Peter Bubmann
Musik und Spiritualität
Christliche Perspektiven
Musik rührt uns an. Musik ruft im Menschen Resonanz hervor. In welcher Weise und Intensität sich eine solche Resonanzerfahrung ereignet, hängt aber auch von den Musikhörenden und -erlebenden, von ihren Vorerfahrungen und spezifischen Wahrnehmungen ab. Musik kann religiös gedeutet werden und transzendierende Wirkung entfalten. Wir können die Erfahrung von Spiritualität in der Musik als individuelle und gemeinschaftliche Gotteserfahrung erleben. Aus der christlichen Tradition heraus interpretiert der Autor schließlich das Erleben der Macht der Musik als Wirken des Heiligen Geistes: als Einstimmung, Umstimmung, Hochstimmung, Verstimmung. (Redaktion)
"Die brennenden Kerzen vor der Muttergottesstatue links, vor dem Sakramentsaltar rechts, das einfallende Abendlicht in die bunten Glasfenster, der Blumenschmuck und der uns zugewandte Chor, seine Intensität, sein Gestalten - alles zusammen war ein Erlebnis besonderer Art."1
Musik als Resonanzerfahrung
Musik ist die flüchtige Zeit-Kunst des Hörsinns. Nur als ertönende und hörend wahrgenommene ist sie in ihrem Element. Zugleich erfüllen Klänge und Rhythmen Räume und schaffen so Stimmungen und Atmosphären, die sich mitteilen und geteilt werden können. Musik schafft flüchtigvergehende Klangräume und erzeugt Resonanzen bei den Wahrnehmenden und selbst Singenden/Musizierenden.2 So entsteht im zitierten Beispiel in Verbindung mit dem Singen des Liedes Der Mond ist aufgegangen eine "anrührende Atmosphäre"3. Die erzählende Person fühlt sich in eine besondere (religiöse) Stimmung erhoben.
Dass Musik für Inszenierungen überhaupt und für religiös-kultische Inszenierungen und spirituelle Prozesse im Besonderen attraktiv ist, liegt an ihrem Doppelcharakter: Sie ist zeitlich strukturiertes, vergänglich-flüchtiges Werk und zugleich ein Raum füllendes, im Singen auch gemeinschaftlich geteiltes, atmosphärisches Klangmedium. Weil spirituelle Erfahrungen beziehungsweise Gottesbegegnungen auf verdichtete und herausgehobene Zeit- wie Raumerfahrungen angewiesen sind, eignet sich Musik als Medium solcher Gotteserfahrungen in besonderer Weise. Dabei können sich religiöse Deutungen an unterschiedliche musikalische Vollzüge und Erfahrungen 'andocken':
Gesänge und Klänge können Teil stabiler (und im positiven Sinn regressiver) Rituale sein, die gerade durch ihre stete Wiederholung ein rituelles Sich-Bergen ins Bekannte bieten (Spiritualität der Erhebung ins geordnete Umgreifende). So entsteht eine "transzendente oder religiöse Atmosphäre"4.
"Als wir die Taizé-Lieder sangen, hatte ich das Gefühl, jedes Mal ein kleines Stück abzuheben und zu schweben. [.] Dadurch, dass sich der Ablauf Lied-Text-Lied-Text immer wieder wiederholte, konnte man auch innerlich ganz ruhig sein und die Lieder als inbrünstiges Gebet zu Gott singen. Ich wollte in dem Moment, dass es immer so weitergeht [.]."5
Gemeinschaftlich geteilte musikalische Erfahrung, insbesondere das gemeinsame Singen, kann das Gemeinschaftsgefühl stark fördern. Das geschieht bereits beim Singen von Wiegenliedern und setzt sich etwa bei Tanzmusik, Fußballgesängen oder Nationalhymnen fort. Die meisten Kulte der Welt nutzen schon aus diesem Grund musikalische Praktiken. Die ekstatisch erfahrene besondere Gemeinschaft kann selbst als göttlich induzierte Vergemeinschaftung erfahren werden.6 "Bereits ab dem Einsingen fühlte ich mich wohl in der Chorgemeinschaft, trotz kleinerer Besetzung und noch immer vorherrschender Fremdheit zu den meisten Anwesenden in ihrer Mitte gut aufgehoben, zugehörig, geborgen. Strahlende Gesichter, warme Klänge, freundliche gegenseitige Hinweise auf die nun zu singende Passage verstärken diese positiven Gefühle. [.] Es ist ein Erfolgserlebnis, mühelos zu einem Wohlklang, zu einem imposanten Gesamtakustikgebilde beizutragen."7
Musikalische Erfahrungen können aber auch die Unterbrechung des Alltäglichen bieten, in festlichen Ekstasen (Fest-Spiritualität) oder prophetisch-neuen Klängen des ganz Anderen (Spiritualität des prophetisch Hereinbrechenden).
"Musik hat nun grundsätzlich die Möglichkeit, indem sie uns Neues hören lässt, unsere Weltsicht zu erweitern oder sogar aufzubrechen und uns vielleicht sogar ein kurzes Aufblitzen des Kommenden zu zeigen. Die Musik vermag dies vor allem, wenn sie uns neu ist (dabei kann es sich auch um ein Stück aus der Renaissance handeln, sofern wir es zuvor noch nicht kannten), doch sie kann es auch, wenn sie uns sehr vertraut ist, wir sie aber neu, tiefer hören."8
Welcher dieser musik-religiösen Erfahrungsweisen man zuneigt, ist auch durch die je eigenen Milieuprägungen und biografischen Vorerfahrungen mitbedingt. Es existieren daher vielfältig präformierte Weisen spiritueller Erfahrung mit Musik: Während manche spirituell Suchenden Gott primär auf der Ebene der Textbotschaften von Liedern und Musikstücken nachspüren, erwarten andere vorrangig 'heilige' Atmosphären von der Musik: bergende Harmonien (wie in der Taizé-Musik), erhebende Stimmungen (wie in Festliedern oder Lobpreis-Balladen), ekstatisches Hochgefühl (beim Orgelausspiel, in Gospelkonzerten oder beim feierlichen Spiel der Blechbläser) oder provozierende neue Wirklichkeitserfahrung über neue Klänge.
Transzendierung, Emotionale Berührung und Transformation
Musik enthebt in eine eigene Welt und stiftet damit zugleich Lebensorientierung. "Sie orientiert in der Weise, dass sie eigene, neue Orientierungswelten eröffnet, die sie zugleich völlig ausfüllt - so dass sie über ihnen die alltäglichen Orientierungswelten vergessen lässt. In Zeitgestaltungen der Musik kann man 'aufgehen' wie in nichts sonst - wiederum auf Zeit, bis der Zeitdruck die Orientierung in die Alltäglichkeit zurückholt."9
Melodie, Rhythmus und vor allem der Sound als atmosphärische Macht induzieren dann symbolisch eine alltagstranszendierende andere Wirklichkeit, eine mittlere, manchmal auch große Transzendenzerfahrung. Und wie die biblischen Theophanien lösen solche musikalischen 'Theophonien' körperliche Effekte und starke Emotionen aus: Erschütterung oder größte Freude, die im Tränenfluss offenbar werden, verbunden mit einer staunenden Sprachlosigkeit, die nur mehr stammeln kann: "großartig" (oder in der jeweiligen Jugendsprache: "voll cool" oder "mega-geil"). Die erfahrene Musik gewinnt so Eigenschaften eines mysterium facinosum et tremendum (Rudolf Otto), einer faszinierenden und zugleich existentiell erschütternden Macht.
Das gilt insbesondere für das eigene Singen. Als an den eigenen Leib gebundenes Resonanzphänomen verbindet der Gesang mit sich selbst, mit anderen und eben auch mit Zeiten und Räumen außerhalb der eigenen Welt. Ureigenstes (nämlich die unverwechselbare eigene Stimme) verschmilzt mit Klängen und Traditionen der Kultur eigener wie fremder anderer Räume und Zeiten. So bilden sich real-klingende und zugleich virtuelle Netzwerke im Medium kultureller Praktiken. Musikalische Praxis greift dabei tief ein in den emotionalen wie kognitiven Haushalt der Person.
"Die Fähigkeit der Musik, den Menschen emotional anzurühren, ihn 'tiefer' zu bewegen, ihn betroffen zu machen, wird zum Medium für die spirituelle Erfahrung."10
"Bereits diese ruhige, getragene Melodie und der Text berührten mich und ich fühlte mich sehr ruhig. Auch die eher tief gehaltene Melodie hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf mich, sodass ich mich mit dem Lied sehr wohl fühlte. Auch der vierstimmige Teil, der etwas schneller und höher gehalten ist, ging mir wegen des Textes nahe. Die Vorstellung, ewig in Gott geborgen zu sein, fühlte sich tröstend an. [.] Das Versprechen des Lieds, die Melodie und die Stimmgewalt des Chores überwältigten mich und ich stand gebannt da und hörte zu."11
Eckart Altenmüller sieht die emotionale Kraft von Musik als spiritueller Kunst einmal darin begründet, dass sie als Kulturform "uns am stärksten mit einer uralten Vergangenheit verbindet"12, also Erfahrungen wachruft, die archaisch im Menschen verankert sind. Zudem lassen sich musikalisch induzierte 'Gänsehaut'-Erfahrungen auch biologisch und psychologisch als Antwort des Individuums auf spezifische akustische Reize erklären.13 Es kommt bei musikalischen Spitzenerlebnissen zu "spezifischen Hirnaktivierungen"14, bei denen die...