Schweitzer Fachinformationen
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Hannas Schuhe quietschten auf dem blankpolierten Linoleumboden. Ein dumpfer Geruch nach Desinfektionsmitteln und Kantinenessen lag in der Luft. Sie rümpfte unwillkürlich die Nase. Wie jemand bei diesem Geruch gesund werden sollte, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen. Krankenhäuser deprimierten sie, und dieser Geruch trug entschieden dazu bei.
Gestern war ihr Vater ins Krankenhaus gekommen. Insgeheim hatten sie schon lange damit gerechnet. Seine zweite Frau Ilse, Hannas und Monikas Stiefmutter, war vor zwei Jahren gestorben. Daraufhin hatten Hanna und ihre Schwester Monika den Vater so gut es ging zunächst in seinem Haus versorgt. Er hatte ihnen schon vor Ilses Tod Sorgen bereitet. Zuerst war ihnen nur seine Vergesslichkeit aufgefallen. Es kam vor, dass er verzweifelt im ganzen Haus seine Brille suchte, und wenn er schließlich eine seiner Töchter um Hilfe bat, stellte sich heraus, dass sie in der Brusttasche seines Hemdes steckte. Diese Vorfälle häuften sich, und bald kam es immer wieder zu Aussetzern. Er ging zum Einkaufen in den Ort und kam stundenlang nicht wieder, weil er den Weg nicht mehr fand. Eine Geschichte hatte sich Hanna besonders eingeprägt. Vor zweieinhalb Jahren hatte die Nachbarin ihn mitten im Winter sogar am Hauptbahnhof in Köln aufgegabelt. Er wusste nicht mehr, wie er dorthin gekommen war, und noch viel weniger wusste er, wo er hinwollte.
»Stell dir vor«, hatte sie zu Hanna gesagt, »da stand er da, inmitten all der Menschen in der Bahnhofshalle, und als ich ihn ansprach, da erkannte er mich nicht und guckte mich nur misstrauisch an. Er hatte seine Einkaufstasche dabei, aber er war viel zu leicht angezogen für die Jahreszeit, und dann hatte er auch nur Hausschuhe an.«
Geistesgegenwärtig hatte sie ihn untergehakt und ihm erklärt, dass sie jetzt ein bisschen spazieren fahren würden. Als sie ihn ablieferte, erzählte sie mit einer Mischung aus Erheiterung und Besorgnis, er habe gemeint, er würde sie zwar nicht kennen, aber sie sei ihm sympathisch, und deshalb käme er gerne mit. Was für ein Glück, dachte Hanna noch heute, dass Frau Schneider ihm begegnet war. Es hätte ja Gott weiß was passieren können.
Trotzdem war das alles noch vergleichsweise harmlos. Ilses Tod gab ihm dann sozusagen den Rest. Ständig kam es vor, dass er seine Töchter mit seiner Frau verwechselte, die Enkelkinder nicht mehr erkannte, und Monikas Mann schlug er einmal die Tür vor der Nase zu, nachdem er ihn angeschrien hatte, wenn er ihn beklauen wolle, müsse er schon früher aufstehen. Es war unmöglich, ihn weiter alleine in dem großen Haus wohnen zu lassen. Und der polnischen Pflegekraft, die seine Töchter eingestellt hatten, konnte er schon gar nicht mehr zugemutet werden. Immer häufiger fanden Hanna und ihre Schwester sie in Tränen aufgelöst vor, wenn sie zu ihrem Vater kamen. »Ich habe Opa lieb«, sagte die Frau zu Hanna, »aber er versucht immer, mich zu schlagen.«
Es war schwierig, einen geeigneten Heimplatz für den Vater zu finden. Zunächst hatten sie noch gehofft, dass er in einer Wohngruppe für Demenzkranke möglichst lange den Schein eines normalen Alltags aufrechterhalten könne, aber schließlich mussten sie einsehen, dass er eine Gefahr für sich und die Umwelt wurde. Monika fand ein geeignetes Heim für Demenzkranke, und dort bekamen sie einen Pflegeplatz für ihn. Bevor er jedoch dort aufgenommen werden konnte, war er so schwer gestürzt, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste.
»Papa?« Hanna öffnete die Tür zu dem Einzelzimmer, in dem ihr Vater lag.
Wie zusammengeschnurrt lag er in dem Gitterbett, das am Fenster stand. Hannas Herz zog sich vor Kummer und Liebe zusammen, als sie ihren Vater so daliegen sah. Man hatte zwar darauf verzichtet, ihn zu fixieren, weil er seit dem Sturz bewusstlos war, aber ihn in diesem vergitterten Bett liegen zu sehen, war schrecklich.
Hanna trat zu ihrem Vater und ergriff seine Hand, die reglos auf der Bettdecke lag. Sie war kalt, aber sein Brustkorb hob und senkte sich noch, und das Überwachungsgerät neben seinem Bett zeichnete den Herzschlag auf. Um den Kopf hatte er einen dicken Verband, und der dünne Schlauch aus seiner Nase, der mit einem Beutel am Infusionsgalgen verbunden war, zeugte davon, dass er über eine Magensonde künstlich ernährt wurde.
»Ach, Papa«, sagte Hanna bekümmert, »wenn du mich nur hören könntest. Wir brauchen dich doch, Monika und ich. Und die Kinder brauchen ihren Opa. Du kannst doch nicht einfach hier so still im Bett liegen. Du musst wieder gesund werden.« Ihr war klar, dass sie Unsinn redete. Demenz war ja nicht heilbar, und letztendlich ging es gar nicht um seine Kopfverletzung. Aber tief im Inneren hoffte sie immer noch, dass er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen, sie ansehen und wieder derselbe sein würde wie früher. Ihr großer, starker Vater, den sie über alles liebte.
In diesem Moment atmete ihr Vater rasselnd tief ein und aus. Hanna hob hoffnungsvoll den Kopf. Aber er öffnete nicht die Augen, und das Überwachungsgerät piepste unbeeindruckt weiter.
Als sie das Zimmer verließ, kam ihr ein junger Arzt entgegen. »Entschuldigung«, sagte Hanna, »können Sie mir Auskunft zum Zustand meines Vaters geben? Friedrich Graf?«
»Tut mir leid, ich bin nicht von dieser Station«, antwortete der Mann, ohne stehen zu bleiben. »Wenden Sie sich bitte an die Stationsschwester.«
Das tat Hanna, und nach einigem Hin und Her stand sie schließlich im Vorzimmer des Chefarztes, der kurz an der Tür erschien und ihr, zwar nicht unfreundlich, aber doch kurz angebunden und sichtlich unter Zeitdruck, erklärte, es gebe leider keine Hoffnung mehr auf Besserung. Er sagte es nicht explizit, aber es hörte sich trotzdem so an, als würden sie hier im Krankenhaus jeden Tag mit dem Ableben des Patienten rechnen.
»Wir haben getan, was wir konnten«, fügte er hinzu. »Aber Ihr Vater ist, abgesehen von den Sturzverletzungen, in einer schlechten körperlichen Verfassung, nicht zuletzt durch die ausgeprägte Demenz. Wir können leider nicht davon ausgehen, dass er noch einmal aufwacht.«
Hanna schluckte. »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte sie. Ein wenig hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Aber Sie wissen ja, wie das ist - irgendwie glaubt man doch immer an Wunder.«
Der Arzt sah nicht so aus, als würde er daran glauben, aber er nickte höflich und sagte: »Ja, sicher, aber in diesem Fall kann ich Ihnen leider nichts Positives sagen. Bleiben Sie so lange bei ihm, wie Sie möchten. Wir können nicht ausschließen, dass er Ihre Nähe doch noch spürt.« Schon halb im Gehen fügte er hinzu: »Es tut mir leid, Frau Guenther.«
Hanna schaute auf die Uhr. Es war elf Uhr abends. Seit vier Stunden hielt sie jetzt Nachtwache am Bett ihres Vaters. Die Kinder waren bei Ute, ihrer besten Freundin, die es sich seit Hannas Scheidung nicht nehmen ließ, Hannas Töchter wie ihre eigenen zu versorgen. Hanna hatte sich für die kommenden Tage Urlaub genommen. In der Zahnarztpraxis, in der sie arbeitete, hatten alle Verständnis dafür, dass sie bei ihrem Vater sein wollte. Monika würde sie morgen früh um sechs ablösen, aber heute Nacht wollte Hanna mit ihrem Vater alleine sein. Sanft streichelte sie seine reglose Hand und betrachtete ihn.
Sie hatte als Kind nichts vermisst. Geliebt von Vater und Stiefmutter, mit einer großen Schwester, die sich fast so liebevoll wie eine Mutter um sie kümmerte, hatte sie eine sorglose, schöne Kindheit gehabt. Alle waren lieb zu ihr, lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. An ihre wirkliche Mutter, deren gerahmtes Porträtfoto im Flur zwischen den Türen der Kinderzimmer hing, konnte Hanna sich nicht mehr erinnern, weil sie noch zu klein gewesen war, als sie starb. Es redete auch kaum jemand von ihr. Ilse nicht, weil sie sie gar nicht gekannt hatte. Monika, die große Schwester, nur äußerst selten. Hanna vermutete schon früh, dass es ihr weh tat, von der Mutter zu erzählen, und sie ließ sie in Ruhe. Sie wollte nicht, dass Monika sich damit quälte.
Aber vor allem redete der Vater nicht von ihr. Mit Ilse, seiner zweiten Frau, hatte das nichts zu tun. Er hatte schon in den ersten Jahren nach ihrem Tod kaum von ihr gesprochen. Dass er das Bild der Mutter im Flur aufgehängt hatte, war das Äußerste, was er an Erinnerung zuließ. Vielleicht hielt er es für falsch, zu viel über sie zu reden, dachte Hanna manchmal. Vielleicht wollte er keine alten Wunden aufreißen. Auch Fotos gab es kaum. In ihrer Familie wurde nicht, wie in anderen, ausgiebig gefilmt oder fotografiert. Es gab ein einziges Foto von der Hochzeit, auf dem ihre Mutter wie eine schöne fremde Frau an der Seite ihres Vaters stand. Aber das fand Hanna eher zufällig, als sie in der Schreibtischschublade ihres Vaters herumkramte. Und als sie die Schublade das nächste Mal aufzog, war es nicht mehr da.
Als Hanna ein Teenager war, hatte sie viel darüber nachgegrübelt und sich manchmal auch Ute, die schon damals ihre beste Freundin war, anvertraut, wenn einer dieser langen Nachmittage, an denen sie kichernd die Köpfe zusammengesteckt und BRAVO gelesen hatten, in den frühen Abend überging, es draußen langsam dunkel wurde und Hanna die Teelichter auf der Fensterbank anzündete, um es im Zimmer gemütlich zu machen. »Ich wüsste schon gerne, ob ich ihr ähnlich bin, also nicht nur im Aussehen, sondern auch vom Wesen her. Ich habe so gar keine Vorstellung davon, wie sie war. Es ist komisch, nichts über seine Mutter zu wissen.«
»Warum fragst du nicht einfach deinen Vater?«, hatte die pragmatische Ute vorgeschlagen.
Hanna hatte abgewehrt. »Nein, er sagt ja sowieso nichts. Und Ilse will ich auch nicht fragen....
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