Sydney, Gegenwart
1
Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre.
(Thomas von Aquin)
Die Lichter des Krankenwagens tauchten die Umgebung in einen Pulsschlag aus Blau und Rot und ließen Einzelheiten für kurze Momente sichtbar werden: Straße, Menschen, Fahrzeuge, Füße.
Naya drückte ihr Kinn fester auf die Knie und starrte auf ihre nackten Zehen. Blut hatte sich unter die Nägel gegraben und sie in die einer Toten verwandelt: Halbmonde, die im Dunkel der Nacht verschwanden, um dann aufzutauchen, wieder und wieder. Immerhin war der Anblick ihrer Füße vertraut, anders als die raue Decke, die ihr ein Sanitäter um die Schultern gelegt hatte. Der grobe Stoff roch muffig, nach Staub und Fabrik. Er verlieh ihr nicht den erhofften Kokon aus Wärme und Geborgenheit, sondern isolierte sie auf seltsame Weise von dem Ameisenhaufen an Polizei, Männern der Ambulanz von New South Wales und Schaulustigen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemühten, so diskret wie möglich herüberzustarren. Irgendwo lagen ihre Schuhe.
Neben ihr setzte ein Scheppern und Knirschen ein: Claires Auto wurde abgeschleppt. Naya sah nicht hin, stellte sich aber die Dellen in der Karosserie vor, aus den Angeln gerissene Türen und Qualm, der aus der Motorhaube des Holden Camira kroch. Nach dem Unfall hatte ein Mann in Schutzkleidung sie hinausgezogen und über die Straße getragen. Sie hatte nicht zurückgeblickt, doch in ihrer Vorstellung musste jeder Wagen, der sich mehrmals überschlug, aussehen, als hätte die Faust eines Riesen ihn zerquetschen wollen.
Seltsamerweise ängstigte auch dieses Bild sie nicht, und so schob sie es zur Seite. Ihre Gedanken wanderten weiter zu Claire. Ihre Cousine saß eine Armlänge entfernt neben ihr und war ebenfalls in eine Decke gehüllt. Sie hatte die Augen geschlossen, der Kopf lehnte an einer Tür des Ambulanzwagens.
Naya wusste, dass sie sich bei Claire entschuldigen sollte, doch selbst dazu konnte sie sich nicht aufraffen. Ein Schleier hatte sich über die Welt gelegt. Sie wirkte wie eine Theaterinszenierung, an der Naya nicht teilnehmen wollte. Womöglich konnte sie es auch gar nicht, da ihr Kopf in den letzten Minuten - Stunden? - zu schwer geworden war, um ihn zu heben. Sie hätte es ausprobieren müssen, um die Antwort darauf zu finden, nur war sie daran nicht interessiert.
Abgesehen davon: Was sollte sie Claire sagen? Dass es ihr leidtat, einen Unfall verursacht zu haben, der sie beide das Leben hätte kosten können?
Es war nicht der so vertraute Klang ihres Namens, der sie aus ihrer Starre riss, sondern vielmehr eine Bewegung in ihrem Augenwinkel. Sie schickte eine Eisschicht unter ihre Haut, die seltsamerweise brannte.
Naya keuchte, robbte ein Stück zurück und zog ihre Zehen unter die Decke. Schweiß bildete sich in ihrem Nacken, auf den Armen und zwischen ihren Brüsten, während sie auf den Boden starrte. Doch da war nichts. Lediglich die sich noch immer drehenden Lichter der Ambulanz ließen die Schatten tanzen.
»Claire?! Naya!«
Onkel Lewis schob sich durch die Reihen der Männer und malte Risse in die Schicht aus Angst und Schrecken, schaffte es jedoch nicht, sie vollends zu zerstören. Seine Stirn lag vor Sorge in Falten, seine Lippen bildeten eine weiße Linie. Er rannte auf den Wagen zu, zog Claire in seine Arme und küsste ihren Scheitel, um sie dann von sich zu drücken und von oben bis unten mit Blicken abzutasten. Er trug Lederschuhe zu einer Jogginghose und einem weißen T-Shirt.
»Bist du verletzt? Hast du dir etwas gebrochen? Oder Kopfweh?« Er schob Claires Honiglocken beiseite und berührte ihre Schläfen, als würde er ihre Schmerzen fühlen können.
Claire schüttelte ihren Kopf. »Alles okay, Dad. Ich will nur nach Hause.« Sie sah Naya nicht an.
Onkel Lewis nickte und zog die Decke wieder vor Claires Brust zusammen. Trotz der Wärme, die Sydneys Straßen selbst in der Nacht abgaben, schien jeder zu denken, dass Unfallopfer froren.
Wahrscheinlich war das auch so, wenn man unter Schock stand und der Blutdruck in den Keller gesaust war. Naya spürte jedoch nichts außer Hitze durch ihren Körper toben. Ihr Blick flackerte zwischen ihrem Onkel und dem Boden hin und her.
Dort ist nichts.
Eine Berührung an ihrem Bein brachte die Hitze zum Überkochen. Naya zuckte zusammen.
»Hey, ganz ruhig. Ich bin es nur.« Onkel Lewis beugte sich zu ihr herab, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem war. »Ist mit dir alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«
Seine gewitterblauen Augen ähnelten so sehr denen ihres Vaters, dass sie schlucken musste. Sie wollte nicht aus dem Schutz der Decke heraus, wollte den Wagen nicht verlassen. Vor allem wollte sie keinen Fuß auf diesen Boden setzen.
Onkel Lewis runzelte die Stirn. »Naya?«
Sie räusperte sich. »Mir geht's gut.« Ihre Stimme schabte durch ihren Hals und klang nach Blech und Stein.
Onkel Lewis zog seine Hand zurück und setzte sich vorsichtig zwischen die beiden Mädchen. Er legte einen Arm um Claire und atmete erleichtert auf, als sie ihren Kopf auf seine Schulter fallen ließ. Seine freie Hand legte er auf Nayas Schulter. »Ich habe deine Eltern angerufen. Sie sind sofort aufgebrochen und auf dem Weg zu eurem Haus. Ich bringe dich hin.«
Naya schwieg. Ihre Eltern konnten ihr auch nicht helfen.
Onkel Lewis strich Claire über das Haar, tätschelte unbeholfen Nayas Schulter und musterte die Männer, die sich um einen Polizisten drängten. Einer von ihnen bemerkte ihn, löste sich von der Gruppe und hielt auf sie zu.
Ihre Eltern - das Geschäftsessen, auf das sie sich so lange vorbereitet hatten und das sie nun wegen ihr abbrachen. Naya zog die Decke über ihr Kinn. Sie hatte es geschafft, gleich einer Handvoll Leuten den Abend zu verderben. Als sie zu Claire schielte, hob ihre Cousine den Kopf und blickte sie zum ersten Mal seit dem Unfall an. Einen Atemzug später sah sie wieder weg, doch der Moment hatte genügt. Claire gab Naya die Schuld an dem, was geschehen war.
Und sie hatte recht.
»Sie hat Claire ins Lenkrad gegriffen, weil sie dachte, dass eine Schlange durch das Auto kriecht. Eine verdammte Schlange, Marion! Das hat nichts mit Schreckhaftigkeit zu tun.« Die Stimme ihres Vaters erhob sich aus dem Gemurmel ihrer Eltern und wurde sofort vom vorwurfsvollen Ton ihrer Mutter zurückgerissen. Eine Tür schlug zu und isolierte die Stimmen mit all ihren Vermutungen, Emotionen und Schlussfolgerungen.
Naya lag im Bett ihres alten Zimmers, aus dem sie vor über einem halben Jahr ausgezogen war, und starrte an die Decke. Ihre Eltern stritten sich selten, und nun taten sie es wegen ihr. Natürlich, sie glaubten ihr nicht. Sie hatte sich nicht bewegt, seitdem ihre Mutter ihr einen Teller Suppe hingestellt und sie zugedeckt hatte. Die Schreibtischlampe neben dem Fenster streute Licht über den Fußboden und spiegelte sich in der Glasscheibe. Es genügte, um die Schatten im Raum zu vertreiben - und um nachzusehen, ob sie auch wirklich allein war. Doch dazu konnte Naya sich ebenso wenig aufraffen wie dazu, sich auf die Seite zu drehen oder einen Schluck Wasser zu trinken, obwohl ihre Kehle vor Trockenheit schmerzte. Es war, als hätte ihr Wille ebenso Schaden genommen wie Claires Wagen.
Eine verdammte Schlange, Marion!
Naya schloss die Augen, krallte die Finger in das Laken und biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Unter ihren Lidern brannte es, doch sie durfte die Beherrschung nicht verlieren. Der Grat zwischen Überzeugung und Wahnsinn war erstaunlich schmal, das hatte sie festgestellt, seitdem sie darauf tanzte. Sie wusste, was sie in Claires Auto gesehen hatte. Sie hätte ihre Cousine lediglich bitten müssen, sofort anzuhalten und den Wagen zu verlassen, aber da hatten ihre Instinkte bereits die Kontrolle übernommen. Sie hatte geschrien und getobt, und dann hatte sie das Lenkrad zur Seite gerissen. Das bedeutete nicht, dass sie wahnsinnig geworden war oder fantasierte, auch wenn ihr Vater das vielleicht glaubte. Es gab verdammte Schlangen auf dem gesamten Kontinent, selbst in den Städten. Nur, weil sie in der letzten Zeit häufiger von den Biestern träumte, hieß das nicht, dass ihre Fantasie mit ihr durchging. Schlangen krochen in Autos, weil es dort warm war. Diese Logik ließ sich nicht durch Wahnvorstellungen ersetzen, auch wenn ihre Eltern den Vorfall so zu erklären versuchten. Sie klammerten sich an Worte wie Trauma oder Schock und suchten die Ursachen dafür überall: in Nayas Skepsis gegenüber Claires Fahrkünsten (die sehr durchschnittlich waren) oder in jenem Tag vor über zehn Jahren, als sie sich am Touristenzentrum des Uluru-Kata-Tjuta-National-parks allein auf den Weg gemacht und wirklich eine Schlange gesehen hatte. Nur hier in Sydney mit all seinen Bewohnern vermutete niemand abstoßende Schuppenkörper mit lidlosen Augen und Giftzähnen. Beinahe so, als wäre Australien zweigeteilt und ein Teil streng vom anderen isoliert.
Naya biss die Zähne zusammen. Es war nicht nur Unsinn, so zu denken, sondern auch gefährlich. Wenn man die Augen vor Dingen verschloss, die einem nicht gefielen, gab man ihnen lediglich die Macht, zu wachsen und eines Tages zu einer wirklich unangenehmen Überraschung zu werden.
Sie holte tief Luft und wünschte sich zurück in die Zeit, als ihre Welt noch in Ordnung gewesen war. Die Zeit vor den Albträumen. Naya wusste nicht mehr, wann genau sie begonnen hatten, doch sie handelten stets von Schlangen. Nach jedem Traum wachte...