Clemens Sedmak
Würde atmen
Die beiden Lungenflügel Europas
"Europa" ist ein Raum der Völker und Kulturen seit Jahrtausenden - mit verwobenen Geschichten und Verwundungen. Im 20. Jahrhundert prägten zwei Traumata den Westen und den Osten Europas tiefgreifend: Die Shoah und der Kommunismus. Dementsprechend bestimmten und bestimmen zwei unterschiedliche, aber zusammengehörende Werte die Entwicklungen im Westen und im Osten: die Orientierung an der Menschenwürde einerseits und an der Freiheit andererseits. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak arbeitet in seinem Beitrag die Bedeutung dieser Ereignisse vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges heraus und zeigt Lösungen für ein verbindendes Miteinander auf. (Redaktion)
"Wir waren schockiert, aber nicht überrascht." Diesen Satz habe ich mehrmals von ukrainischen Kolleginnen und Kollegen nach der russischen Invasion der Ukraine vernommen. Manche fügten dann auch hinzu, dass wir "im Westen" eben keine rechte Vorstellung von Putin, Russland, dem Kommunismus hatten.
Papst Johannes Paul II. hatte in seiner Ansprache vor dem Europaparlament in Straßburg am 11. Oktober 1988 von den beiden Lungenflügeln Europas gesprochen, mit Hinweis auf seine eigene Herkunft aus Mitteleuropa. Dies war verbunden mit dem Appell, "das andere Europa" nicht zu vergessen. Haben wir uns tatsächlich weit voneinander entfernt?
Grundsätzlich kann von einer Ungleichzeitigkeit Europas ausgegangen werden: Das 20. Jahrhundert wurde von den westeuropäischen Staaten fundamental anders erlebt als von Osteuropa. Während das Grundtrauma des Westens der Holocaust war, der als Antwort die Idee von Minderheitenschutz und Menschenrechtskultur motivierte, stellt im Osten Europas der Kommunismus das Grundtrauma dar. Die Frage nach der adäquaten Gestaltung der postkommunistischen Zukunft ist komplex und kann sich nicht in der Übernahme liberaler Demokratie nach westlichem Muster, das sich jahrzehntelang weiterentwickelt hat, allein erschöpfen. Hier müssen Fragen nach der Identität osteuropäischer Staaten mit ihren spezifischen, vom Kommunismus zum Teil auch massiv unterdrückten kulturellen und religiösen Traditionen mitberücksichtigt werden. Dabei kann die von Ivan Krastev monierte Herrschaft der politischen Eliten, wie sie sich in Europa zeigt, wenig Vertrauen in die Macht des Volkes vermitteln.1 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Formen einer wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kolonialisierung Osteuropas durch den europäischen Westen stattgefunden haben. Die Konflikte, die bestimmte osteuropäische Staaten wie etwa Polen und Ungarn mit der Europäischen Union austragen, haben auch mit dem selbstbewussten Einklagen - und der gefühlt notwendigen Verteidigung - einer eigenständigen Identität und Tradition zu tun. Die angesprochene Ungleichzeitigkeit ist in diesen Konflikten spürbar.
Diese Ungleichzeitigkeit ist auch für Theologie(n) und Kirche(n) von Bedeutung; theologisch gesehen geht es etwa um Fragen nach dem Verhältnis von Rechtgläubigkeit und Pluralismus, kirchlich gesehen um das Aushandeln des neu zu gestaltenden Verhältnisses zwischen Kirche(n) und Staat. Die mächtigen Grundtraumata im Hintergrund sind bei diesen Dynamiken wirkmächtig.
Die Ukraine ist in vielerlei Hinsicht ein Schlüsselland. Ein Land, das zwischen dem Westen und dem Osten steht, Traumata wie den Holodomor (die Hungersnot in den frühen 1930er Jahren, die wohl von Stalin gezielt vorangetrieben und ausgenutzt wurde),2 aber auch die Massenmorde während der deutschen Besatzung ab 1941 zu bewältigen hatte und hat.
Die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ist tragisches Zeichen dafür, dass die Ungleichzeitigkeit nicht bewältigt wurde - nicht in der Politik, nicht in der Gesellschaft, nicht in den Kirchen. Die Ukraine steht auch als Land vor der Herausforderung, mit zwei Lungenflügeln zu atmen, mit einem Lungenflügel des Westens und einem Lungenflügel des Ostens.
1. Das Grundtrauma des Westens
Der westliche Lungenflügel Europas steht unter dem großen Stichwort Frieden - und Frieden ist hier vor allem gedacht als friedvolles Zusammenleben, das Minderheiten schützt und einschließt. Das Grundtrauma des Westens im 20. Jahrhundert war zweifellos das nationalsozialistische Terrorregime und der Holocaust, die Shoah, die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes. "Philosophie nach Auschwitz" und "Theologie nach Auschwitz" sind zu Paradigmen geworden, die gleichzeitig Antwortversuche auf dieses Trauma darstellen. Der amerikanische Philosoph Robert Nozick hat festgehalten, dass die Menschheit nach Auschwitz das moralische Recht auf Existenz verloren habe, es wäre nun keine Tragik mehr, wenn die Menschheit zu einem Ende kommen würde.3 Nozick äußert sich auch theologisch und vertritt die These, dass der Holocaust die Tür, die Christus geöffnet haben mag, wieder geschlossen habe.4 Tatsächlich stellt sich die Theodizeefrage nach Auschwitz in einer Dringlichkeit, wie sie Elie Wiesel immer wieder artikuliert hat. Die Erinnerungskulturen Westeuropas sind wesentlich mit dem Holocaust verbunden. Dies zeigt sich in Lehrplänen und Schulbüchern, in öffentlichen Gedenkstätten, in Straßenumbenennungsdebatten, in der Literatur. Die Geschichte des "Denkmals für die ermordeten Juden" in Berlin kann von einigen Facetten dieser traumaverarbeitenden Erinnerungspolitik erzählen - von Fragen der Opferkonkurrenz, der Diskussion um Ort und Adressaten, Anspruch, Botschaft, Repräsentation.5 Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat von der moralischen Pflicht gesprochen, das radikal Böse zu erinnern - jene Form von moralischem Übel, das die Möglichkeit gedeihlichen Zusammenlebens untergräbt.6 Hier ist in erster Linie an den Holocaust zu denken.
Die Vernichtung eines ganzen Volkes - der polnische Jurist Raphael Lemkin hat dafür den Begriff Genozid geprägt - wurde zum Anlass, grundsätzlich über das globale Miteinander nachzudenken. Die beiden Weltkriege und vor allem auch der Versuch, das jüdische Volk systematisch zu vernichten, standen im Hintergrund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Die Präambel der Deklaration bezieht sich auf die destruktiven Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenn davon die Rede ist, dass "Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben". Auch die Charta der Vereinten Nationen vom Juni 1945 bezieht sich auf die Atrozitäten der jüngsten Vergangenheit und bringt in ihrer Präambel die Entschlossenheit zum Ausdruck, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat".
Die Idee der Menschenwürde und die Verpflichtung zum Respekt vor der Würde jedes einzelnen Menschen schält sich so als Antwort auf das Grundtrauma des Holocaust heraus. Das wird etwa augenscheinlich im deutschen Grundgesetz, das bekanntlich in Artikel 1 festhält, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.
Der westliche Lungenflügel Europas atmet aus der Sehnsucht nach der Achtung vor der Würde des Menschen.
2. Das Grundtrauma des Ostens
Der östliche Lungenflügel Europas steht vor allem unter dem großen Stichwort Freiheit - Freiheit von totalitärer Herrschaft und Freiheit zur Selbstbestimmung. Das Grundtrauma Osteuropas ist nicht der Holocaust, sondern der Kommunismus. Es ist für meine osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen schwer verständlich, dass etwa in Österreich eine kommunistische Partei aktiv ist und in Graz sogar die Bürgermeisterin stellt.
Wir sind im Rahmen eines Forschungsprojekts, bei dem wir Zeitzeuginnen und Zeitzeugen um Erfahrungsberichte gebeten haben, dem Trauma des Kommunismus nachgegangen.7 Dabei wurde überdeutlich: Der Kommunismus hat Menschen traumatisiert; hier wurden mehr als 40 Jahre lang persönliche Freiheiten eingeschränkt, Diskurse unterdrückt, Kultur(en) kontrolliert, die Privatsphäre durch das System kolonialisiert, die Möglichkeit des Vertrauens durch Denunzierungsanreize untergraben. Die Propagandageschichte von Pavlik Morozov, der (so die historisch umstrittene Geschichte) als 13-Jähriger seinen Vater denunzierte und dann von seiner Familie ermordet wurde, ist ein Beispiel für den organisierten Wahnsinn des Kommunismus. Diese Geschichte wurde vom totalitären Regime weidlich ausgeschlachtet.8
Erzwungenes Schweigen und angstvolles Verstecken wirken traumatisierend. Tomás Halík berichtet in seiner Autobiographie von verschwundenen Priestern, von "samizdat", der heimlichen Veröffentlichung von Büchern und Magazinen, und einer strikt geheimen...