Jonas Simmerlein
Fortschritt oder Irrweg?
Künstliche Intelligenz in religiösen Praktiken
Den täglichen Gebetsfortschritt tracken oder die kollektive Gebetspraxis mittels KI anregen, wie dies ein Klarissenkloster in England tut, das aus tagesaktuellen Nachrichten Gebetsanliegen generieren lässt? Das alles ist schon Gegenwart, wenn nicht gar Vergangenheit. Welche Zukunft aber die KI in den religiösen Praktiken erahnen lässt, darauf geht der Autor in seinem Beitrag ein und lotet dabei nicht nur die Perspektiven der religiösen KI aus, sondern blendet auch Eckpunkte eines mehrdimensionalen Diskurses ein, die von der Anthropologie und Robotik bis hin zu den ethischen Grundsätzen und phänomenologischen Aspekten des Religiösen reichen. Er rundet seine Ausführungen damit ab, dass es sinnvoll sei, die KI als Unterstützerin des Menschen in seinen religiösen Praktiken zu denken, anstatt den religiösen Menschen durch KI ersetzen zu wollen - durchaus wichtige Hinweise und Orientierungshilfen für hochaktuelle Fragestellungen hinsichtlich KI und religiöse Praktiken. (Redaktion)
1. KI und die religiöse Dimension des Menschseins
Künstliche Intelligenz ist geradezu allgegenwärtig. Googles jährliches I/O-Event - die seit 2008 abgehaltene Entwicklerkonferenz des Konzerns - hat kaum noch etwas mit Landkarten und Suchmaschinen zu tun, sondern dreht sich nur noch um Gemini, Googles KI-Assistenten, auf dem die ganze Hoffnung und Zukunft des Tech-Giganten lastet. Betrachtet man das Programm von Zukunftsfestivals - wie etwa die re:publica 2024 -, entsteht der Eindruck, "Zukunft" und "Künstliche Intelligenz" seien synonym zu gebrauchen. Kein Wunder also, dass auch Kirchen und Religionsgemeinschaften sich fragen: Was ist das für eine Technik und wie sollen wir damit umgehen?
Schon die Frage danach, was Künstliche Intelligenz (KI) ist, ist umstritten: Ist es überhaupt angemessen, den Begriff der Intelligenz, der typischerweise mit menschlichem, also leiblich gebundenem Denken assoziiert wird, auf maschinelle Prozesse zu übertragen?1 Jenseits spekulativer Zukunftsvisionen über eine singuläre künstliche Superintelligenz, die den Menschen dereinst abschaffen könnte, stellt diese Untersuchung existierende und realisierbare Projekte in den Vordergrund. Wenn hier von KI gesprochen wird, geht es um zwei Arten von computergestützten Systemen, die darauf ausgelegt sind, bestimmte Funktionen zu erfüllen oder spezifische Probleme zu lösen: Sie tun das entweder durch vorprogrammierte Algorithmen oder durch maschinelles Lernen. Wie vage der Begriff ist, zeigt sich schon hier. Nicht jeder Anwendungsfall, der als KI gelabelt ist, beruht im engeren Sinne auf künstlicher Intelligenz. Einige Roboter im religiösen Feld spulen beispielsweise recht konventionell einen vorprogrammierten Algorithmus ab und überspannen dabei den Bogen des Begriffes. Nichtsdestoweniger fallen sie in den Kontext einer ersten größeren Welle von KI und Robotern in religiösen Praktiken, die wir seit ein paar Jahren beobachten können, weswegen sie hier zu verhandeln sind. Im engeren Sinne meint KI heute vor allem "maschinelles Lernen" (machine learning). Dieses bildet das Rückgrat der meisten heutzutage vorfindlichen Künstlichen Intelligenzen. Dieser Begriff bezeichnet Prozesse, die es Computern ermöglichen, aus Daten zu lernen und Muster zu erkennen, ohne dafür explizit programmiert zu sein.2 Anstatt spezifische Anweisungen zur Ausführung von Aufgaben zu erhalten, können Computer durch maschinelles Lernen eigenständig Muster und Trends in Daten identifizieren und darauf basierende Vorhersagen treffen. Darin den Anbruch eines posthumanen Zeitalters zu erblicken, ist dennoch verfehlt: Sind sie auch in der Lage, komplexe Ergebnisse zu produzieren, bleiben sie dabei immer auf ihren spezifischen Anwendungsbereich beschränkt. Besonders der Bereich der Textgenerierung (Large Language Modells oder LLMs), etwa mit stochastischen, maschinellen Lernmodellen wie Generative Pretrained Transformers (GPT), beherrscht derzeit den Diskurs über Künstliche Intelligenz.
Der Grundriss dessen, was Künstliche Intelligenz ist, legt per se noch nicht nahe, sie in das Feld religiöser Praktiken zu integrieren. Denn religiöse Praktiken lassen sich als jene beobachtbaren Handlungen verstehen, mit denen Menschen in einer vorgegebenen Tradition auf bestimmte existenzielle Fragen3 und Gefühle4 reagieren. Gehen wir von dieser religionsphänomenologischen Prämisse aus, stellt sich die Frage, inwieweit Künstliche Intelligenz der Kultivierung oder Weiterentwicklung dieser Praktiken dienlich ist. Algorithmen sind Berechnungen - sowohl Künstliche Intelligenzen in Formen von Apps und Gadgets als auch Roboter basieren auf diesen. Sie zeichnet aus, dass sie Aufgaben erledigen können, ohne durch typisch menschliche Faktoren wie Emotionalität, unterschiedliche körperliche Verfassung oder moralische Zweifel eingeschränkt zu werden. Nicht umsonst spricht man in der Robotik von den "vier Ds": Dull, Dirty, Dear, Dangerous.5 Roboter sind demnach geeignet, diejenigen Aufgaben zu übernehmen, die Menschen langweilen und zu Fehlern anstiften, die unangenehm und dreckig sind, die Kosten sparen, wenn sie ein Roboter übernimmt, und die für Menschen zu gefährlich wären. Für LLMs gelten zumindest zwei dieser Eigenschaften: Ihr vornehmlicher Einsatzbereich ist es, in Sekundenschnelle Text zu produzieren, der sonst im Mailverkehr oder in der Kundenkommunikation mühsam manuell entwickelt werden müsste (Dull). Das spart Zeit und Geld (Dear). Hierin wird eine unübersehbare Diskrepanz deutlich, die eine anfängliche Skepsis gegenüber KI in religiösen Praktiken verständlich macht: KI ist vornehmlich ein praktisches, ökonomisches Tool, das bestimmte lästige Aufgaben effizient abarbeiten kann. Es ließe sich das genaue Gegenteil von Religion sagen. Wenn Johann Baptist Metz' berühmt gewordenes Bonmot stimmt und sich Religion in einem Wort als "Unterbrechung" definieren lässt, verwundert es nicht, dass ein effizienzsteigerndes Werkzeug wie ein Fremdkörper in der Sphäre religiöser Praktiken anmuten muss.
Der Blick in die Praxis soll nun zeigen, ob eine verständliche, initiale Skepsis gerechtfertigt ist oder ob sich die beiden disparaten Welten doch im Sinne einer produktiven Antwort auf existenzielle Fragen und Gefühle vereinen lassen.
2. KI in religiösen Praktiken: Eine Übersicht
Wie lässt sich ein Feld kartieren, das in rasender Geschwindigkeit wächst und mit Technologien interagiert, die so neuartig sind, dass selbst Expert:innen in Echtzeit mitlernen? Zwei wesentliche Arten, KI in religiöse Praktiken zu integrieren, lassen sich unterscheiden: religiöse KI-Technologien und religiöse Robotik.
Religiöse Technologien sind per se nichts Neues. Schon 1560 schuf der Uhrmacher Juanelo Turriano für den jungen Prinzen Don Carlos einen mechanischen Mönch, der aufgezogen ein Rosenkranzgebet durchführt und zum Mitbeten anregen sollte.6 Ähnliches versucht heute der eRosary: ein Kunststoffrosenkranz, der sich mit Berührung aktivieren lässt und den täglichen Gebetsfortschritt tracken kann.7 Auch kollektive Gebetspraxis lässt sich mittels KI anregen: Ein Klarissenkloster in England verwendet den Prayer Companion, ein kleines Display, das aus den Nachrichten des Tages autonom Gebetsanliegen generiert, welche die Schwestern ins Gebet aufnehmen können.8 Religiöse KI-Technologien sind somit Applikationen, die - auf einem Screen oder in einem Gadget verbaut - bestimmte religiöse Praktiken ermöglichen oder erleichtern. Darunter fallen auch alle Formen religiöser Sprachbots, wie die App Text with Jesus, eine auf den LLMs von OpenAI basierende Mobilanwendung, die Jesus, Maria, Ijob und andere biblische Figuren als Chatpartner simuliert.9 Auch midrash. ai, ein vergleichbares Modell, weiß Anfragen zur rabbinischen Tradition in Sekundenschnelle auf Grundlage des babylonischen Talmuds zu beantworten.10 Was sie verbindet und von Robotern unterscheidet, ist ihre niederschwellige Bedienung und Erreichbarkeit sowie die starke Individualität der Technologie.
Neben diesen kleineren, teils portablen Einzelanwendungen lassen sich auch ganze liturgisch-homiletische Praktiken mit religiöser KI-Technologie inszenieren. Das kontroverse KI-Gottesdienst-Projekt11 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 ist ein solches Beispiel: Hierbei wurden sämtliche Texte von LLMs produziert und mittels Motion Capturing menschlichen Avataren in den Mund gelegt, die derart vor 300 Gemeindemitgliedern auf einer Leinwand durch Gebete, Lesungen und Predigt führten und eine gemeinsame Gottesdienstfeier von Mensch und Maschine erlaubten.
Demgegenüber...