder, das weiß ich."
"Wie kannst du dir da sicher sein?"
"Wenn sie tot wäre, würden wir es spüren. Dann gäbe es Zeichen."
"Was denn für Zeichen?"
"Na, Zeichen eben, so was wie magische Vorzeichen. Aber schlaf jetzt, Nina, und denk nicht drüber nach."
"Kann ich nicht."
"Versuch es. Zähl die Perlen der Kette."
"Welche Kette?"
"Irgendeine Kette, die du dir vorstellen kannst: zum Beispiel so eine wie die korallenrote von Mama."
"Aber wenn ich an die Kette denke, muss ich auch an sie denken."
"Stimmt. Du hast Recht."
Ich achtete auf unsere Worte, auf Ninas und meine: auf jedes Wort. Die Verantwortung, vor allem sie zu beschützen, lastete schwer auf mir; sie war meine kleine Schwester, irgendetwas im Kopf befahl mir, ihr eine Erklärung für das absurde Leben zu liefern, das wir seit Tagen führten. Ihre Verbindung zur Welt war ich, so dachte ich. Ihre Festung. Falls Mama nicht mehr zurückkam, sagte ich mir, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert war und sie für immer verschwunden blieb, oder wenn sie uns nicht mehr liebhatte und wir ihr nicht mehr wichtig waren, dann würde eben ich die Mutter sein müssen. Die Mutter von Nina und von mir selbst. Entsetzliche Fantasien, wagemutig in der Art jenes Wagemuts, der nur aus der Verzweiflung erwächst.

Gloria meldete sich am Donnerstag, knapp eine Woche nach dem Freitag, an dem sie verschwunden war. Sie rief abends an, während wir gerade aßen. Kurz zuvor hatte ich gespürt, dass ich nicht genug Luft bekam und kämpfte nun gegen einen beginnenden Asthmaanfall an - einen Anfall, der sich nach dem Telefonat auf wundersame Weise entschloss, mich zu verschonen. "Mama schickt euch viele Küsse", teilte Seba uns eilig mit, als er sich wieder zu Tisch setzte. "Es ist alles in Ordnung, sie konnte eben nicht lange telefonieren, aber sie ruft euch in den nächsten Tagen mal gegen Abend an."
"In den nächsten Tagen . und wann genau?", fragte Nina, schon damals eine Meisterin darin, Ärger und Verbitterung hinter Sarkasmus und Schmeicheleien zu verbergen.
"Wo bist du, Mama? Und was, bitte schön, hindert dich daran, uns am Telefon Hallo zu sagen?", dachte ich währenddessen. Der Asthmaanfall, der mich verschont hatte, war der Beklemmung gewichen. Ein Kloß im Hals, das Pollo alla diavola auf dem Teller eiskalt inzwischen. Nina fing an zu weinen, ich gleich darauf; beim Versuch uns zu trösten offenbarte Imma, unsere Großmutter, ihre völlige Untauglichkeit. Seba war wieder aufgestanden und rauchte nun am halboffenen Fenster, ohne auf die Kälte der Winternacht zu achten, jeder tiefe Zug an der Zigarette ließ Aushöhlungen wie kleine Abgründe in den Wangen entstehen. Vom Tisch aus, an dem ich noch immer saß, beobachtete ich ihn, wie er den langsam emporsteigenden Ringen aus Rauch nachsah, die ins eisige Dunkel entschwebten. Ein gebrochener Mann.
Die Angst, die uns während der vergangenen Woche daran gehindert hatte zu leben, hatte sich mit einem Mal in Luft aufgelöst, war verschwunden, ein Sandsack, der mit einem deutlichen dumpfen Plumps zu Boden fällt. Gloria war am Leben, war gesund und munter. Unsere heißgeliebte Mama. Alles gar nicht so schlimm, sie war einfach nur fortgegangen, mehr nicht: von zu Hause geflohen, ihrem Zuhause, weg von ihrer Familie. Und Seba ungläubig, blind gegenüber unserem Schmerz, der auch ein Ende, einen Schlussstrich markierte. Mama ging es gut, wir würden sie wiedersehen. Es gab keine Vermissten oder Verletzten, keine unerträglichen Verluste, die es zu akzeptieren galt. Ein Albtraum ging zu Ende, doch der Zerfall ging weiter, beschleunigte sich, Glorias Aufbruch ohne Vorwarnung war nur ein erstes Signal. Eine Mauer hatte zu bröckeln begonnen und würde nicht wieder damit aufhören. Was gerade zerfiel, war unser Vertrauen in die Erwachsenen.
Tags darauf auf dem Weg zur Schule die Erleichterung, an keiner Wand mehr dieses verdammte Foto kleben zu sehen. Seba hatte wohl im Morgengrauen sämtliche Kopien heruntergerissen, mit welch bitterem Trost auch immer im Herzen.
"Siehst du noch irgendwo das Foto, Maddi?"
"Nein, es ist weg, sie sind alle weg, Nina, beruhig dich." Jetzt wird alles wieder echt, hätte ich ihr gern gesagt: zerrüttet, aber präsent, aus Fleisch und Blut. Fleisch und Blut: Ja genau, das war es, wonach wir suchten. Anwesenheit, Beständigkeit, Echtheit dessen, was existiert, was da ist. Mit solchen Sicherheiten hätte ich meiner Schwester gern ein Gefühl der Geborgenheit geschenkt und konnte es doch nicht, weil Glorias allgegenwärtige Liebe von nun an anders sein würde, distanzierter, weniger greifbar, und es war, als wüsste ich das bereits.
"Kindchen, du wirst sehen, bald renkt sich alles wieder ein", hörte ich die Lehrerin mit gedämpfter Stimme zu mir sagen, als ich gerade das Klassenzimmer verlassen und zu den anderen Schülern in den Pausenhof gehen wollte. Ich zuckte mit den Schultern, blieb stumm; ich wusste, dass nichts davon der Wahrheit entsprach, dass keine Besserung für uns in Sicht war. Glorias Flucht war nur der Anfang, die Dinge würden sich noch mehr verkomplizieren. Doch wie auch immer, unsere Mutter war nicht tot, sie war nicht entführt worden, es hatte sich keine Tragödie ereignet: Das empfand ich als eine Art Rettung, vergleichbar mit jener, wenn sich das Asthma anschlich, um mir die Lunge zuzuschnüren, sie zu erschüttern, zusammenzupressen, und mir dann doch wie durch ein Wunder die Tortur eines neuerlichen Anfalls erspart blieb.
"Liebe Mama, dir ist nichts Schlimmes passiert. Danke, lieber Gott." Im Bett, vor dem Einschlafen, sprach ich flüsternd, damit Nina nichts hörte, an Gloria gewandt meine leisen und geheimen Gebete. Erleichterung und Dankbarkeit in mir; in Nina Wut, Splitter eines feindseligen Schmerzes. "Keine Mama würde ihre Kinder einfach so zurücklassen, Maddi. Mama ist gemeiner als die von Hänsel und Gretel", wisperte sie. Und nach einer Pause: "Ich glaube, das werde ich ihr nie verzeihen, nur dass du's weißt, Maddalena." Nina und ihre unwiderruflichen Urteile. Worte wie Fausthiebe in die Magengrube, Wutausbrüche, die durch den Spalt zwischen unserem Stockbett und der Wand hinunterglitten.

In unserer Wohnung in Monteverde hatte ich ein eigenes Zimmer und konnte mit Gloria, mit jenem Foto von ihr mit uns beiden am Ufer des Nemisees sprechen, wann immer mir danach war. Inzwischen versetzte mir Mamas Bild keinen Stich mehr, mir drehte sich nicht mehr der Magen um, wenn ich an sie dachte, noch schlug es mir auf die Lunge. Einzig Leere, Abwesenheit jetzt. Wir sahen Gloria mittlerweile wieder, durften sie sehen - an zwei Sonntagen im Monat, wie der Vormundschaftsrichter festgelegt hatte. Auf irrlichternde und unnatürliche Art war unsere Mutter wieder bei uns: abwesend und anwesend zugleich. Ein Meteor, eine Erscheinung; und später, wenn sie wieder ging, unangefochtene Königin unserer Gedanken.
"Gute Nacht, Mami." "Hallo Gloria, schönste Mama der Welt; du kannst stolz auf mich sein, ich bin stark, du solltest mal sehen, wie ich es schaffe nie zu weinen." Sie waren meine Welt, diese abendlichen Zwiegespräche mit dem Foto: Rettungsanker in der Strömung des Schicksals, um den Faden nicht reißen zu lassen, der jedes unserer Treffen mit dem nächsten verband. Mit Mamas Foto zu sprechen, bedeutete diesen Faden zu spannen: auf dass er unsere zersplitterten - und seltenen - Glücksmomente zusammenhalten möge.
Brennend vor Ungeduld wartete ich auf das nächste Treffen. Pflichtbewusst, diszipliniert, hervorragend in der Schule - zu den sonntäglichen Treffen mit Gloria brachte ich meine Hefte mit, zeigte ihr stolz die perfekte Ordnung, freute mich über ihr Lob. Sie hieß alles mit einem hastigen breiten Lächeln gut: als wollte sie sagen, wir müssen uns beeilen, schnell, die Uhr tickt, lasst uns jeden Moment ausnutzen, leben, wertschätzen, als Ersatz für die Zeit, die uns gestohlen wurde.



Wenn es mich nun so sehr nach Rom zurückzieht, dann vor allem deshalb, um bestimmte Orte wiederzusehen, manche mehr noch als andere. Den Stadtteil Monteverde und die Straße, in der unsere Wohnung lag, die Via di Villa Pamphili; den angrenzenden Park; die Via dei Quattro Venti, dort, wo sie breiter wird und sich Ninas und meine ehemalige Schule befindet. Aber auch die Straßen im Zentrum, durch die wir mit unserem Vater und unserer Mutter spazierten (entweder mit dem einen oder mit der anderen, niemals mit beiden zusammen.) Die Via del Governo Vecchio, dort, wo sie in die Piazza di Pasquino mündet. Den Palazzo Taverna, auf einer Anhöhe gelegen, versteckt und magisch, Kies zwischen den uralten Mauern, Moos im Schatten der Springbrunnen, ein Ort, an den ich als Jugendliche mein Herz verlor und den ich häufig zum Ziel meiner einsamen Spaziergängen nahm. Die Piazza Santa Maria Liberatrice im Viertel Testaccio, wo Mylène manchmal sonntags mit uns zum Eisessen ging, im Stechschritt folgten wir ihr über den Fluss, sie gab das Tempo vor und trieb uns an. Und die Via Borgogna, wo Mama arbeitete, viele Jahre lang.
Der Wunsch nach Rom zu fahren ist unvermutet aufgetaucht; warum gerade jetzt und warum mit dieser Dringlichkeit, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall ist es ein echter Wunsch, glasklar, der aus meinen Gedanken heraussticht wie eine Gestalt mit scharfen Konturen auf einem ansonsten völlig verschwommenen Foto. Nun, da Gloria tot ist, nun, da sie uns plötzlich verlassen hat und dieses Mal wirklich, läuft unsere zerplatzte Kindheit Gefahr, sich in Nichts aufzulösen; es gibt keine Beweise mehr, dass sie tatsächlich existiert hat, die Szenerie hat sich verändert, Nina, ich, Seba, auch Mylène, wir alle leben mittlerweile woanders. Nach Rom zu fahren bedeutet, die Erinnerungen wachzuhalten, zu verhindern, dass sie verblassen.
"Hör auf, dich zu quälen, Maddi", würde Nina sagen, wenn ich sie in meine Reisepläne einweihen würde. "Was willst du da? Was vorbei ist, ist vorbei. Lass endlich los!" Klar doch: Im Gegensatz zu mir ist sie in der Lage einen klaren Schnitt zu machen. Durch jahrelange fernöstliche Meditation hat sie sich im "Loslassen" geübt, zu dem sie aufgrund ihres Naturells schon immer tendierte. Sie hat mit Vittoria gebrochen, mit Petra, mit Rebecca - ihren besten Freundinnen aus Rom. Sie hat mit unzähligen anderen Leuten gebrochen, und immer ohne Nachwehen. Ihr Ungestüm und ihre jähzornige Ader verwandeln sich jedes Mal in lupenreine Gesten: Radikale Schlussstriche, plötzliche Abkehr, stets ohne Wiederversöhnung, ohne Bedauern. Sollte sie wirklich Schluss machen mit Brian, wie sie mir am Telefon verkündet hat, würde es mich nicht wundern, wenn sie ihr Leben wieder einmal völlig umkrempelt und Brooklyn, New York, die Vereinigten Staaten verlässt. Wo ich zu langsam bin, ist Nina blitzschnell. Sie ist kompromisslos, während ich Zeit zu gewinnen versuche, abwäge, lieber keine Entscheidung treffe als eine falsche und mich aus Angst zu übertreiben immer zügle.
"Halt, überstürz nichts!": Unzählige Male habe ich das schon zu Nina gesagt und möchte es ihr auch jetzt wieder sagen. Alles mit der Ruhe, komm runter; sei gnädig, gib den anderen eine Chance, richte dich auch mal nach ihrem Rhythmus. Aber als ob Nina je auf mich hören würde: Schon wieder meilenweit entfernt, rennt sie voraus. Sie rennt jeden Tag, weil sie eine begeisterte Joggerin ist, und genauso rennt sie durchs Leben, bei all ihren Entscheidungen und Taten.



Papa, Großmutter: bruchstückhafte Präsenzen als Notlösung für die einzige echte Abwesenheit - die von Gloria, unserer Mutter. Wir wurden zur Schule gebracht und wieder abgeholt, wurden betreut, ernährt, beaufsichtigt, wenngleich auf etwas oberflächliche Art. Ich hatte zugenommen, Nina hatte Gewicht verloren. Sie brachten uns zu einem Ernährungsberater in Ariccia, einem alten Herrn mit weißem Schnurrbart und jovialem Lächeln. "Die Frage ist nicht, wie viel die Mädchen essen oder nicht essen. Es geht eher darum, ob man ihnen die Möglichkeit gibt, sich frei auszudrücken, und wie viel an Unausgesprochenem sie über das Essen kompensieren", hörte ich ihn zu Papa sagen, der, verunsichert durch diese avantgardistische Diagnose, den Arzt einfach nur anstarrte, ohne ein Wort herauszubringen.
Papa ist Hochzeitsfotograf. Damals arbeitete er bereits viel und gut, er machte hervorragende Bilder, zügig, ohne die Frischvermählten zu lange hinzuhalten, die es nicht abwarten konnten, ihr Glück verewigt zu sehen. Eine Anlaufzeit von ein paar Jahren, bis er sein Ziel erreicht hatte: Seba war zu einem der gefragtesten Fotografen nicht nur bei Hochzeiten in den Castelli Romani, sondern auch in Rom selbst geworden. Dann der Durchbruch: Sein Name begann sich in ganz Italien zu verbreiten.
Als wir noch zusammenwohnten, nahm er uns mit in sein Studio, wenn er mit einem Auftrag besonders zufrieden war, um uns seine Arbeit zu zeigen. Er wollte unsere Meinung hören, sagte, das gebe ihm Kraft. Momente, die Nina und ich über alles liebten. Das Studio befand sich im Dachgeschoss des Hauses in Genzano, um es zu erreichen, mussten wir eine Sprossenleiter hinaufklettern - schon der Aufstieg machte uns ganz aufgeregt, kündete von kurz bevorstehendem Vergnügen. Oben saßen wir dann zwischen Lampen, Stativen und Flaschen mit Lösungsmitteln auf dem Boden und sahen uns die Dias an, die Papa eines nach dem anderen auf die Wand projizierte, indem er auf den "Abzug" einer Fernbedienung drückte (die just die Form einer Pistole hatte.) "Das da!", riefen Nina oder ich im Befehlston und zeigten mit dem Finger auf die Wand, wenn ein Bild unser Interesse weckte. Dann "schoss" Seba erneut mit der Fernbedienung und zoomte in das Bild, damit unser aufmerksamer Blick die Details erfassen konnte. Wir registrierten alles: Die Freude der Brautleute, die Erschöpfung hinter dem glücklichen Anschein. Die strahlenden Mienen der Ehefrauen, die leicht überforderten der Männer. Die prächtigen Kleider der Gäste (wir schlossen Wetten ab, ob sie extra für diesen Anlass gekauft worden waren oder nicht, ob man viel oder wenig dafür gezahlt hatte.) Eine echte Schule der Aufmerksamkeit für uns: beide von Mal zu Mal besser darin, sich nichts entgehen zu lassen, treffsicher die Freude und Begeisterung dieser Fremden anhand von Mimik, Blicken, Körperhaltungen zu entschlüsseln.
Papas Einfälle waren originell, auch poetisch. Er machte immer ein Gruppenportrait der Schwiegereltern (sofern alle noch lebten); außerdem Aufnahmen von Braut und Bräutigam neben dem jeweils ältesten und jüngsten Gast. Kreative fotografische Perlen, die ihm im Lauf der Zeit zu Ruhm verhalfen. Dank Mund-zu-Mund-Propaganda und Sebas Talent, sich zu vermarkten, ließ der berufliche Erfolg nicht lange auf sich warten. Der bis dahin unbekannte Seba Cavallari bekam mit einem Mal pausenlos Einladungen, Aufträge, Angebote.
Zu den glücklichsten Erinnerungen aus der Zeit, in der wir nur mit ihm lebten (ich meine das beständige Zusammenleben, nicht das sporadische der späteren Jahre) zählen jene Momente in seinem Studio unter dem Dach. Momente der Teilnahme, jedoch durchdrungen von unserer Traurigkeit. Die Freude, die wir auf Sebas Fotografien beobachten konnten, blieb uns verwehrt: ein unerreichbares, weil unbekanntes Ziel. Zwei Leben, zwei Schicksale zu vereinen, in der Überzeugung, sie für immer aneinander zu binden: Freuden dieser Art würden Nina und mir nie zuteilwerden, so dachten wir damals.
Ja, Familie war etwas für die anderen, nicht für uns. Auch Seba hatte nichts mit der Festlichkeit dieser Feiern zu tun: Er war kein Teilnehmer, nur ein Zeuge, um alles zu verewigen - jemand, der das Glück sehen, wiedergeben kann, gerade weil er nicht dazugehört, weil er nur ein Zaungast ist. Diese Gipfel des Glücks einzufangen und in Bilder zu verwandeln, das war Papas Job. Die Feiern waren für ihn nichts anderes als die Gelegenheit, etwas Anerkennung einzuheimsen - das eine oder andere Lob, unzählige "Dankeschön" und zufriedene Lächeln der Fotografierten, kostenlose Erfrischungen - sowie eine Möglichkeit, seine Visitenkarten an die Gäste zu verteilen, in der Hoffnung auf weitere Gelegenheiten, auf weitere Hochzeiten zum Fotografieren. Das war alles: Die Zukunft der frisch Vermählten ging ihn nichts an, ihn nicht und uns noch weniger. Familie - als Projekt, Konzept, Ideal, Anfang und Ende - war uns fremd, etwas, von dem wir nie Teil sein würden. Eine sanfte, vielleicht köstliche Brise, die andere umwehte, während wir aus der Ferne zusehen mussten.
"Kommt sie wieder zurück? Wohnt sie dann wieder hier bei uns?"
"Sie kommt nicht wieder".
"Und woher willst du das wissen?"
"Mama hat sich in einen andern Mann verliebt, Nina. In den Mann vom Spielplatz neulich, weißt du noch?"
"Und warum?"
"Weil., weil sie Papa nicht genug vertraut hat."
Nina sah mich lange an, ohne etwas zu sagen. Ein melancholischer Schleier hatte sich über die sonst so strahlenden, grünen Augen gelegt und ihnen den Glanz genommen. Diese Bombe platzen zu lassen, erfüllte mich mit tyrannischer Genugtuung: So hart es gewesen war, die Wahrheit zu begreifen, so sehr erleichterte es mich nun, sie in ihrer ganzen Tragweite mit meiner Schwester zu teilen - dunkel und rachsüchtig, aber befreiend.
Was tatsächlich los war, hatte ich mir anhand von Details zusammengereimt: Informationsschnipsel, die ich wie Puzzleteile im Kopf zusammenfügte. Erstes Detail: die Bekanntschaft mit Marcos ("dem Mann vom Spielplatz"), seine Aufmerksamkeit gegenüber Gloria. Zweites Detail: ein Gespräch zwischen Papa und Oma Imma, belauscht aus meinem Versteck hinter der Wohnzimmertür in der Wohnung in Genzano.
"Sie liebt ihn. genau das hat sie gesagt, dass sie sich verliebt hat", sagte Seba.
"Mein Gott, was für eine Schlange", hörte ich Oma antworten. "Eine Viper. Aber du, Sebastiano, du warst auch wirklich blauäugig!"
"Die Mädchen kann sie sich jedenfalls abschminken, das schwöre ich dir, Mama"
"Na hoffentlich! Das wäre ja noch schöner. Ich habe dich von Anfang an gewarnt, weißt du noch? Schon am ersten Tag, als du sie mitgebracht hast, hab ich sie sofort durchschaut, deine Gloria. Dieser hinterhältige Blick, von einer Ausländerin, die genau weiß, wie sie ihre neue Umwelt ausnutzen kann, und die es unbedingt zu was bringen will. Es war klar, dass sie dir nach kurzer Zeit Scherereien machen würde, diese Schlampe".
Das letzte Wort kannte ich nicht, aber das tat nichts zur Sache, denn ich flüchtete bereits in unser Zimmer, wo Nina schon im Halbschlaf im Bett lag. Schnurstracks schlüpfte ich in meines, zog die Decke bis über die Nase und rollte mich zusammen, mit rasselndem Atem, die Augen fest geschlossen, um nichts mehr zu sehen, es reichte, Ende und aus.
Einige Zeit später wurde Oma beerdigt und wir durften nicht dabei sein. Ich hatte mich bereits an jenem Abend von Imma verabschiedet, als ich ihre Schimpftirade belauschte. Schlampe? Niemand durfte es wagen, meine Mutter zu beleidigen, sie zu beschimpfen. Absolut niemand.

"Erzähl mir, wie sie waren", bat mich Nina einmal, als wir schon in Rom wohnten. Unser Altersunterschied ist minimal, kaum mehr als ein Jahr, trotzdem war (und bin) ich in ihren Augen als Erstgeborene die Hüterin unserer Erinnerungen.
"Wie sie als Paar waren, meinst du? Sie haben vor allem gestritten..."
"Dann erzähl mir, wie sie gestritten haben".
Sonntag, Licht über einem bereits frühlingshaften Rom, hie und da zartrosa Schleier an einem so blauen Himmel, dass es ein Genuss für die Augen ist.
Wir hatten die Liegestühle aufgebaut und genossen auf dem Balkon das herrliche Wetter. Es war ziemlich warm, Nina trug kurze Hosen und ein T-Shirt, bereit für den Sport, ich war in einen Kimono gehüllt (Seba war kurz zuvor in Japan gewesen und hatte uns beiden einen mitgebracht, Ninas war rot mit einem Blumenmuster, meiner weiß mit dunkelblauen Rauten.) Vor uns erstreckte sich die endlose Weite der Villa Pamphili, ein prächtiger, leuchtender Teppich in changierendem Grün. Bilder aus der Vergangenheit stiegen in mir hoch, bruchstückhaft, aber gestochen scharf. Tatsächlich erinnerte ich mich nur an zwei Auseinandersetzungen zwischen Seba und Gloria. Der erste Streit hatte im Auto stattgefunden, als wir von den Castelli über die Via Appia nach Rom fuhren. Seba am Steuer, neben ihm Gloria, die ihm feindselig den Rücken zukehrte und nach draußen schaute, die Stirn gegen die Fensterscheibe gedrückt. Über einem schwarzen Rollkragenpullover trug sie an jenem Tag eine beige Kunstpelzjacke, dazu glänzende, in die Stiefel gesteckte Leggins. Immer elegant, unsere Mama, ihr Äußeres duldete schon damals keine Nachlässigkeit, es gab nicht das kleinste Detail, das je den Gesamteindruck gestört hätte. Durch den Spalt zwischen Sitz und Fenster sah ich, wie sie sich auf die Lippen biss, um nicht zu weinen, völlig verkrampft in dieser verdrehten Position, immer mehr in ihrem Zorn gefangen. Seba hatte angefangen zu schreien, immer wieder nahm er die Hände vom Lenkrad und fuchtelte wütend durch die Luft. Er warf Gloria eine Reihe (aus seiner Sicht) inakzeptabler Fehltritte vor: Mamas angeblich schroffe Begrüßung einiger Bekannter, die sie am Sonntag zuvor am See getroffen hatten, ihr Fernbleiben von den Elternabenden, "Alle haben deine Abwesenheit bemerkt, du verstehst schon, was 'alle' heißt? Todos.", und einige schnippische Antworten, die sie seiner Mutter Imma gegeben hatte, "die bis zum Beweis des Gegenteils deine Schwiegermutter ist, auch wenn du und ich nicht verheiratet sind, ist sie trotzdem ein Mensch, der dir mehr als nahe steht. oder irre ich mich? Tu me entiendes o estoy equivocado?" Papa beherrschte zu Ehren von Glorias argentinischer Herkunft ein paar Brocken Spanisch, aber diesen spärlichen Wortschatz benutze er nur, wenn er - wie jetzt - wütend war und sie provozieren wollte.
Im Auto hallte jedes Wort wider. Neben mir auf der Rückbank saßen Nina und ihre Angst, die Panik, mit der sie am Schnuller nuckelte (für den sie eigentlich schon zu alt war) und darauf herumbiss, als wollte sie ihn verschlingen. Ihre Sorge pulsierte wie ein schlagendes Herz, eine dritte Präsenz zwischen uns auf der Rückbank, die gemeinsam mit uns zuhörte, wie unser Vater unsere Mutter anschrie und ihr Vorwürfe machte. So unklar mir die Bedeutung der Worte blieb, so klar konnte ich gewisse Strömungen spüren. Das Gift in Sebas Worten und den Schmerz von Gloria, die inzwischen die Fassung verloren hatte und lautlos weinte, bloß ein leichtes Beben der Schulter, ansonsten sorgsam darauf bedacht, dass wir hinter ihr möglichst nichts davon mitbekamen.
"Wie furchtbar! Mir wird ganz anders, wenn ich mir das vorstelle. Ob du es glaubst oder nicht, Maddi, ich kann mich an nichts erinnere, findest du das nicht auch komisch?" Nina ging kurz in die Küche und kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei große Gläser Cola mit Zitronenscheiben und bunten Strohhalmen standen, die Eiswürfel klirrten auf dem Weg zu mir. "Und dann? Erzähl weiter, bitte", bat sie mich, nachdem sie das Tablett auf dem Boden abgestellt und es sich mit untergeschlagenen Beinen (nackt und muskulös unterhalb der Shorts) in der Korbschaukel gemütlich gemacht hatte.
"Und dann, Maddi? Komm schon." Gierig nach Bildern aus einer für sie allzu fernen Zeit, meine Schwester, und doch konnte ich in diesem Moment kaum glauben, dass sie alles vergessen hatte.
"Wie 'und dann'? Der zweite Streit, meinst du?"
"Ja".
"Der war echt heftig! Wir waren gerade beim Essen, es war Samstagabend und wir durften länger aufbleiben als sonst. Wir konnten uns nicht darauf einigen, welchen Film wir anschauen wollten; eine kindische Auseinandersetzung, absolut banal, die innerhalb weniger Minuten völlig verblasste neben ihrem Streit."
".einem schlimmen, wieder einmal."
"Richtig schlimm. Diesmal wurden sie sogar handgreiflich."
"Ernsthaft? Sie haben sich echt geschlagen?"
Nina stand abermals auf, um etwas zu trinken zu holen, mit energischem Schwung, der die Schaukelkette quietschen und ächzen ließ. Anstrengend, die Erinnerungslücken meiner Schwester füllen zu müssen. An diesem Rollenspiel teilzunehmen, bei dem immer nur Nina das Recht auf Vergessen hat.
"Papa hat den Arm gehoben, um Gloria eine runterzuhauen", fuhr ich fort, "aber sie war schnell genug, um dem Schlag auszuweichen und in den Flur zu flüchten. Und von dort schrie sie ihn an, beschimpfte ihn aufs Übelste! 'Du bist doch total durchgeknallt, Seba, durchgeknallt, du siehst Gespenster. es ist nicht so, wie du sagst. wie auch? Lass mich, lass mich in Ruhe, du dreckiger Lügner!'"
"Schrecklich.", meinte Nina, während sie langsam schaukelte und zur Villa Pamphili hinübersah, auf der Suche nach Frieden. Auch mir wäre es lieber gewesen, ich hätte mich nicht mehr an diese Bilder erinnert, düsterer noch an diesem herrlichen Vormittag auf unserem Balkon, wo bis ins kleinste Detail Harmonie herrschte - das Himmelblau der Bleiwurz, die Mylène in große quadratische Blumentöpfe gepflanzt hatte, in perfektem Einklang mit dem Violett des Blauregens, der sich an der Pergola emporrankte.
". dann ist er ihr in den Flur nachgegangen und hat sich auf sie gestürzt, hat sie an den Haaren gepackt, daran gerissen."
Inzwischen schrien beide, außer sich vor Wut. Sie waren so unterschiedlich und doch so gleich im Eifer des Gefechts, dachte ich noch, bevor sich mein ohnehin schon keuchender Atem zu einem schweren Asthmaanfall auswuchs. Unterschiedlich wie Tag und Nacht, auch vom Körperbau her: Gloria schmächtig, schlank, entwurzelt, ein Schilfrohr, das sich in der Raserei der Selbstverteidigung bog; Papa kleiner als sie, aber um einiges stärker, ein einziges, pulsierendes Nervenbündel, während er Mama mit einer Wut packte, die ihm ungeahnte Kräfte verlieh, sein Blick erschrocken und zornerfüllt zugleich.
Das Ventolin: den Deckel abreißen, das kurze Ende in den Mund stecken, sofort einen Spraystoß auslösen, um Sauerstoff zu bekommen. Gloria war inzwischen an meiner Seite, noch immer aufgewühlt von dem Streit mit Papa, aber sie unterstützte mich trotzdem, indem sie mich auf die Stirn küsste und mir mit Zeige- und Mittelfinger sanft die Schläfen massierte. Auch Nina war da: ein Strom warmer Energie, die Gegenwart sowohl meiner Mutter als auch meiner Schwester, diese strömende Liebe, die uns drei verband, untrennbar. "Ganz ruhig, mein Schatz", hörte ich Mama sagen, "Tief durch den Mund einatmen, Maddi, ja, genau so, sehr gut. Keine Angst, es ist gleich vorbei."
"Erinnerst du dich denn nicht einmal mehr an meinen Asthmaanfall damals, Nina?" Ich nahm einen großen Schluck von meiner Cola und schaute in die Ferne, dorthin, wo sich der Himmel und die Umrisse der Bäume zu einer Linie verbanden. Eine kurze Ablenkung von diesen schmerzhaften Erinnerungen, tückisch wie Dornen.
"Doch, irgendwie schon, allerdings nur als verworrenes Bild: du, wie du keuchst, das Asthmaspray. Aber es ist alles verschwommen."
Wir versanken in Schweigen; vor uns der Park der Villa Pamphili, von oben betrachtet bildeten die Pinien eine einzige große Fläche aus unterschiedlichsten Grüntönen. Wunderschön. Kurz darauf brachen wir auf, Nina ging zum Training, ich setzte mich ans Klavier. Wir führten jetzt getrennte Leben, meine Schwester traf sich mit ihren zahlreichen Freundinnen (zu vielen aus meiner Sicht), ich hatte nur eine einzige, die Mauretta Gigli hieß und zwei Blocks von uns entfernt wohnte. Hin und wieder bereitete mir meine Menschenfeindlichkeit Sorge: Wenn es mir nicht gelang, die Gesellschaft anderer zu ertragen, war das ein Problem, ein Fallstrick, der mir die Zukunft verbauen würde, sagte ich mir. Aber ich kam damit klar, ein wenig hatte ich auch gelernt, mir selbst zu verzeihen. Mittlerweile verlief unser Leben in ruhigen Bahnen, ohne Erschütterungen, ein gemächliches Verstreichen der Zeit innerhalb der von Mylène aufgebauten Routine; wenn ich gelernt hatte, nachsichtiger mit mir selbst zu sein, dann nicht zuletzt dank dieses tröstlichen Rhythmus aus Gewohnheiten.
Erinnerungsblitze. Nach dem erbitterten Streit zwischen Seba und Gloria an jenem Samstagabend hatte sich Schweigen über das Haus gelegt. Wir waren aneinandergeschmiegt eingeschlafen, in Ninas Bett, völlig erschöpft. Mein Atem immer noch rau, der meiner Schwester ruhig. Aufruhr im Herzen, bei ihr wie bei mir; Bestürzung und Fassungslosigkeit wegen der Szene, deren Zeugen wir gerade geworden waren. Die Beziehung unserer Eltern war dabei, in die Brüche zu gehen, nach diesem Abend konnten wir nicht mehr so tun, als wüssten wir das nicht.Manchmal träumte ich davon wegzulaufen. Mich jeder Verantwortung zu entziehen, die ich mir selbst auferlegt hatte, ein anderes Leben zu erfinden, eine andere Maddalena, weit weg. Zu sehr vom Leben anderer - vor allem von Ninas - abgelenkt, vernachlässigte ich meines. Ich war mir dessen bewusst und daher gestattete ich mir ab und zu den Gedanken an Flucht. Ich dachte nicht an die Zukunft, hegte keine Ambitionen. Meine einzige Freundin, Mauretta Gigli, träumte davon, Anwältin zu werden, Nina wollte Regisseurin werden, Rebecca Tierärztin, Petra Floristin und Vittoria Köchin. Ich nichts, ich hatte nicht die leiseste Idee. Nachdem Mylène schon einige Zeit bei uns war und ich sie viel beobachtet hatte, sagte ich mir, dass ich später, wenn ich groß war, ihre Ausgeglichenheit haben wollte, diese innere Ruhe, mit der sie die Tage meisterte. Einmal war Nina während der Osterferien mit Seba in Rom geblieben und ich war mit Mylène nach Frankreich gefahren, aufs Land, in die Nähe von Nantes, zu ihren Eltern. Nur ein paar Tage, um die andere Maddalena in mir kennenzulernen und ihr zuzuhören, die mit dem dickeren Panzer, tief in sich selbst ruhend, ohne sich von anderen aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Dass ein Leben im Ausland die Lösung sein würde, muss ich wohl während dieser Reise mit Mylène erkannt haben. Eine Idee, die ich gleich wieder verwarf und die erst viel später Form annehmen sollte. "Ich seh dich als Schulleiterin", sagte Rebecca, die Freundin meiner Schwester, einmal zu mir. Wir waren in der Küche, sie machten Slime. In einer Schüssel mischten sie Mehl und Waschmittel und sahen dann zu, wie die hellblaue Glibbermasse aufging und Blasen schlug. "Schulleiterin? Wieso das denn?", fragte ich, während ich mich abmühte, die mit Spritzern und Schlieren ihrer ekligen Pampe übersäte Arbeitsfläche mit einem nassen Schwamm zu putzen.
"Weil deine Schwester Recht hat", erwiderte sie, "Mit deiner verhuschten, scheinheiligen Art versuchst du doch ständig, alles und jeden zu kontrollieren, Maddalena." Nina nickte, zufrieden und überrascht über die unerwartete Solidaritätsbekundung. Ich floh auf den Balkon. Der Himmel war milchig, schmutzig weiß, die Stadt laut, müde. Ein Ausweg. Das war es, was fehlte.

Gloria war zwanzig gewesen, als sie Seba Cavallari begegnete. Sie lernten sich in einem Hotel kennen, in dem gerade eine Hochzeit gefeiert wurde - mein Vater war der Fotograf, meine Mutter arbeitete dort als Rezeptionistin. Sie standen zufälligerweise nebeneinander, als das erste Mal auf das Brautpaar angestoßen wurde. Ihre Schönheit muss Seba getroffen haben wie der Blitz. Natürlich weiß ich nicht genau, wie sich alles zwischen ihnen entwickelt hat; aber ich habe viel darüber nachgedacht und glaube, dass es mehr oder weniger so gewesen ist - so habe ich es mir zumindest zusammengereimt. Sie muss ihn beeindruckt haben, diese junge Frau, bildhübsch trotz des billigen beigen Kostüms aus Viskose, der Uniform der Hotelangestellten. Für ihn war der Tag der reinste Stress: Die Familie der Braut war vermögend, sie hatte "mindestens" dreihundert Fotos verlangt und Papa hastete unablässig zwischen den Feiernden hin und her. Irgendwann begann ihn der Hunger zu plagen, ein richtiges Loch im Magen, das es ihm unmöglich machte, sich zu konzentrieren. "Du kannst mir nicht vielleicht helfen, was zu beißen zu finden, oder?", fragte er Gloria. Sie war sofort ins Untergeschoss gegangen, in die Küchenräume. Sie wusste genau, wo alles war, stellte in Windeseile ein Mahl zusammen; mit einem Tablett voller Speisen vom Hochzeitmenü kehrte sie nach oben zurück - Lachsravioli, Braten mit Avocado-Mousse, eine Biskuittorte mit Waldfrüchten. "Du bist ein Engel, danke. Hast du Lust, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten?" Also setzten sie sich in die Kammer hinter der Rezeption, wo Gloria und ihre Kollegen für gewöhnlich während der Pause ihr mitgebrachtes Essen verzehrten.
"Du siehst nicht wie eine Italienerin aus. woher kommst du?"
Meine Mutter lachte, das dämmrige Licht half ihr, die Röte zu verbergen, die ihr wegen der als Kompliment verstandenen Frage ins Gesicht stieg. "Ich bin mit meinen Eltern nach Rom gezogen, als ich sieben war; davor haben wir in Argentinien gewohnt."
"Und wo genau in Argentinien?"
"In einem kleinen Dorf in der Nähe von Rosario. Mein Vater hat beim Zoll gearbeitet, ein Kollege hat ihm von einer Stelle in Rom erzählt." An diesem Punkt stockte sie, über sich selbst zu sprechen, war ihr unangenehm. "Und du bist hier aus der Gegend?"
"Aber ja, ich bin quasi Römer! Aus den Castelli Romani, aus Genzano." Und Seba hatte laut aufgelacht, zufrieden mit sich und der Welt wegen des köstlichen Essens, das er in Gesellschaft der bildhübschen Frau genießen durfte.
"Hilfst du mir auch, ein Glas Champagner zu finden?"
Alles schnell, ungezwungen: natürlich. Plaudern, Gefallen aneinander finden, Nummern austauschen. Zusammen in eine Pizzeria gehen, sich zum Abschied küssen, beim nächsten Treffen miteinander schlafen. Seba verliebte sich rettungslos. Glorias auffälligste Wesenszüge hatte er bereits erkannt - wie hypersensibel sie war, wie fordernd in ihrer übersteigerten Empfindsamkeit: hinter der beherrschten Fassade widersprüchlichen Stimmungsschwankungen ausgeliefert, derselbe schwierige Charakter, den sie meiner Schwester vererbt hat. Andererseits war da ihre Präsenz, so dicht, substanziell. Eine Körperlichkeit, die ihn verrückt machte, Glorias Beine, lang und seidenweich, Sprungbretter in eine nie gekannte Leidenschaft. Das Grün der Augen, heller und wässriger, wenn sie sich geliebt hatten. Sie besänftigte ihn, erfüllte ihn. Selbst ihre Ruhelosigkeit war befriedigend; sie waren erst kurz ein Paar, und schon wollte Seba mit ihr zusammenleben.

Ich wurde in Venedig gezeugt, während eines verlängerten Wochenendes an Allerheiligen. Seba und Gloria hatten dort einen Zwischenstopp gemacht, nachdem mein Vater am Samstag bei einer Luxushochzeit in Chioggia als Fotograf gearbeitet hatte. Es war ein kurzer und sehr romantischer Aufenthalt in einer kleinen Pension bei Campo Santa Margherita - so hat mir meine Mutter erzählt, als ich noch klein, aber bereits in der Lage war, ihren Erinnerungen gebannt zu lauschen und die Wehmut, die Ambivalenz gewisser Sehnsüchte zu erfassen. Ich war kein Wunschkind, doch meine Eltern haben sich von Anfang an auf mich gefreut, alle beide, das hat sie mir versichert. Ich kam im Sommer zur Welt, an einem heißen Julinachmittag. Die Wehen dauerten lange, es war keine einfache Geburt. Mein Arm hatte sich verbogen, der Ellenbogen verhinderte ein Vorankommen. Um einen möglichen Schlüsselbeinbruch zu verhindern, versuchten sie mich auf die Seite zu drehen. Unzählige Male; als die Presswehen kamen, war Gloria am Ende ihrer Kräfte, und die ersten Wochen meines Lebens kosteten sie noch mehr Energie. Sie war jung, gesund, mit viel Milch: aber ausgelaugt.
Vierzehn Monate später kam Nina. Wegen der schwierigen Erfahrungen der letzten Geburt rieten der Gynäkologe und die Hebamme zu einem Kaiserschnitt. Alles einfach und schnell dieses Mal. Dafür hatte Mama weniger Milch, sie stillte Nina nur vier Monate. Die Geburt dieser zweiten Tochter, ein glückliches Ereignis, das ihre Beziehung eigentlich hätte festigen sollen, hat, glaube ich, zwischen Gloria und Seba, wie bei vielen Paaren der Fall, den tiefen Graben eines unwiderruflichen Missverständnisses aufgerissen. Ein für beide immer leidvolleres Spiel der Täuschungen begann. Sie lebten zusammen, wurden sich aber mit jedem Tag, der verging, deutlicher bewusst, dass sie nicht füreinander geschaffen, dass sie nicht kompatibel waren; nach und nach merkten sie, dass sie einen dramatischen Fehler begangen hatten, indem sie sich so sehr aneinander gebunden hatten. Das war es, das Missverständnis, dieses riesige Missverständnis, dessen Früchte wir waren, ich mehr noch als Nina: Sie war wenigstens gewollt, ich bin durch Zufall entstanden - durch eine unbedachte glückliche, aber zufällige Fügung.
Sie lebten nicht mehr in Rom, sondern in Genzano. Eine kleine Welt, die Gloria schon bald als engherzig, klatschsüchtig, missgünstig empfand. Seba ließ sie oft allein, war tagelang fort, weil er nun auch auf Hochzeiten im Norden fotografierte. Aus einem ersten Kontakt mit einer Cateringfirma für Hochzeiten, die in der Lombardei und im Piemont tätig war, hatte sich schon bald eine enge Kooperation entwickelt. Er war viel auf Reisen und, wenn er nicht arbeitete und zu Hause war, langweilte er sich und wurde ganz zappelig; er erfand Vorwände, um nach Rom zu fahren, wo er den ganzen Tag verbrachte. Erst spät am Abend kehrte er zurück, müde, schweigsam, mürrisch. Zappte sich kurz durch die Programm, um etwas Passendes zu finden, ein paar Minuten nur und schon fielen ihm die Augen zu. "Komm schon, Seba, ab ins Bett, du bist doch hundemüde, merkst du das denn nicht?" Ich sehe Gloria vor mir, wie sie ihn jedes Mal nicht allzu sanft mit diesen Worten wachrüttelte. Wir waren schon eine Weile im Bett; in der Totenstille der Wohnung, allein vor dem laufenden Fernseher sitzend, vernahm Gloria, wie in ihrem Inneren die Einsamkeit wuchs, die Schwermut, eine unduldsame und vergiftete Trägheit. Mit jedem Tag fühlte sie sich zerbrechlicher, deplatzierter; gleichzeitig kam sie sich wegen ihrer Fremdheit ausgeschlossen vor, nicht von Seba akzeptiert, nicht von seiner Mutter, nicht von diesem Genzano, das zu eng war, um auch nur einen ihrer Wünsche zu erfüllen.
Nach Ninas Geburt zogen sich die Tage für Mama noch mehr in die Länge, wurden noch unerträglicher. Vor allem die Vormittage müssen endlos gewesen sein: Sie ging in eine kleine Grünanlage in Genzano, setzte sich auf eine Bank und hatte schon bald einen lahmen Arm vom ständigen Schaukeln des Doppelkinderwagens, in dem Nina und ich saßen. Sie versuchte die Zeit totzuschlagen, indem sie in Frauenzeitschriften blätterte oder hartnäckig zum x-ten Mal La donna di gesso aufschlug, einen Roman, den sie vor Monaten am Bahnhof Termini gekauft und zu lesen begonnen hatte, ohne ihn je zu beenden. Sie langweilte sich zu Tode: Und das Schlimmste war, dass sie es wusste, dass sie sich vollkommen im Klaren darüber war.
Ab und zu ließ sie uns bei unserer Großmutter und fuhr nach Albano, zum Nemisee. Ich kann sie beinahe vor mir sehen, wie sie das Auto auf dem Schotterplatz nahe am Wasser parkt und dann zügigen Schritts am Ufer entlangmarschiert, tief durchatmend, den Blick auf den viel zu nahen Horizont des gegenüberliegenden Ufers geheftet. Alles engte sie ein, innerlich wie äußerlich. "Ich habe mehr verdient", muss sich meine Mutter während dieser von Verbitterung erfüllten Spaziergänge gesagt haben. Sie verdiente mehr, jawohl: mehr Freiraum, mehr Freiheit, mehr Glück. Weite Räume, nicht die Enge dieser Landschaft, in der sie lebte, ohne es jemals gewollt zu haben. Sie liebte Seba nicht, inzwischen war ihr, als hätte sie ihn nie geliebt. Und während sie so dachte, spürte sie noch mehr, wie ihr die Luft wegblieb.

"Kann ich dich anrufen?"
"Ja, in zwanzig Minuten."
Zwei WhatsApp-Nachrichten, um ein Telefonat zu verabreden. Schnell einig, wir beide, immer. Ich gehe nach unten, das scheint mir sicherer: Valentina, meine Tochter, ist schon von der Schule zurück und tigert unschlüssig durch die Wohnung, und wenn sie sich langweilt, steckt sie ihre Nase gern in meine Angelegenheiten, plötzlich hochinteressiert an meinem Leben, das ihr ansonsten völlig egal ist. Besser unter einem Vorwand nach draußen gehen - ich muss frei mit meiner Schwester reden können, ohne das Risiko, belauscht zu werden. Also verstecke ich das Handy unter meiner Strickjacke und gehe hinunter in die cour, den Innenhof des Hauses, ein Dreieck zwischen grauen Wänden, viele Pflanzen in Blumentöpfen, Lichttupfer auf Blättern und Blüten an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag.
"Brian geht es schlecht, Maddi. Richtig schlecht; er erträgt den Gedanken nicht, dass ich ihn verlasse."
"Tja. das war zu erwarten. Du glaubst doch nicht wirklich, dass immer nur du entscheiden kannst, wann und wie alles vorbei ist. Eine Beziehung lässt sich nicht mit einem sauberen Schnitt beenden, nur weil du ihr den Rücken kehrst." Ich gehe streng mit ihr ins Gericht, merke ich, aber ich bin Brian aufrichtig zugetan, ich habe ihn wirklich ins Herz geschlossen, wie ich angesichts der Situation gerade feststelle. Er muss sich furchtbar fühlen, auf diese Art abserviert worden zu sein - irgendwie muss ich Nina meine Bestürzung signalisieren. Brian tut mir leid und ich möchte, dass sie das weiß.
"Es geht ihm schlecht, Maddi, wirklich, es ist beängstigend; er erinnert mich an Papa, wenn er nach Rom kam und derart geknickt war, dass ich seine Gegenwart nicht mehr ertrug. Heute hat er sogar angefangen zu weinen, als wir miteinander geredet haben. Wir waren in einem Pub, du weißt schon, dieses Lokal auf der Montagne Street, gegenüber der Galerie."
Ich weiß es nicht, nein. Ich möchte Nina sagen, dass es zerstörerisch ist, jemanden auf diese Weise zu verlassen, urplötzlich, ohne Erklärung - fast (wenn auch nicht ganz) so vernichtend wie die Geste unserer Mutter, als sie wegging und sich eine Woche lang nicht bei uns meldete. Ich möchte sie wachrütteln, damit sie erkennt, was für ein guter Mann Brian ist, tausendmal besser als alle andern, die sie getroffen hat, wer weiß, ob sie jemals wieder einen wie ihn kennenlernen wird. In ihrem Alter sollte sie eigentlich gelernt haben, sich in andere hineinzuversetzen: Situationen und Menschen zu verstehen, geduldiger und mitfühlender zu sein.
All das möchte ich ihr sagen, aber ich schweige. "Warst du heute schon laufen?", frage ich stattdessen. "Du musst auf dich achtgeben, Nina; das ist das Beste, was man in schwierigen Momenten tun kann. Erinnerst du dich noch, was Mylène immer gesagt hat? Viel Leid, viel Sport."
Wir lachen, jede in einem anderen Eck der Welt und einander doch so nah, dank des Einklangs, der sich immer wieder zu erneuern, sich über jede Entfernung hinweg zu regenerieren vermag. "Aber ja doch, als ob ich irgendwann nicht laufen gehen würde. Meine vierzig Minuten im Prospect Park nimmt mir niemand, keine Angst, Maddi. Selbst wenn die Welt untergeht, darauf verzichte ich nicht."
Während ich die Treppe ins fünfte Stockwerk hinaufsteige, spüre ich im Ärmel meiner Strickjacke mehrfach hintereinander das Vibrieren eingehender Nachrichten, Aufmerksamkeit heischende Kommunikationssalven, in kurzen Abständen abgefeuert. Ich scrolle durch meinen WhatsApp-Verlauf, ehe ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Ein Jogger-Emoji, lila und grüne Herzchen, betende Hände. Ich lächle; wenigstens den einen oder andern Fortschritt hat Nina gemacht, früher wäre sie nie dazu in der Lage gewesen, ihre Dramen derart zusammenzufassen - auf solch ironische Weise. Ich antworte ihr mit einem Herz, einem feuerroten. Vale spielt gerade auf dem Klavier My funny Valentine, "ihr" Lied. Ich setze mich zu einem vierhändigen Stück neben sie, einer dieser Momente, die nur uns beiden gehören, in denen wir auf einmal Lichtjahre von unseren andauernden nervtötenden Streitereien entfernt sind. Doch selbst, als ich Klavier spiele und später beim Abendessen mit meinen Kindern lache und mich mit Pierre über etwas ganz anderes unterhalte, lässt mich der Gedanke an meine Schwester nicht los.
Marcos war der Cousin von Angela, Glorias Amme in Pérez, jenem nur wenige Kilometer von Rosario entfernten Vorort aus niedrigen Häusern und Wellblechhütten, wo Mama zur Welt kam. Meine Großmutter konnte ihr Kind nicht selbst stillen und übertrug diese Aufgabe daher jener Frau. Der Kontakt zwischen Gloria und Angela riss niemals ab, nicht einmal, als meine Mutter mit ihren Eltern nach Italien zog. Dann, eines Tages, traf ein Brief von Angela in Genzano ein. Einer ihrer Cousins, stand darin, werde für einen Monat nach Rom kommen, sie bat Gloria, sich mit ihm zu treffen, unter anderem, weil er Geschenke für uns dabeihabe.
Wie oft habe ich mir das Aufblühen dieser Liebe meiner Mutter ausgemalt, genau wie zuvor die Begegnung von Gloria und Seba.
"Natürlich treffe ich mich mit ihm, sehr gern sogar!", hatte Mama in ihrem Antwortbrief nach Pérez geschrieben. Gedankenlos hingeworfene Worte, beflügelt von einem seltsamen ahnungsvollen Enthusiasmus. Als Angelas Cousin sie schließlich anrief, nannte sie ihm als Treffpunkt den Largo di Torre Argentina, vor dem Theater. Zwei Argentinier, die sich an einem Platz namens Largo Argentina trafen: Später, als sie den Zufall bemerkte, hatte sie gelächelt. Wir blieben in Genzano bei Imma, unserer Großmutter. Gloria sah Rom nach fast einem Jahr zum ersten Mal wieder. Sie stieg am Bahnhof Termini aus dem Bus, begann loszulaufen. Alles erschien ihr wunderschön. Es war September, die Sonne tauchte die Fassaden der Häuser in goldenes Licht. Ja, alles, was sie sah, war glänzend, glänzend und verloren: Ihr Leben in Rom kam ihr endlos weit entfernt vor, unerreichbar, und der Weg bis zum Largo Argentina war ein melancholisches Wechselbad der Gefühle, glückliche Erinnerungen, überschattet von einem leisen Schmerz, für den es keine Medizin gab.
"Hallo."
"Selber Hallo." Sie musste lachen über diese Antwort, doch mehr noch als seine Worte war es er selbst, dieser junge Mann, der sie mit seiner Fröhlichkeit ansteckte. Schüchtern, Augen schwarz wie Kohlen, so dunkel, wie sie Gloria noch nie gesehen hatte.
An diesem Tag war meine Mutter mit Marcos zuerst zum Forum Romanum gegangen, danach auf die Terrazza del Pincio. Eine perfekte Fremdenführerin: Sie kannte sämtliche Straßen, Winkel, Gassen, Kuriositäten, Abkürzungen. Ihr Spanisch war nicht besonders gut, deshalb redeten sie nicht viel miteinander, aber sie genossen die gemeinsame Zeit, amüsierten sich über ihre kuriosen Dialoge. "Schau, hier gab es früher unglaublich viele Katzen", sagte Gloria zu ihm und zeigte auf das Viereck der antiken Ruinen in der Mitte des Largo Argentina, "später hat man sie verjagt, weil sie alles verdreckt haben." Er runzelte die Brauen (sie waren dicht, schwarz), "no entiendo", murmelte er verwirrt, um den Mund gleich darauf zu einem breiten Lächeln zu verziehen, das den Blick auf perfekte perlweiße Zähne freigab.
"Katzen. Miau!" Wild gestikulierend fuchtelte Gloria mit den Armen, spreizte Zeige- und Mittelfinger zu einem "V" und hielt die Hände an den Kopf, um Katzenohren zu imitieren. Sie wiegte sich sogar in den Hüften, als würde sie einen imaginären Schwanz bewegen, und die Anmut und Sinnlichkeit, mit der sie mit dem Hintern wackelte, veranlasste viele Passanten dazu sich umzudrehen - der Po meiner Mutter wie der von Nina: sensationell.
Marcos brach in schallendes Gelächter aus: "Ah! Gatos! Yo sabia pero no estaba cierto!" Er hatte es sich gedacht, war sich jedoch nicht sicher gewesen. Ihn so ausgelassen zu sehen, machte Gloria glücklich, ließ sie eine unbändige mädchenhafte Freude verspüren, den ersten Hauch von Unbeschwertheit nach wer weiß wie langer Zeit. Ein erster Funken der Verliebtheit war in eben jenem Moment übergesprungen, als sie lachte und nicht mehr aufhören konnte ihn anzusehen, sich im Schwarz seiner Augen zu verlieren.
Sie trafen sich am folgenden Nachmittag wieder und dann so oft wie möglich in den Tagen darauf. Um ihre häufige Abwesenheit zu rechtfertigen, benutzte Gloria unserer Großmutter gegenüber dieselben Ausrede wie zuvor bei Seba am Telefon (Seba war gerade in Mailand, wo er an einem Prospekt für die Cateringfirma arbeitete). Sie habe, sagte Gloria, einen Job als Fremdenführerin gefunden und werde für ein paar Tage eine Bekannte vertreten, die in Mutterschaftsurlaub gehe.
"Was, bitte, weißt du denn von Rom und seiner Geschichte?", hatte Seba leicht abschätzig gefragt. Er wollte sie verletzen, aber das war ihr egal; Mamas Ausrede war im Übrigen nicht einmal gänzlich unwahr, schließlich führte sie in diesen Tagen tatsächlich einen Fremden durch die Stadt, und war dabei auch noch ganz fantastisch.
"Ruinas", "parque", "puesta del sol", "bilette": Marcos brachte Gloria neue Wörter auf Spanisch bei. Begriffe, die sie als Kind bestimmt gehört, dann aber vergessen hatte, und die sie jetzt sofort wieder lernte und voller Begeisterung wiederholte. Splitter ihrer Muttersprache, die sie selbst gestammelt schon glücklich machten.
Zu einem dieser Treffen nahm Gloria uns mit. Es war ein Samstagnachmittag, sie hatten sich in der Grünanlage bei der Piazza Re di Roma auf der Via Appia verabredet. Schon als ich Marcos von Weitem sah, ahnte ich, dass es sich um ihn handeln musste. "Ein Freund kommt vorbei, um euch hallo zu sagen", hatte Mama zu uns gesagt, als wir im Bus nach Rom saßen. "Er kann kein Italienisch", hatte sie hinzugefügt, während sie sich in einem winzigen Taschenspiegel betrachtete und sich die Wimpern tuschte, "er ist sehr nett, ich wünsche mir von euch, dass auch ihr nett zu ihm seid, nett und höflich."
Ich fand Marcos schön, er hatte etwas an sich, das mir merkwürdig vertraut vorkam. Er trug Jeans und eine schwarze Jacke aus weichem Leder, die ihm locker auf den Schultern saß. Jung, energiegeladen: Mir fielen sofort die dichten Augenbrauen auf sowie ein bitterer oder (schwer zu sagen) vielleicht auch trauriger Zug um den Mund, auf jeden Fall aber ein Ausdruck von Erfahrung, von allzu frühen Begegnungen mit der Realität. Schnell abgespeicherte Eindrücke, bevor Nina mit einer ihrer typischen Trotzreaktionen, denen stets ein bis zur Perfektion einstudiertes hysterisches Getue voranging, alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst begann sie zu lächeln, dann laut zu lachen, immer schriller. Mir zog sie an den Haaren, Mama am Mantel, sie klammerte sich an uns, wollte um jeden Preis, dass wir uns um sie kümmerten. Dann entwischte sie auf den Spielplatz, wo sie sich schnurstracks auf einen kleinen Junge stürzte, der neben der Schaukel saß, und ihm seine Kekse entriss. "Was machst du denn da, Nina, du tust ihm doch weh, siehst du das denn nicht?", schrie Mama und zerrte sie weg. Die Mutter des Jungen war herbeigeeilt, Gloria, völlig fassungslos, entschuldigte sich zigmal. Marcos verfolgte die Szene als stiller Beobachter, abseits hinter einer Bank stehend; mit seiner dunklen Lederjacke und dem unrasierten Gesicht wirkte er wie ein Biker, der gerade eine Pause macht. Schüchtern aus Respekt: Glorias Leben als Mutter ging ihn nichts an und diese passende Distanz, die er an jenem Tag wahrte, sollte er stets beibehalten. Bei diesem ersten Treffen spürte ich seine Charakterstärke; vielleicht eine gewisse Introvertiertheit, Verschlossenheit anderen gegenüber, aber in Bezug auf Mama ein Gefühl echter, rückhaltloser Hingabe. Wir waren noch eine Weile in der Anlage geblieben. Nachdem Nina sich endlich beruhigt hatte, sausten wir wieder und wieder eine Rutsche hinunter, ein verrostetes rotes Ungetüm am Rand des Spielplatzes. Aufgeregtes ängstliches Kreischen, abwärts auf der Metallbahn mit angezogenen Beinen, hochgeschnellt vom rauen Linoleum, gleich wieder ab nach hinten, das Ganze von vorn. Als nächstes auf zur Schaukel - Nina fiel herunter und schlug sich das Knie auf, ihre gellenden Schreie ließen eine ernste Verletzung befürchten. Es war nur ein Kratzer, aber sie blutete, und Mama wollte los, um ein Desinfektionsmittel zu kaufen. Ich beobachtete Marcos, wie er, unbeeindruckt von den finsteren Blicken, die Nina ihm zwischen ihren Schluchzern zuwarf, Gloria am Arm zurückhielt, ihr liebevoll über die Wange strich und ihr einige unverständliche Worte auf Spanisch zuraunte. Er werde in die Apotheke gehen, sagte er ihr wohl, er sei gleich wieder da, sie solle mit uns Mädchen warten, Nina beruhigen und sich keine Sorgen machen. Welch unendliche Dankbarkeit ich in Mamas Augen leuchten sah: Sie vertraute diesem Mann tatsächlich, folgte seinem Ruf. Die Liebe, die zwischen den beiden strömte, spürte ich schon bei diesem ersten Treffen überdeutlich.
Einige Wochen später verließ sie Genzano, unsere Wohnung, uns. Ich hätte es mir denken können, an jenem Tag auf dem Spielplatz, dass Marcos ihr die Kraft schenken würde zu gehen. Denn Marcos war für Mama ein Hafen, damals und später. Ihre Wurzel in Form neuer Flügel. Zurückkehren, anlegen. Heimkommen. Kurz nach ihrer Flucht von zu Hause brach Gloria mit ihm zu einer sechsmonatigen Reise nach Argentinien auf.
Papa hatte entschieden, dass wir nicht bei Omas Beerdigung dabei sein sollten. Den Vormittag der Trauerfeier verbrachten Nina und ich zu Hause, beaufsichtigt von einem Mädchen aus Genzano. Auch wenn es sich "nicht gehörte", hatten wir an jenem Tag unbändige Lust zu spielen. Unsere Aufpasserin erkannte das, sie war gut darin, uns zu beschäftigen, ohne dabei den Ernst der Lage zu vergessen. Später, wir auf dem Boden, konzentriert am Malen auf mit Tesafilm festgeklebten Blättern, meinte sie, weil wir verschlossen, schweigsam, extrem schüchtern wirkten: "Meine Güte, Kinder, warum macht ihr nicht einfach, was ihr wollt? Ihr seid frei." Sie war blutjung, beinahe selbst noch ein Kind: Über uns, über unsere Verlorenheit wegen dieses unerwarteten Verlusts, über unser aus den Fugen geratenes Leben, das nun noch schlimmer zu werden drohte, wusste sie bestimmt kaum etwas und war wohl auch kaum in der Lage, etwas davon zu verstehen. Dennoch erreichte sie ihr Ziel: uns Selbstbewusstsein einzuflößen, uns einen Weg der Selbstbestimmung aufzuzeigen. Sich einen Panzer zulegen, einen Carapax: Darum ging es, wir waren zwar noch klein, dennoch mussten wir genau das lernen. Unsere anormale Situation ertragen wie eine seltsame körperliche Eigenheit, mit derselben stolzen Unerschütterlichkeit.
An jenem Tag lernten wir Sebas Verwandte kennen, Cousins ersten oder zweiten Grades, angereist zu Immas Beerdigung. Einer aus Mailand, uralt, gebrechlich, gramgebeugt. Die anderen aus dem Umland von Ferrara, wo sie alle auf benachbarten Grundstücken wohnten, die aus der Zerstückelung eines großen bäuerlichen Anwesens entstanden waren. Imma war ihre wohlhabendste Verwandte gewesen, die Einzige, die eine gute Partie gemacht hatte (Michele Cavallari, Berufssoldat und unser Großvater). Nun kampierten diese Cousins in unserem Wohnzimmer, befangen und aufdringlich zugleich mit ihrer verlogenen Höflichkeit Papa gegenüber, der sich vor Verlegenheit wand. "Was wollen die? Warum lassen die uns nicht einfach in Ruhe?", zischte Nina wütend (es klang eher wie eine Verwünschung als eine Frage), während wir gemeinsam aufs Klo gingen. Ich nahm sie an der Hand, um sie zu beruhigen, und ließ nicht mehr los, nicht einmal, als sie pinkelte. Zerbrechlich, allzu ausgesetzt, wir beide. Die Verwandten tranken noch einen Kaffee, bevor sie sich von uns mit zerstreutem Lächeln und von Papa mit scheelen Blicken verabschiedeten, aus denen Mitleid mit Seba, dem Sohn Immas, sowie Missbilligung und Befremden über Seba, den Ehemann und Vater, sprach - wie konnte man nur zulassen, dass die Mutter der eigenen Kinder auf diese Weise verschwand?
Dieselbe Babysitterin kam wieder und passte nachmittags und oft auch nachts auf uns auf. Papa war nur abends zu Hause, an den Wochenenden fast nie, weil er so viele Aufträge hatte. Als gäbe es niemanden mehr; nur noch uns beide, Nina und mich, verloren in einer unbekannten endlosen Leere. Es konnte kaum noch schlimmer werden.
Zermürbt von einem Übermaß an Ereignissen lebten Nina und ich in ständiger Alarmbereitschaft. Das Asthma machte mir zu schaffen, ich versuchte so gut wie möglich dagegen anzukämpfen und drohende Anfälle zu unterdrücken. Entnervt, wie wir waren, stritten wir ständig. Wenn sie besonders aufgebracht war, begann Nina zu brüllen. "Warum ist bei uns alles so absurd?", wollte sie von mir wissen, aber wie bei jeder anderen Form des Selbstmitleids war mir klar, dass diese Frage eigentlich unseren Eltern galt. "Haben wir etwa darum gebeten, allein zu sein, darum, nicht zusammen Abend zu essen, keine Sonntagsessen oder Familienurlaube zu haben wie alle anderen? Sag, haben wir das? Erklär's mir, Maddi, bitte, im Ernst, erklär's mir, denn ich versteh's einfach nicht." Vor Wut und Kummer knetete sie die Hände, knirschte mit den Zähnen, fing plötzlich an zu weinen, um die Tränen gleich darauf mit einer brüsken Geste wegzuwischen. Eines Abends, noch in Genzano, waren wir allein im Wohnzimmer, Oma war erst seit Kurzem tot, seit knapp einem Monat. Bleierne Stille in der ganzen Wohnung, die in jedem Zimmer widerhallte. Mit einem Mal brach Nina, die schon seit einiger Zeit finster vor sich hingestarrt hatte, ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus und begann schluchzend, die von Imma genähten Vorhänge aus violettem Seidenorganza von der Stange zu reißen. Sie grub die Nägel in den Stoff und zerfetzte ihn, während die aus den Haken gerissenen, ausgefransten Bahnen zu schlaffen lila Häufchen herabsanken, für immer ruiniert. "Was machst du denn da, Nina, du spinnst doch." Schwierig, sie in diesem Zustand allein zu lassen, nach oben zu gehen, um die Babysitterin zu holen. "Kannst du bitte mal runterkommen, meine Schwester dreht gerade durch."
Wir zahlten einen zu hohen Preis, wir beide allein.
"Sieh nur, was passiert ist, Maddi, und zwar in so kurzer Zeit.", meinte Nina eines Morgens zu mir, während wir uns für die Schule fertig machten. Sie sah von den Schuhen auf, die sie gerade band, richtete die unerbittlichen grünen Augen auf mich, eine strenge Mahnung, ihr recht zu geben, alles andere, jede Beschäftigung, ruhen zu lassen, um ihren Gedanken zu folgen.
"Was soll passiert sein?" Die Naive spielen hieß für mich Ruhe bewahren.
"Bis zu dem Tag, als Mama weggegangen ist, waren wir eine Familie. Und jetzt."
"Jetzt.?"
"Jetzt sind wir Waisen, ohne welche zu sein."
Sie hatte recht, genau so war es. Unserer gesamten Situation haftete etwas Übertriebenes, Maßloses an. Seit Gloria gegangen war, schleppten wir uns praktisch durch eine Wüste, verloren in einer endlosen Weite aus verbrannter Erde, halb verdurstet, unsere Allianz als einzige Wasserreserve.
"Ich fände es ehrlich gesagt viel besser, wenn wir allein leben würden", vertraute sie mir ein andermal auf dem Nachhauseweg von der Schule an, auf einem autofreien Straßenabschnitt, auf dem wir nebeneinander laufen konnten. Es war starker Regen angesagt, wir trugen bunte Gummistiefel, die bei jedem Schritt lustig quietschten. Am Abend zuvor hatte sich die Babysitterin furchtbar aufgeregt, weil wir uns nicht selbstständig die Haare bürsten konnten, "das werde ich Signor Seba sagen, wenn ihr so weitermacht, dann komm ich nicht mehr, und dann wollen wir doch mal sehen, wie er alles unter einen Hut bekommt", hatte sie voller kalter, grausamer Wut gedroht. Wir waren ins Bett gegangen, ohne uns gute Nacht zu sagen, jede mit pochendem, zugeschnürtem Herz, jede mit der Last ihrer Sorge.
"Klar sind wir noch klein, Maddi, ich weiß; aber schau, auf uns selbst aufzupassen ist ganz einfach zu lernen. Und alles wäre besser, da bin ich mir sicher. Das Leben wäre schöner und leichter, mehr unseres."
"Papa bemüht sich immerhin, da zu sein, das musst du ihm schon lassen, Nina."
"Das verstehst du unter da sein? So sieht für dich Anwesenheit aus?"
Absurde Gespräche, genauso übertrieben, maßlos wie die Situation selbst. Es war an uns, nicht in Tränen auszubrechen, uns nicht zu bemitleiden, nicht den Kummer siegen zu lassen. Ich redete mit mir selbst und wiederholte dieselben Worte dann vor Nina. Ich war die Festung, die große Schwester, der es zufiel, dem Abnormen den Anschein von Normalität zu geben. Doch in Wahrheit strauchelte auch ich, vielleicht mehr noch als sie.
Durch den schmalen Spalt zwischen Bett und Wand huschten jeden Abend unsere Stimmen.
"Wer entscheidet eigentlich unseren Rhythmus, Maddi?"
"Die Großen natürlich."
"Die Großen.? Hier gibt's doch gar keine Erwachsenen mehr".
"Und Papa, was ist der, Nina?"
"Papa? Der ist fix und fertig. Sonst nichts, der ist alles andre als groß. Und noch was: Warum hat uns Mama eigentlich noch kein einziges Mal angerufen, seit sie in Argentinien ist?"
"Vielleicht ist es von da, wo sie gerade ist, schwierig zu telefonieren. sie ruft bestimmt bald an, Nina, wart einfach ab. So ist sie eben: Aber sie ist immer da, auch wenn es nicht so aussieht. Jetzt lass uns endlich schlafen. Gute Nacht".
"Nacht, Maddi, schlaf gut. Ich bin froh, dass es dich gibt. Du bist die Große: die einzige Große".
Hätte ich auf meine innere Stimme gehört, wäre ich nach unten geklettert und hätte mich zu Nina ins Bett gelegt; wir wären nebeneinander eingeschlafen, zwei Kieselsteine, eingelullt vom gleichen unsteten Plätschern. Doch ich rührte mich nicht, unter der Bettdecke zusammengekauert, mit dem Gesicht zur Wand, blieb ich liegen und unterhielt mich mit dem Foto von Mama und uns am See. Eine Festung bewegt sich nicht; aufrecht, reglos, nur so würde es mir gelingen, sowohl mir als auch Nina eine Stütze zu sein.Als Ort für seine Ankündigung hatte Seba das Giolitti ausgesucht, das weltweit für sein Eis berühmte Café in Rom. Von der Tiberpromenade, wo er das Auto geparkt hatte, bis zum Pantheon und weiter bis zu unserem Ziel in der Nähe des Montecitorio-Palastes waren wir zu dritt Hand in Hand nebeneinander hergegangen, mit ihm in der Mitte. In völligem Schweigen, Nina und ich schmollend und griesgrämig wie so oft in letzter Zeit - seit alles nur noch Veränderung war, eine Abfolge von Babysitterinnen, Übergaben von Schlüsselbunden und Thermosbehältern mit Mittagessen und Zwischenmahlzeiten, Zeitplanungen und Terminverschiebungen, täglich neu kalibrierten Tagesabläufe. Hinter der mürrischen Fassade jedoch freudig erregt an jenem Sonntagnachmittag: Wenn Seba uns so führte, mit zügigem Schritt und festem, warmem Griff, konnte das nur etwas Gutes bedeuten.
Im großen Saal des Cafés - an diesem Winternachmittag bis auf den letzten Platz besetzt - bestellten wir für mich eine heiße Schokolade mit Sahne, für Nina einen gemischten Eisbecher mit Früchten. Zucker als Vorbeugung gegen das Bittere, das uns gleich darauf völlig unerwartet aufgetischt werden sollte. Papa redete leise, ringsum war es sehr laut und wir konnten ihn kaum verstehen; wir mussten mit den Stühlen ganz nah an den kleinen Tisch heranrücken und ihm von den Lippen ablesen, was er sagte. Er sprach feierlich, ernst mit uns, als wären wir bereits junge Frauen, beinahe erwachsen. Ich trank meine Schokolade hastig, obwohl sie noch kochend heiß war, und verbrannte mir die Zunge; Nina hingegen löffelte ihr Eis in Zeitlupe, während ich zusah, wie es die Rillen des Glasbechers hinunterlief und auf der Papierserviette einen bunten See bildete. Sie trug ihre Gleichgültigkeit mit trotziger Koketterie zur Schau, aber ich wusste - schließlich war sie meine Schwester -, dass ihre Langsamkeit Ausdruck ihrer tiefen Beunruhigung wegen Papas Worten war, der uns umständlich die Sachlage zu erklären versuchte. Oma habe uns eine Erbschaft hinterlassen, sagte er. Ob wir wüssten, was das bedeute. Nein, das wussten wir nicht, "zumindest nicht genau", hatte ich präzisiert, um erwachsen zu wirken. "Das heißt, dass euch ein gewisser Geldbetrag zusteht, nur euch beiden und niemandem sonst; und weil ihr noch klein seid, und ich entscheiden muss, was mit diesem Geld geschehen soll, weil ich ihr Sohn und euer Vater bin."
"Was denn nun.?", drängelte Nina, hinter ihrer Großspurigkeit hochgradig alarmiert.
"Werde ich von dem Geld", fuhr Seba fort, nachdem er einen großen Schluck von seinem Gin Tonic genommen hatte, der zusammen mit unseren Bestellungen gebracht worden war, "eine Wohnung in Rom kaufen. Eine Wohnung für euch. Ich gehe davon aus, dass noch etwas Geld übrigbleiben und davon werde ich jemanden einstellen."
"Wie, jemanden einstellen. und wen?" Wieder war es Nina, die fragte, zunehmend verwirrt.
"Eine passende Person eben, ich hab noch nicht weiter darüber nachgedacht. Aber es wird jemand ganz Tolles sein, versprochen, Kinder."
"Was meinst du mit 'jemand ganz Tolles'?", bohrte meine Schwester nach, während ich nach der Serviette griff und ihr mit mütterlicher Geste das Eis von der Wange tupfte.
"Eine lustige junge Frau, die auf euch aufpasst und mit der ihr viel Spaß haben werdet."
"Musst stets lustig, nie nervös sein": Es war, als hörten wir abermals das Liedchen aus Mary Poppins - Nina und ich hatten den Film vor Kurzem angesehen, ich weiß nicht, ob zum fünften oder zum sechsten Mal.
"Das kapier ich nicht: Warum brauchen wir jemanden, der fest angestellt ist, können nicht einfach die Babysitterinnen kommen wie bisher?" In ihrer Direktheit klang Nina manchmal, als sei sie die Erstgeborene, nicht ich.
Ich überkreuzte die Beine, stellte sie wieder nebeneinander, kratzte mit dem Teelöffel den traurigen Rest, der von meiner heißen Schokolade übrig war, aus der Tasse. Der Saal des Giolitti hatte sich etwas geleert, dennoch herrschte nach wie vor ohrenbetäubender Lärm. Ein Stich zwischen den Rippen ließ mich einen Asthmaanfall befürchten, von dem ich jedoch zum Glück verschont blieb. Wie betäubt saß ich da, schaute Seba an, wie er sich durch das spärliche Haar fuhr, und verfolgte das Pulsieren der Ader auf seiner rechten Schläfe, diesen typischen Tick von ihm, wenn er - wie in diesem Moment - nervös ist. "Ich muss bald wegfahren, um zu arbeiten, Kinder. Aber ich komme jedes Wochenende nach Hause, versprochen; trotzdem müsst ihr wissen, dass ich für eine Weile von Montag bis Freitag in Mailand sein werde."
"Für eine Weile . und wie lang genau, Papa?"
Diesmal ergriff ich das Wort, während ich den bitteren Nachgeschmack der Schokolade loszuwerden versuchte und mich bemühte, meinen keuchenden Atem und mein angsteinflößendes Herzklopfen unter Kontrolle zu halten.
Langes Schweigen. Seba putzte sich die Nase, sah hierhin und dorthin, ließ die Zeit verstreichen, schlürfte, nachdem er das Glas geneigt hatte, um sie zu sammeln, die letzten Tropfen seines Drinks. "Nicht lang, Maddalena: drei, vier, vielleicht sechs Monate. womöglich auch ein bisschen länger, schwer zu sagen im Moment."
Die Wahrheit. Die Wahrheit macht stumm. Als wir aufbrachen, strömten immer noch Gäste ins Giolitti: Scharen von Italienern, aber auch Ausländern, geduldig wartend, bis sie mit ihrer Bestellung an der Reihe waren. Viele Familien - echte Familien, nicht wie unsere. Der Sonntagnachmittag der glücklichen Familien.
Es waren die kürzesten und dunkelsten Tage des Jahres, noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags und draußen war es schon stockfinster; uns war das Fragen vergangen, allen beiden, wir hatten einen Kloß im Hals und ich musste mich schwer beherrschen, um nicht zu explodieren.
"Und Mama?", hatte Nina, noch im Saal des Cafés, gefragt, als wir gerade in unsere Mäntel schlüpften, während Seba zahlte und dem verdutzten Kellner 20.000 Lire Trinkgeld gab.
"Gloria ist bald von ihrer Reise zurück und dann kommt auch sie euch besuchen. nicht mehr lang, Kinder, habt ein bisschen Geduld, das spielt sich schon alles wieder ein, ihr werdet sehen."
Sie kommt euch besuchen. Was sollte das bedeuten, "sie kommt euch besuchen"? Das Ganze war äußerst seltsam; abnorm und doch sonnenklar. Wir würden eine eigene Wohnung haben, einen Ort für uns ohne unsere Eltern. Wir würden Jahre im Voraus volljährig sein. In der Obhut einer Kinderfrau, um den Schein zu wahren, in Wirklichkeit aber verlassen. Waisen, ohne welche zu sein.
Sonnenklar; von Sonne indes keine Spur. Stattdessen Winterdunkel. Wir gingen auf demselben Weg zum Auto zurück, den wir gekommen waren, doch unsere Laune hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Keine Erwartungen, kein Licht am Horizont. Nina sagte kein Wort, trottete an der Hand von Papa neben ihm her, mied meinen Blick. Ich konzentrierte mich angestrengt auf das Kopfsteinpflaster am Boden, um nicht zu stolpern, die Wolle meiner Strumpfhose kratzte an den Beinen, die Kälte stach mir trotz des Schals ins Gesicht. Ich wünschte mir Mama herbei, nur sie; wünschte mir all diese Dinge, all diese Neuigkeiten aus Glorias Mund zu hören, im melodiösen, beruhigenden Klang ihrer Stimme. "Ich vertrau nur dir, Mama", sagte ich im Stillen zu ihr; und auf der gesamten Fahrt nach Genzano wiederholte ich diese Erklärung in Gedanken. Es hatte heftig zu regnen begonnen, die Scheibenwischer wedelten hektisch hin und her, schleuderten kleine Sturzbäche auf die Außenspiegel. Papa schaltete das Radio ein, die Stille im Auto war ihm wohl unerträglich, er wie wir mitgenommen von diesem langen Nachmittag. Kein Kommentar mehr von der Rückbank. Wir waren erschöpft, unser Vorrat an Worten und Reaktionen war verbraucht.
Ich werde dem Giolitti einen Besuch abstatten, wenn ich nach Rom fahre. Es ist ein ganz besonderer Ort, mit dem mich viele Erinnerungen verbinden: nicht nur an den schwierigen Nachmittag mit unserem Vater, sondern auch an gemeinsame Stunden mit Gloria, mit Mylène. Einmal waren Nina und ich auch allein im Giolitti. Wir wollten auf meine kurz bevorstehende Abreise nach Paris anstoßen; glücklich über diesen gemeinsamen Moment ließen wir uns die gute Laune nicht durch das schummrige Licht und die altertümliche Atmosphäre des Saals verderben. "Gute Reise, Schwesterherz", sagte Nina und sah mir tief in die Augen, ihre schimmerten in leuchtendem Grün. Ich nickte gedankenverloren; der Punkt war, ob wir es ohneeinander aushalten würden - dieser Zweifel schwebte über unserem Prosit.
Ich werde wieder in Rom sein und die Orte werden anders sein, als ich sie in Erinnerung habe, banaler, nüchterner, weniger magisch. Orte wie abertausend andere auf der Welt, bar eines jeden Echos inzwischen; dennoch, an sie zu denken tröstet und bewegt mich. Zurückkehren und eine Weile dort bleiben zu können, dem Herzschlag der Zeit lauschend.
Papa hat Gloria ihre Flucht niemals verziehen: weder damals noch später. Niemals gab es eine Absolution dafür, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte, verliebt mit einer Intensität, mit der man ein Land liebt, mehr noch als einen Menschen. Ein Land, in dessen Erde die eigenen Wurzeln liegen: Das war Marcos vom ersten Moment an für Gloria. Echo einer Verheißung, Lockruf eines Ortes, dem man sich zugehörig fühlt und das man liebt, noch bevor man es besser kennt. Im Namen einer solchen Liebe wegzugehen, zwei noch kleine Töchter zu verlassen, ihren Vater, den Mann, mit dem man eigentlich ein gemeinsames Leben aufbauen wollte. Allem von jetzt auf gleich den Rücken kehren.
Eine derart heftige Kränkung konnte Seba nicht hinnehmen, geschweige denn entschuldigen: Seine Würde als Mann und Mensch stand auf dem Spiel. Man hätte das Modell vieler getrennter Paare wählen können - die Kinder unter der Woche bei der Mutter, am Wochenende beim Vater. Seba überlegte es sich jedoch anders und fasste einen Entschluss, der viel von Rache hatte: Er verwehrte Gloria echte Nähe zu uns, und zugleich stahl er sich hinsichtlich unserer Betreuung aus der Verantwortung. Mit seiner Entscheidung entzog uns Papa die elementare Basis - die Nähe zur Mutter -, ohne uns im Gegenzug seine Unterstützung als Vater anzubieten.
Gloria ihrerseits gab sich kampflos geschlagen. Ließ alles geschehen. Obwohl die Entscheidungen des Vormundschaftsrichters einen total ungerechten Zustand in Stein meißelten, stimmte sie ihnen zu. Wie konnte sie nur? Wie kann eine Mutter zulassen, dass das Leben ihrer Töchter fern von ihr, in ihrer Abwesenheit stattfindet?
"Wieso macht eine Mutter so was? Sie kann doch nicht.". Immer wieder hörte ich von Nina diesen Satz wie eine immergleiche Leier, eine Litanei, ein Lamento. Ich ließ ihrer Wut freien Lauf. Doch anders als meine Schwester konnte oder wollte ich meiner Verzweiflung keinen Raum geben. Wieso macht eine Mutter so was: Tief im Inneren dachte ich dasselbe, gewiss. Aber genau das war geschehen, so waren die Dinge gelaufen. Und die Wahrheit war, dass für unsere Eltern ein solch anomales Familienmodell - eine "Mädchenwohnung" nur für uns, ohne sie - nicht nur tragbar, sondern mehr noch die einzige Möglichkeit war.
Auch wir kamen zu diesem Schluss, als Mylène bei uns einzog: So absurd diese neue Konstellation auch war, sie würde uns schützen, die Anwesenheit dieser Frau in unserer Wohnung würde uns eine ansonsten undenkbare Normalität garantieren. Dieses neue Leben, dachten wir schon bald, würde uns wieder Gleichgewicht schenken. Maß, Überleben, dort, wo alles andere eingestürzt, zu Bruch gegangen war - ein Scherbenhaufen, der sich nicht mehr kitten ließ.
Tochter von Einwanderern, mittellos, ohne anständige Arbeit: In der ersten Zeit, nachdem sie aus ihrer Ehe ausgebrochen war, bekam Gloria die Folgen ihres neuen Status hautnah zu spüren. "Die Mutter meiner Töchter? Eine psychisch labile Frau", hatte Seba dem Vormundschaftsrichter erklärt und Mama als die alleinige Verantwortliche an dieser familiären Katastrophe hingestellt. Unbesonnen, kindisch, "nicht in der Lage, sich um die Mädchen zu kümmern, glauben Sie mir, Herr Richter, ich übertreibe nicht."
Das ausschlaggebende Kriterium dafür, wer für unsere Betreuung zuständig sein sollte, waren die unterschiedlichen Finanzpolster unserer Eltern. Nicht ihre psychische Verfassung, nicht der Grad ihrer Reife oder ihre Fähigkeit, uns zu lieben, zu versorgen, zu betreuen. Nein, was zählte, war etwas viel Realeres: die Höhe der Einlagen auf dem jeweiligen Bankkonto. Seba Cavallaris Einkünfte als Freiberufler waren zwar unsicher, doch er war Erbe eines ansehnlichen Familienvermögens. Rechnete man zum Immobilienbesitz die Rücklagen seiner verstorbenen Eltern - die Sparguthaben und Geldanlagen von Imma, einst Ministerialbeamtin, und ihrem zehn Jahre zuvor verschiedenen Ehemann Michele, Berufssoldat - hinzu, belief sich Papas Vermögen auf mehr als zwei Milliarden Lire. Eine Summe, angesichts derer die Fragilität seiner beruflichen Lage völlig in den Hintergrund rückte. Was Gloria Recabo betraf, besaß sie praktisch nichts. Der Vormundschaftsrichter entdeckte ein Konto auf Mamas Namen, das zur Zeit meiner Geburt eröffnet und ein Jahr später aufgelöst worden war, und ein zweites, auf dem sich anderthalb Millionen Lire befanden. Sonst nichts. Dem war wenig hinzuzufügen: Unsere Mutter hatte uns eines Morgens im Stich gelassen, nach dem Abschiedskuss vor der Schule. Ein Ausbruch aus der Ehe, der schwer wie Blei wog. Ein mehr als hieb- und stichfester Beweis. Wenn Gloria für uns sorgte, wer garantierte, dass sie nicht wieder wegging? Wer konnte für die Glaubwürdigkeit einer Frau bürgen, die sich verhalten hatte wie sie? Papas Vorschlag - eine Wohnung nur für uns und jemand, der uns rund um die Uhr zur Seite stand - schien auch dem Richter die beste Lösung, und dieses Konstrukt ordnete er auch an, kurz nachdem Gloria von ihrer Reise zurückgekehrt war.

"Hallo Maddalena, hallo Nina. Ich bin heute hier, weil ich euch gern kennenlernen und ein bisschen Zeit mit euch verbringen möchte, heute Vormittag und vielleicht in den nächsten Tagen nochmal. Ich fände es schön, wenn ihr mir helft, herauszufinden, wer ihr seid, was ihr so macht, was eure Lieblingsspiele sind; also euch und die Dinge, die ihr mögt, ein bisschen kennenzulernen."
Ziemlich sympathisch, der Vormundschaftsrichter; ein kleiner Mann, mit kurzem Bart, verkrampftem Lächeln, einem zu schmalen Kiefer. Einnehmend, gut darin, uns bei Laune zu halten - bestimmt hatte er viel mit Kindern zu tun, so wie er mit uns umging, vor allem mit Nina. Er sprach mit stark lombardischem Einschlag, eine Art Miauen, langgezogene Vokale, lustig anzuhören. Er war der erste Erwachsene seit langer Zeit, der uns echte Aufmerksamkeit schenkte; ihm unser tägliches Leben, unsere Gewohnheiten zu offenbaren, machte uns Spaß. Wir wohnten damals noch in dem Haus in Genzano, fröhlich rannten wir zwischen dem Erdgeschoss und den Zimmern im ersten Stock hin und her. Ich zeigte ihm meine Puppensammlung, Nina präsentierte ihm eins nach dem andern ihre Kostüme, selbstgefällig wie nie führte sie eines ihrer Theaterstückchen auf, mit denen es ihr stets gelang, die Erwachsenen zu bezaubern. Durch beifälliges Gemurmel nach jeder ihrer Aufführungen gewann der Richter ihr Vertrauen; gleichzeitig jedoch - wie mir nicht entging - studierte er sie und machte sich in einem Heftchen Notizen, wie schon zuvor bei mir, als ich ihm meine Spiele gezeigt hatte. Nina war völlig aufgekratzt, zog pausenlos Grimassen, machte Knickse, schlug Purzelbäume, sang Sapore di sale und Buonanotte fiorellino, jene Lieder, die uns unsere letzte Babysitterin beigebracht hatte und die wir auswendig konnten, Wort für Wort, hungrig, wie wir waren, nach Emotionen, nach starken Erschütterungen, um die Leere auszufüllen, die Abwesenheiten zu ersetzen. "Il tempo è dei giorni / che passano piiiigri." Ich beobachtete Nina, wie sie den Kopf in den Nacken warf, die Haare schüttelte, wie wir es bei einigen Schauspielerinnen im Fernsehen gesehen hatten. Ich sah sie lachen, sich entziehen, den Richter mit ihrem betörenden Blick umgarnen. Nina, ein kleines Mädchen noch und doch schon weit mehr.
In der Woche darauf besuchte der Richter unsere Schule; ich war es, in Begleitung der Hausmeisterin, die ihn zum Büro der Schuldirektorin bringen und die beiden einander vorstellen durfte. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erfüllte mich mit Stolz, ich fühlte mich erwachsen, wichtig und somit glücklich.
Gloria war inzwischen aus Argentinien zurückgekehrt. Der Richter bestellte sie gemeinsam mit Seba ein, um den beiden die neuen Regelungen unseres Familienlebens zu verkünden. Das Wiedersehen mit Mama würde draußen stattfinden, im Freien. Am Sonntagmorgen, in eben der Grünanlage in Genzano, in die Gloria mit uns gegangen war, als wir noch ganz klein waren, dort, wo sie sich vermutlich furchtbar gelangweilt und einsam gefühlt hatte. Die Grünanlage: ein Flecken spärlicher Wiese am Dorfeingang, nur wenige Meter von der Abzweigung nach Grottaferrata entfernt. Gebüsch, ein paar Hecken, eine Schaukel als einziges Spielgerät. Gloria wartete auf der gleichen Parkbank auf uns, auf der sie seinerzeit voller Überdruss den Kinderwagen geschaukelt und gegen die Langeweile angekämpft hatte. Über einem schwarzen Hosenrock und einem cremeweißen T-Shirt trug sie einen hellgrünen Trenchcoat aus weichfallender Viskose. Die Sonnenbrille verbarg ihren Blick, verriet nicht, wie gerührt sie war; wir wussten es trotzdem, weder Nina noch ich waren überrascht, sie lachen und weinen zu sehen, als sie uns entgegenlief, und zu spüren, wie sie uns fast erstickte mit ihrer Umarmung. "Meine Mädchen, meine Goldschätze." "Mami, es stimmt also, du bist wieder da, wirklich wieder da!" Hände, Liebkosungen: alles hallte, vibrierte. Die Sonne war warm, als sie hinter wattig weißen Wolken hervorkam; der Winter war beinahe vorbei und ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Alle drei eng aneinandergeschmiegt, Küsse über Küsse. "Sie ist es tatsächlich, Mama, sie ist wieder da!!!", flüsterten wir uns gegenseitig zu, ungläubig, aufgeregt. Doch dann, als wäre Nina plötzlich unsere Situation und Mamas endlos langes Verschwinden wieder eingefallen, verfinsterte sich ihre Miene und sie verfiel in mürrisches Schweigen, das nach dem Glück des ersten Moments alles umso schwieriger machte. Als es Zeit war zu gehen, tat uns der Abschied nicht besonders weh. Bei diesem ersten Mal verspürten wir noch keinen Stich im Herz beim Anblick von Gloria, wie sie uns, bereits auf der anderen Straßenseite, mit gespielter Fröhlichkeit zuwinkte und verschanzt hinter dem Schutzschild ihrer Sonnenbrille ihre Trauer verbarg, uns verlassen zu müssen. Später wurde es anders, jeder Abschied ein Schmerz, jede Trennung eine Dosis Verlassenheit mehr. Damals noch nicht. Damals feierten wir nur das Ende der Abwesenheit.

"Erinnerst du dich daran, wie verändert Mama war?", fragte mich Nina eines Nachmittags, als wir beide allein durch Tribeca spazierten. Pierre war in diplomatischer Mission auf einem Forum der Vereinten Nationen in New York, ich hatte in letzter Minute beschlossen, ihn zu begleiten. Eine Hotelbuchung in Downtown, um in der Nähe von Brooklyn und Nina sein zu können: Ich liebe es, gemeinsam mit ihr die Stadt zu erkunden - wir treffen uns in der Früh und laufen durch Manhattan, beschwingt, Block um Block. Kilometerweit spazieren gehen, bis man die Füße nicht mehr spürt, abends völlig fertig, aber glücklich und dankbar für die vibrierende Energie in den Straßen, für den Adrenalinstoß, den einem New York versetzt wie kein anderer Ort der Welt, an dem ich je war.
"Sie hat richtig gestrahlt, damals bei unserem ersten Treffen in Genzano, in dieser Grünanlage. Ich sehe sie noch heute vor mir; derart stolz, eine Löwin." Das Leuchten, das von Mama ausging, nachdem sie von ihrer Reise zurück war: Ich hatte geglaubt, dieses Bild habe sich nur mir unauslöschlich eingeprägt, dabei hat auch Nina dieses Wiedersehen mit Gloria niemals vergessen, sie, die behauptet, sich an fast nichts aus unserer Kindheit zu erinnern. Wir sitzen im Central Park, auf der Seite des Lincoln Centers, in einem großen, bis auf den letzten Platz besetzten Café, mit zwei Tassen Kardamom-Tee, um uns zu stärken und dann weiterzulaufen, weitere Kilometer zurückzulegen. "Eine Löwin, jawohl, die wachsam, königlich ihre Rechte einfordert: So wirkte sie."
"So war sie, Nina", korrigiere ich sie.
Sollten sie uns ruhig trennen, sollte Seba uns ruhig daran hindern, bei Mama zu wohnen; es war nicht wichtig, denn die Strömung, die uns drei - Gloria, Nina und mich - umfing, war ein unaufhaltsamer Fluss, eine Wahrheit, echter als jede andere, das hatte jenes erste Wiedersehen in Genzano bewiesen. Ja, damals leuchtete Gloria von innen heraus: In eben jenen Tagen hatte sie eine neue Arbeit gefunden, eine verantwortungsvolle Position, die wie für sie gemacht war. Sie wusste, dass von nun an nicht nur Seba, sondern auch sie unseren Unterhalt sichern würde: Und dieses Wissen verwandelte sie, nahm ihr die Last der Ungerechtigkeit, als deren Opfer sie sich bisher gefühlt hatte, von den Schultern. Als Souvenir aus Argentinien (aus Mar del Plata) hatte sie jeder von uns eine kleine blaue Glasflasche mit einem Miniatursegelschiff darin mitgebracht, die bauchigen Kiele, die Plicht, jedes Detail minuziös aus hauchdünnen Hölzchen zusammengebaut - die an Zahnstocher-Masten gehissten Segel waren aus Gaze. Ein wunderbares Mitbringsel. Wieder zu Hause saß ich lange vor dieser kleinen Flasche und träumte von Fluchten und langen Seefahrten mit Mama und Nina.
Meine Gebete vor dem Foto von uns drei am See waren erhört worden: Mama war wieder da. Wir konnten Zeit mit ihr verbringen, jeden zweiten Sonntag. Ein paar Stunden nur, nie genug: Doch immerhin war sie wieder präsent, wenn auch nicht bei uns zu Hause. Gloria, unsere Mutter.
Zweimal im Monat, immer sonntags. Nach unserem Umzug nach Rom trafen wir uns bei schönem Wetter am Eingang zur Villa Pamphili, im Winter oder bei Regen in einem Restaurant in Monteverde Vecchio. Jedes Mal wartete Mama schon auf uns, wenn wir ankamen. Stets trug sie ein anderes Outfit, manche sehe ich noch heute vor mir - die schwarze Lederjacke über dem sexy Schlauchkleid in Senfgelb, die Kostümjacke mit knöchellanger Hose aus grasgrünem Crêpe de Chine, den bunten Glockenrock über dem hautengen Body, die mädchenhafte Wespentaille.
"Also ich weiß ja, dass wir eine wunderschöne Mama haben, aber was ist mit dir, Maddi, weißt du das auch?", sagte Nina verzückt. Ich nickte stumm. Gloria sah verlegen weg, mit schiefem Lächeln, geschmeichelt und glücklich, ohne es zeigen zu wollen. Wir beide stolz auf unsere bezaubernde Mama, sie strahlend ob unserer Bewunderung. Zwei, drei Stunden. Manchmal - vom Richter bewilligte und im Voraus festgelegte Ausnahmen - ganze Nachmittage. Und alles glänzte, in diesen bruchstückhaften Momenten. Alles fügte sich wieder zusammen und glänzte.