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von Almut
Care ist englisch und heißt auf Deutsch Sorge. >Sorge-Revolution< klingt nicht besonders heroisch, es klingt eher nach Socke oder nach Socken waschen. Trotzdem: Der Begriff >Care Revolution< erhält zu Recht in der deutschen feministischen Debatte immer mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht etabliert er sich inzwischen im Milieu der (radikalen) Linken, die in diesem Buch im Fokus steht, sogar als weithin geteilter politischer Grundkonsens. Care Revolution ist ein prominenter Slogan, er steht auf Transpis der Demos am 8. März, dem jährlichen Frauenkampftag. Care Revolution: Na klar! Aber wie sieht das denn jetzt genau aus, was bedeutet das heruntergebrochen auf den Alltag? Was steckt dahinter?
1968 z.B. war von Care Revolution noch nicht die Rede, sondern der Themenkomplex >Wer kümmert sich um wen und warum?< fiel unter den Begriff >Reproduktionsarbeit<. Der Begriff kommt aus der Marx'schen Gesellschaftsanalyse, die er in seinem Buch Das Kapital geleistet hat. Diese ergab, dass sich die kapitalistische Wirtschaftsweise vor allem für die Produktion von Waren interessiert.[2] Und in der bunten Warenwelt gibt es eine Ware, die vor den anderen heraussticht: Das ist die Ware Arbeitskraft. Für deren Produktion interessiert sich der Kapitalismus allerdings eher weniger, er setzt einfach voraus, dass es die Arbeitskraft gibt. Als Begriff für die Produktion dieser Ware führte Marx das Wort >Reproduktion< ein: Der Arbeiter muss seine Arbeitskraft >reproduzieren<.
Marxistische Feminist*innen der 68er-Bewegung haben sich aus gutem Grund genauer damit befasst, was sich hinter der besonderen Ware Arbeitskraft verbirgt: Wie bei Tomaten und Straßenlaternen ist es auch bei der Arbeitskraft so, dass sie nur hergestellt oder erhalten werden kann, weil jemand Arbeit in diese Ware gesteckt hat. Anders als bei Tomaten oder Straßenlaternen ist es jedoch so, dass die Ware Arbeitskraft unentgeltlich hergestellt wird, meist zu Hause, indem Frauen den Haushalt schmeißen, müde Füße massieren, den seelischen Müllabladeplatz bereitstellen und vor allem Kinder gebären und Alte pflegen. Reproduktion von Arbeitskraft heißt zum einen, dass die Ware Arbeitskraft für jeden folgenden Tag reproduziert wird. Arbeitsfähige Menschen, die gegessen und geschlafen haben und sich konzentrieren können, treten ihre Arbeit am nächsten Morgen wieder an. Zum anderen heißt Reproduktion, dass zukünftige Arbeitskräfte >hergestellt< werden, was bedeutet, dass sie geboren und großgezogen werden. Der Kapitalismus spaltet diese reproduktiven Tätigkeiten vom für ihn relevanten Teil (nämlich der Produktion) ab, so als seien diese reproduktiven Tätigkeiten völlig irrelevant für das System. Deshalb ist diese Arbeit nicht entlohnt. Auch Marx war jedoch schon klar: ohne Reproduktion keine Produktion. Wer nicht gefüttert und einigermaßen beisammen ist, kann auf Dauer keine Autos oder Dampfloks produzieren. Feminist*innen sagten nun selbstbewusst: All das Arschabwischen wird vielleicht nicht bezahlt, aber es ist Arbeit, Reproduktionsarbeit eben.[3]
Der Feminismus nahm in der 68er-Bewegung wieder Fahrt auf, und er stand im Zentrum der Bewegung.[4] Die damalige feministische Debatte startete mit zwei wesentlichen Forderungen: Erstens forderten Frauen Selbstbestimmung in jeglicher, vor allem in sexueller Hinsicht. Da, zweitens, die Reproduktionsarbeit, ohne die in der Gesellschaft gar nichts läuft, auf Kosten von Frauen und zum Privileg von Männern organisiert war, sollte sie radikal anders organisiert werden. Und wo findet Reproarbeit hauptsächlich statt? Genau, in der Familie. Diese Familie ist im Deutschland der Nachkriegszeit die bürgerliche Kleinfamilie, in der Regel: Vater, Mutter, Kinder.
Die 68er*innen erfanden die WG als Gegenentwurf zur Kleinfamilie. Einige davon waren Kommunen, wie die berühmten Kommune 1 und Kommune 2 in West-Berlin. Neben diesen männerdominierten WGs gab es aber auch zahlreiche Frauen- und Lesben-WGs. Die meisten WGs waren studentisch geprägt und urban. Wohngemeinschaften sind heute im studentischen Milieu etwas ganz Normales, aber damals, zur Zeit des Kuppel-Paragrafen, war das etwas Spektakuläres, bis dahin undenkbar: nicht in der Herkunftsfamilie oder der neu gegründeten >normalen< Familie zu leben, sondern mit scheinbar >Wildfremden<. Die Motivation, der Kleinfamilie den Rücken zu kehren, wurde von dem Drang befeuert, mit einer Elterngeneration zu brechen, in der die überwältigende Mehrheit ihre Nazivergangenheit nur zu gerne unter den Teppich kehren wollte. Das stützte die wachsende Erkenntnis, der zufolge die Kleinfamilie ein Hort von patriarchaler Macht war, in dem Mutti Ärsche abwischte und Vati das Geld ranschaffte. Die Kleinfamilie war die unmittelbare Institutionalisierung von männlicher Vorherrschaft, vom Vater an den Ehemann weitergereicht: Ohne Zustimmung ihrer Männer durften Frauen weder ein Bankkonto eröffnen, noch selbst bestimmen, wann sie Sex haben wollten. Es war gängig und galt als Erziehungsmittel, Kinder zu schlagen. Dabei reichten Erwachsene ihre Gewaltgeschichte - nicht nur aus der Nazizeit, sondern aus vielen vergangenen Generationen - direkt weiter. »Unter den >68ern< galt Familie als Auslaufmodell, kontaminiert mit dem braunen Gift der Nazis (.). Familienkritik wurde zu einem der wichtigsten Programmpunkte der westdeutschen Neuen Frauenbewegungen. Sie entlarvten die bürgerliche Kleinfamilie als ein Repressionsinstrument, das möglichst schnell durch neue Formen des Zusammenlebens ersetzt werden sollte« (Notz 2016, S. 101).[5] Einige Autor*innen waren sich Anfang der 70er-Jahre recht sicher, dass sich die Kleinfamilie glücklicherweise bald erledigt haben würde.
Da es feministischen Frauen nun im Wesentlichen nicht darum ging, mehr Schulterklopfen für die Reproduktionsarbeit zu bekommen, sondern die Gesellschaft in dieser Hinsicht umzustülpen, wurde ihre Kritik für linke Genossen unbequem. Obwohl die meisten linken Männer der feministischen Kritik in der Theorie nicht nur zustimmten, sondern sie ja auch mit ausformulierten, stand die dazu passende Praxis auf einem anderen Blatt. Ziemlich schnell wurde klar: Die Theorie wischt der Praxis nicht den Arsch ab.[6]
Frauen standen mit der Reproarbeit im Alltag alleine da, ohne ihre feministischen Genossen. Die sexuelle Befreiung dagegen wurde von linken Männern auch praktisch vorangetrieben. Allerdings deuteten Männer >Befreiung< regelmäßig in sexuelle Verfügbarkeit um. Auch sonst wuchsen die Ansprüche, die an linke Frauen gestellt wurden, die sich von der Heimchen-am-Herd-Rolle befreien wollten:[7] »Sie sollten lohnabhängig und politisch aktiv leben, weiterhin alleine die Reproduktionsarbeit übernehmen, zugleich aber sexuell >emanzipiert< bzw. verfügbar sein.« (Adamczak 2017, S. 196). Deshalb gab es nicht nur Kritik an der bösen Gesellschaft außerhalb der linken Bewegung, sondern eben auch innerhalb - an den eigenen Genoss*innen in den politischen Gruppen und WGs.
Feminist*innen besaßen also die Klugheit, nicht nur die Gesellschaft samt Kleinfamilie zu hinterfragen und zu kritisieren, sondern auch das Gefüge in der linkspolitischen Bewegung. Es schien an der Zeit, das Verständnis davon, was eigentlich >Politik< ist, radikal zu hinterfragen. Daraus wurde die zentrale Losung geboren: »Das Private ist politisch.« Politik sei eben nicht nur als Hobby in der Freizeit zu betreiben. Politik finde nicht nur in der Politgruppe, dem Theoriezirkel oder auf einer Demo statt, sondern auch im eigenen Leben und im Alltag. Und überzeugt werden müssen nicht nur andere Leute, wie z.B. >die Arbeiter<, sondern alle, an sich selbst zu arbeiten. Das war ein Paradigmenwechsel. »Mit dem Postulat, dass das Private (auch) politisch ist, wurde ein anderes Verständnis des Politischen eingeklagt (.). Die Klarstellung, >dass diese Privatsache keine Privatsache ist< (Ulrike Meinhof 1968), richtete sich gegen ein bloßes Hinzuaddieren des >Privaten< zum >Öffentlichen<, das sich weiterhin an patriarchalen Normen orientierte« (Notz 2016, S. 103). Mit anderen Worten: Es sollte nicht länger Privatsache sein, wenn Männer auf dem Plenum Marx diskutierten, während ihre Partnerinnen den Haushalt machten, Kinder betreuten oder Schnittchen schmierten. Diese Aufgabenteilung ging nicht mehr durch als >private Entscheidung< der Paare oder Frauen, sondern sie wurde als politischer Tatbestand entlarvt, der zu kritisieren war, da er Ausdruck von strukturellen männlichen Privilegien und der gesellschaftlichen Herabsetzung von Frauen war. Es ging somit darum, alles, was vormals als unhinterfragte Normalität oder als private Entscheidung galt - wer macht sauber, wer betreut die Kinder, wer geht Geld verdienen usw. -, zur Diskussion zu stellen.
Diese Erkenntnis musste Konsequenzen für das Zusammenleben in Familien und in den neuen linken Lebenszusammenhängen haben, gerade auch in jenen mit Kindern. Es war die Ankündigung einer Art von Revolution, die nicht nur die kapitalistische Vergesellschaftung umstülpen wollte, sondern die patriarchale gleich mit - eine tiefgreifende...
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