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Mädchen Nummer 5
Michelle Summers hatte fünfzehn lange und einzigartig ereignislose Jahre dazu gebraucht, aber an diesem Abend, als sie zitternd in der Dunkelheit des vergammelten Buswartehäuschens stand, auf dessen Dach im gleichmäßigen Stakkato der Regen niederprasselte, erkannte sie die traurige und simple Wahrheit: Sie hasste ihre Mutter. Hasste . hasste . hasste sie . diese dumme, fette Kuh.
Wenn ihre Mum ihr mittlerweile was sagte, begann das immer mit »Früher .«. »Früher bist du immer so nett gewesen . früher bist du immer so gut drauf gewesen . früher bist du so ein hübsches Ding gewesen«, womit sie natürlich sagen wollte, dass sie das alles jetzt nicht mehr war. Michelle Summers, sowieso schon nicht mit dem größten Selbstbewusstsein ausgestattet, konnte getrost auf eine Mutter verzichten, die ihr ständig erzählte, dass sie jetzt nicht mehr nett, hübsch oder amüsant war.
Michelle stierte auf die Wasserrinnsale, die an den Innenwänden des Häuschens herabliefen und auf dem zerfurchten grauen Betonboden Pfützen bildeten. Da diese Pfützen immer größer wurden, war Michelle irgendwann gezwungen, aus der hintersten Ecke des Wartehäuschens nach vorn zu treten; der Wind pfiff durch den Holzunterstand. Michelles Ansicht nach wohnte sie in einem elendigen Dorf mitten im Nirgendwo, am nordöstlichen Arsch von England, wo es nichts gab, was nicht mindestens eine Busfahrt entfernt war. Das traf sogar auf ihr Zuhause zu. Wenn sie endlich alt genug wäre, würde sie Great Middleton für immer verlassen, weil an dem Kaff absolut nichts »great« war. Jeder kannte jeden, die Eltern kannten alle anderen Eltern, und keiner scherte sich um seinen eigenen Kram. In Great Middleton blieb nichts verborgen.
Michelle hatte das Häuschen gerade noch rechtzeitig erreicht, um den vorletzten Nachtbus asthmatisch den Hügel vor ihr hinaufschnaufen zu sehen, während er hinten schwarze Rauchwolken furzte und sich langsam über die Kuppe mühte wie die kleine blaue Lokomotive. Jetzt war sie froh, doch auf ihre Mutter gehört zu haben; die hatte nämlich darauf bestanden, dass sie einen Mantel anzog, auch wenn der ihr cooles Top und ihren Körper verdeckte, der sich, vielen Dank auch, ganz prächtig entwickelte. Sogar ihre Mum war eifersüchtig. »Hey, ich wünschte, ich hätte auch noch so einen flachen Bauch wie du, Schell«, hatte sie gesagt. »Und so einen kleinen Hintern. Wie ein Pfirsich!«
Denny, diesem perversen Drecksack, war es nicht entgangen, wie sie sich im letzten Jahr verändert hatte. Michelle hasste ihren Stiefvater fast so sehr wie ihre Mum und konnte es gar nicht leiden, wenn sie von den beiden »Schell« genannt wurde, als wäre sie eine Tankstelle. Mit ein bisschen Glück war ihr Stiefvater schon wieder in seinem Lkw unterwegs. In letzter Zeit übernahm er mehr und mehr Nachtfuhren, »um dem Verkehr zu entgehen«, wie er sagte, aber vielleicht hatte er nur genau wie Michelle von zu Hause einfach die Schnauze voll. Ihre Mum würde wahrscheinlich wieder auf der Couch eingepennt sein, auf dem Tisch ein lauwarmer Gin und ein klebriger orangefarbener Likör, den ihre angesäuselte Mutter nur noch zur Hälfte geschafft hatte. Michelle könnte sich leise nach oben in ihr Zimmer schleichen.
Es war nicht sehr schön, wenn man sich eingestehen musste, dass man seine Mutter hasste. Das war Michelle schon klar. Seine Mutter sollte man lieben, man sollte mit ihr zum Shoppen gehen, mit ihr herumalbern, über Jungs und so reden, ihr am Muttertag Schokolade kaufen, solche Sachen eben. Sie kannte Mädchen, die so eine Beziehung zu ihrer Mutter hatten.
»Meine Mum ist ziemlich cool«, sagten diese Mädchen, »man kann mit ihr über Sex und alles reden, und sie besorgt mir die Pille, wenn ich älter bin.« Aber Michelle würde niemals mit ihrer Mum über Sex reden, nicht in diesem Leben. Alles, was von ihr zu diesem Thema gekommen war, nachdem sich ihre Tochter jetzt ziemlich regelmäßig mit Darren »Daz« Tully traf, war ein gemurmeltes »Vergiss nicht, Schell, nichts unterhalb der Gürtellinie«.
Sie wollte auch nicht mit ihrer Mum zum Shoppen, die fette Kuh hätte es wahrscheinlich sowieso bloß auf Schokocrisp-Riegel und Gin abgesehen. Die Frau hatte sich völlig aufgegeben. Sie fragte sich, was Denny an ihr noch fand. Im Ernst, machten die es überhaupt noch? Immerhin waren sie beide über vierzig. Vielleicht interessierte sie das beide nicht mehr. Vielleicht war das so, wenn man älter wurde.
Das würde auch erklären, warum Denny so ein Perversling war; hing immer vor dem Badezimmer rum und grinste sich dämlich einen ab. Das erste Mal, nicht lange nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, war sie nur in ein Handtuch gewickelt aus dem Bad gekommen, und er hatte da auf dem Treppenabsatz gestanden, als wäre er gerade die Stufen hochgekommen. Aber sie wusste es besser. »Huch«, hatte er gesagt, als wäre alles ein großer Zufall, nur hatten seine Augen ihn verraten: Sie hatten geleuchtet, als wäre Weihnachten auf Ostern gefallen, und er hatte sie ganz genau so angesehen wie die Jungs im Jugendklub. Sein Blick war von oben nach unten gewandert: Gesicht, Titten, dann alles Übrige. Michelle hätte am liebsten gekotzt. Sie war an ihm vorbei in ihr Zimmer geeilt und auf sein »Schlaf schön, Kleine« nicht weiter eingegangen, bevor sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Männer waren Schweine, alle. So viel wusste sie jetzt schon.
Jetzt wagte sie sich nicht mehr ins Bad ohne einen bis oben zugeknöpften Schlafanzug und Frotteemantel. Was aber egal war, weil das Haus kälter war als eine Leichenhalle. Wie so vieles konnten sie sich auch das Heizen nicht mehr leisten.
Sie hatte Suze alles über Denny erzählt.
»Wahrscheinlich denkt er an dich, wenn er mit seinem Pimmel rummacht«, hatte ihre beste Freundin wissend erklärt.
»Suze!«, hatte Michelle geantwortet. »Du bist echt eklig!« Dabei hatte sie lachen müssen.
Suze hatte sich gar nicht mehr eingekriegt. »Ich wette, das macht er, und zwar ständig. Ich wette, das ist alles, was er macht.« Sie hatte ihr nicht widersprechen können. Es war schon lange her, dass Michelle nachts durch das Geruckel von Mum und Denny gestört wurde. Das erste Mal, als das vorkam, war sie noch ganz klein gewesen. Sie war aus dem Schlaf geschreckt und hatte sich um ihre Mum Sorgen gemacht, weil das dumpfe Pochen an der Wand von einem Stöhnen begleitet wurde. Schlaftrunken war sie ins Schlafzimmer gegangen. Denny war auf ihrer Mutter gelegen, die laut loskreischte, als sie Michelle bemerkte. Denny hatte was gebrüllt, dann geflucht, und Michelle hatte sich umgedreht und war geflohen. Kurz darauf war ihre Mutter in ihrem schäbigen alten Bademantel in ihr Zimmer gekommen, hatte sich neben ihr auf die Bettkante gesetzt und erklärt, dass sie keine Angst zu haben brauche, denn Onkel Denny habe Mami bloß ganz besonders fest umarmt, und sie hätten beide geschrien, weil Michelle sie so erschreckt habe. Nicht lang danach bekam sie das kleinere, zugigere Zimmer im hinteren Teil des Hauses, »Onkel Denny« zog ganz bei ihnen ein, und dann stand auch schon die Hochzeit an. Davor war es mit Denny ganz okay gewesen, da hatte er sich bei ihrer Mutter einschleimen wollen und war mit ihr und Michelle ins Kino oder in den Zoo gegangen, hatte Michelle Eis und kleine Puppen gekauft. Das alles hörte auf, als er »seine Füße unter dem Küchentisch« hatte, wie ihre Großmutter immer sagte. Keine Ausflüge mehr, nur noch selten Geschenke, und das Eis wurde auch immer weniger und seltener. Das Geld war »knapp«, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater ihr wiederholt erklärten, obwohl sie vermutete, dass es vor allem an ihrem neuen Stiefvater lag, der sie knapphielt.
Ein plötzlicher Wasserschwall aus der windgepeitschten Dachrinne platschte vor Michelle zu Boden und riss sie aus ihren Gedanken. Warum war sie nicht woanders auf die Welt gekommen, in London vielleicht oder wenigstens im dreißig Kilometer entfernten Newcastle? In einer Stadt konnte man was unternehmen. In einem Dorf gab es nichts, dort konnte man nur rauchen und sich hinter dem Gemeindesaal befummeln lassen. Mehr wollte Darren Tully sowieso nicht. Sie waren jetzt etwas mehr als zwei Monate zusammen, und schon jetzt konnte sie sich nur noch undeutlich an ihre Aufregung und ihr Herzklopfen erinnern, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Sogar Suze hatte bestätigt, dass Darren Tully »geil« war, und wenigstens einmal in ihrem Leben hatte sie sich besonders und begehrt gefühlt. Aber in Wirklichkeit hatte die Beziehung mit Daz nicht viel mit dem zu tun, was sie sich vorgestellt hatte. Der heutige Abend war mal wieder typisch gewesen. Es gab ein bisschen Geknutsche, immerhin dazu konnte er sich noch aufraffen, aber wenn er ihr hinter dem Gemeindesaal immer nur die Zunge in den Rachen schob und sie mit seinem Tabakatem küsste, dann war das nicht unbedingt das, wovon ein Mädchen träumte. Sein umständliches Gefummel endete immer damit, dass sie seine Hände wegschob und er murmelte, »Mann, bist du zugeknöpft«, als wäre sie die letzte Jungfrau im Dorf, bevor er sie darüber in Kenntnis setzte, dass er sowieso bald keinen Bock mehr auf sie hätte, sofern »nicht bald mal was lief«.
»Da muss doch mal was laufen. Was soll das denn, wenn nichts passiert?«, hatte er zu ihr gesagt, fast so, als wäre das ein so unglaublich romantischer Vorschlag, dass sie ihm einfach nicht widerstehen könnte.
Jungs waren eben auch Schweine.
Daz sah sie noch nicht mal richtig an, als er in den Wagen der Mum von einem Freund stieg. Das Angebot, mit ihnen nach Hause in die Nachbarstadt zu kommen, konnte er bei dem Scheißwetter einfach...
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