Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Katja Boehme
Das Beispiel Madeleine Delbrêl
Madeleine Delbrêl dürfte zu den eindrucksvollsten Gestalten der Christentumsgeschichte zählen, die ihr Christsein um Gottes und der Nächsten willen konsequent aus dem Herzen der Kirche und aus einer tief verwurzelten Spiritualität heraus bedingungslos gelebt hat. Inmitten des kommunistischen Arbeitermilieus Frankreichs der 1930er- bis 1960er-Jahre wandte sie sich als Frau allen Menschen unabhängig von Glauben bzw. Nicht-Glauben und bekennendem Atheismus zu. Im einfachen Dasein, in jeder noch so unbedeutend erscheinenden Handlung und jedem Gedanken bringt sie Gott konsequent in die Welt, in der er schon immer ist, weil er im Gegenüber begegnet. Wie sie selber Gottes-Dienst, Sakramentalität und Kirche-Sein in Worte fasst, berührt, geht unter die Haut, verändert. (Redaktion)
"Du hast uns heute Nacht
in dieses Café Le Clair de Lune geführt.
Du hattest das Verlangen danach, hier zu sein, Du, in uns,
für ein paar Stunden in dieser Nacht.
Durch unsere armselige Erscheinung,
durch unsere kurzsichtigen Augen
durch unsere liebeleeren Herzen
wolltest Du all diesen Leuten begegnen,
die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen.
Und weil deine Augen in den unsern erwachen,
weil dein Herz sich in unserm Herzen öffnet,
fühlen wir,
wie unsere schwächliche Liebe in uns aufblüht wie eine ausladende Rose, sich vertieft wie eine grenzenlose und zärtliche Zuflucht für all die Menschen, deren Leben um uns herum pulsiert.
Das Café ist nun kein profaner Ort mehr,
dieses Stückchen Erde,
das dir den Rücken zuzukehren schien.
Wir wissen, dass wir durch dich
ein Scharnier aus Fleisch geworden sind,
ein Scharnier der Gnade ."1
Hier schildert Madeleine Delbrêl, eine einfache Christin, ihren nächtlichen Besuch in einem Pariser Vorstadtcafé. In diesem meditativen Text, den sie zwischen 1945 und 1950 verfasste,2 fährt sie damit fort, die Leute, die mit ihr diesen nächtlichen Ort teilen, zu beschreiben: den alten Pianisten, die geldgierige Geigerin, den die Treppe heruntertorkelnden Säufer und all die gelangweilt herumsitzenden Leute, die ihre Zeit totschlagen - und sie sitzt mitten unter ihnen. Näher kann diese Christin wohl kaum den Menschen sein, denen "Leid und Sünde [.] unentwirrbar ins Gesicht geprägt"3 sind, als dadurch, dass sie dort ist, wo sie sind.
Obwohl Sozialarbeiterin von Beruf, meint Madeleine Delbrêl keine caritative oder diakonische Nähe. Sie wird diesen Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft in diesem Café der Pariser Banlieu aufhalten, keine sozialen Hilfestellungen anbieten. Ein Oben und Unten zwischen ihr und den Leuten gibt es für sie, die posthum als "Modell des Christen der Zukunft"4 bezeichnet werden sollte, nicht.5 Sich Gott hinzugeben und ihm nahe zu sein, ist für sie gleichbedeutend dafür, auf "Tuchfühlung"6 mit den Mitmenschen zu gehen.
"Die wahre Weltoffenheit, die darauf beruht, die Welt zu kennen, weil man voll und ganz in ihr gelebt hat, die Augen und das Herz weit geöffnet: ich glaube, dass niemand sie jemals mutiger und ganzheitlicher gelebt hat."7 - Mit diesen Worten beschreibt der zeitgenössische Theologe Louis Bouyer das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl (1904-1964), die bis zu ihrem Tod über dreißig Jahre lang in Ivry, einem südöstlich von Paris gelegenen kommunistischen Industrievorort zusammen mit ebenso engagierten Frauen wie sie ein Leben nach dem Evangelium geführt hatte. Für ihr aufopferndes soziales Engagement unter der von den Kriegswirren erschütterten Bevölkerung während der deutschen Besatzung sollte sie mit dem Orden der Résistance ausgezeichnet werden. Diesen lehnte sie ab mit der Begründung, allein aus christlichen Motiven gehandelt zu haben.8
Doch in jungen Jahren deutete nichts darauf hin, dass die in einem gutbürgerlichen Milieu als einziges Kind ihrer Eltern aufgewachsene Madeleine, die sich für Kunst und Philosophie interessierte und schon in ihrer Jugend für einen Gedichtband einen hochdotierten französischen Literaturpreis erhielt, ihr Leben in einem militant marxistischen Arbeitermilieu verbringen werde.9 Als junge Frau durchlebte und durchdachte sie scharf und in aller Konsequenz den neuzeitlichen Atheismus: "Gott ist tot, es lebe der Tod ."10 - so heißt ein Text, den sie als Siebzehnjährige im Jahr 1922 schrieb. Doch aufgerüttelt durch die 'Tatsache' von Kommilitonen, denen sie während ihres Literatur- und Geschichtsstudiums an der Sorbonne begegnete, die genauso lebten, arbeiteten, tanzten und diskutieren wie sie, aber die Existenz Gottes im 20. Jahrhundert durchaus nicht für absurd hielten, wurde in ihr die Frage nach Gott brennend.11 "Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte Gott, der nicht mehr strikt unmöglich war, nicht mehr so behandelt werden, als gäbe es ihn sicher nicht. Ich wählte deshalb, was mir am meisten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten ."12 Und sie fährt fort:
"Lesend und nachdenkend habe ich Gott gefunden; aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich findet und dass er die lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt."13
Von diesem Moment an war Madeleine von einem lebendigen, alle Bereiche ihrer Existenz umfassenden Glauben an einen Gott erfüllt, der den Menschen nahe sein will. Dem Zeugnis Jacques Loews zufolge - einem Arbeiterpriester, dem Madeleine nahestand -, bleibt "dieses unerhörte bestürzende Glück [.] dreißig Jahre nach ihrer Bekehrung ebenso kostbar wie am ersten Tag"14. Sie selbst bekannte noch in ihrem letzten Vortrag kurz vor ihrem plötzlichen Tod im Jahr 1964 gegenüber ihren Zuhörerinnen und ihren Zuhörern: "Ich bin von Gott überwältigt worden und bin es immer noch."15
Ebenso wie von ihrer Bekehrungserfahrung, die sie an anderer Stelle sogar als 'gewaltsam' bezeichnet, bleibt Madeleine Delbrêl von einer weiteren Erfahrung aus ihrer Jugendzeit ihr Leben lang geprägt: von der Tragik eines Lebens ohne Gott. Noch Jahrzehnte später wird sie von Christen das Bewusstsein verlangen,
"dass für den Ungläubigen schon das Leben selber vom Tod erschlagen wird. [.] Der innere Halt des Seins stürzt in allem, was lebt, zusammen. Was immer man lieben mag, man liebt etwas, das sterben muss. Das Leben wird zur Vollendung des Todes, alles ist vom Nichts und von der Absurdität befallen."16
Diese Dialektik zwischen dem bedrückenden Dunkel des Atheismus, den sie in ihren Jugendjahren existenziell durchlebt und durchlitten hatte, und dem Dunkel eines von der Gegenwart Gottes Geblendetseins, durchzieht wie ein roter Faden das Denken und Leben Madeleine Delbrêls und bleibt Zeit ihres Lebens Motivation ihres christlichen Zeugnisses.
Um den Glauben an Gott als "ungeheures, umwerfendes Glück"17 und als "Befreiung von der Sinnlosigkeit einer Welt ohne Gott"18 zu vermitteln, setzt Madeleine Delbrêl weder auf pastorale Methoden oder Konzepte, noch geht sie über institutionelle Einrichtungen oder kirchliche Verbände, auch engagiert sie sich nicht in entsprechenden kirchlichen Gremien. Der Glaube an Gott kann ihr zufolge letztlich nicht durch Methoden vermittelt werden, sondern wird an Menschen sichtbar, an denen die 'Tatsache' der Existenz Gottes abgelesen werden kann:19
"Die Tatsache und Wirklichkeit des Glaubens - das sind die Christen, die durch ein unerschütterlich treues alltägliches Handeln dieses 'Phänomen' in ihrem Leben sichtbar machen."20
Als "Scharnier aus Fleisch" und zugleich als "Scharnier der Gnade"21 bilden die Gläubigen ein lebendiges Bindeglied zwischen göttlicher Gegenwart und der menschengemachten Ablehnung Gottes - und das mit einer Nähe, die Madeleine Delbrêl in ihrer Meditation als hautnahe, als haftende22 Bindung beschreibt:
"Wir binden uns an dich
mit der ganzen Kraft unseres dunklen Glaubens,
wir binden uns an sie
mit der Kraft eines Herzens, das für dich schlägt,
wir lieben dich und sie,
auf dass mit uns allen ein Einziges geschehe. Durch uns zieh alles zu dir ."23
Diese doppelte Nähe des Christen zu Gott und zum Nächsten ist für Madeleine Delbrêl untrennbar, sie ist die "indivisible amour"24. Da 'Welt' für Madeleine Delbrêl den im Sinne der johanneischen Theologie den Gott abgewandten, Gott ablehnenden und daher sündigen Ort menschlicher Existenz bezeichnet (vgl. 1 Joh 1,16), während 'Himmel' für sie die im Hier und Jetzt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.