1. In die Jahre gekommen
»Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Verdammt!« Lou fluchte. Sie war sowieso schon spät dran, und gerade heute sprang der alte Fiat Punto ihrer Tante Martha einfach nicht an. Dabei hatte der in die Jahre gekommene Kleinwagen stets nur etwas geröhrt und geklappert, seit Lou Marthas Friseursalon übernommen hatte. Nun schien der goldene Flitzer aber entschieden zu haben, vorerst in Rente zu gehen. Egal, wie sehr Lou am Schlüssel rüttelte, ob sie ihn zärtlich oder mit Schwung drehte, der Motor ächzte nur noch schwach.
»Ist ja gut, alte Dame«, sprach Lou mehr zu sich selbst als zu dem Auto, in dem sie saß. Noch wollte sie nicht aufgeben. »Wir versuchen es ein letztes Mal, okay? Wenn du jetzt lieb angehst, fahren wir auch mal wieder durch die Waschstraße - sogar mit extra Politur und Innenreinigung. Nur für dich. Das wäre doch was, oder?« Lou fühlte sich wie in einer schlechten Daily Soap, als sie nun auch noch das Lenkrad tätschelte, aber wenn das schon bei Pflanzen half, dann vielleicht auch bei Autos.
Mit geschlossenen Augen drehte sie den Schlüssel noch einmal. Sie schob die Augenbrauen zusammen, in der Hoffnung, dass gleich das gewünschte Aufheulen des Motors in der Garage zu hören war, doch das Einzige, was der Kleinwagen herauspresste, war ein abgekämpftes Röcheln.
»Das klingt aber gar nicht gut.«
Lou stieß einen spitzen Schrei aus, als sie das Gesicht von Mary-Ann neben der Fahrertür entdeckte. Mühsam kurbelte sie das Fenster herunter. »Du kannst mich doch nicht so erschrecken«, sagte sie vorwurfsvoll zur besten Freundin ihrer Tante, die mittlerweile auch eine sehr gute Freundin von ihr selbst geworden war und sie tatkräftig im Friseursalon Glückssträhne unterstützte, solange Tante Martha auf Weltreise war - oder auf Bali. Denn anstatt wie geplant weiterzureisen, hatte sie es sich nun schon einige Zeit auf der Insel gemütlich gemacht und tingelte von einem Yoga-Retreat zum nächsten.
»Ich glaube, das war's mit der goldenen Rakete hier. Soll ich dich fahren?«, antwortete Mary-Ann, ohne weiter auf die aufgewühlte Lou einzugehen.
»Bestimmt ist nur die Batterie leer«, sagte Lou trotzig. Das konnte sie gerade gar nicht brauchen. Seit sie von ihrem Besuch in München auf dem Oktoberfest zurückgekehrt waren, hatte sie echt Pech gehabt. Erst hatte das Kassensystem der Glückssträhne versagt, dann hatte ihr Handy den Geist aufgegeben und jetzt auch noch das Auto?
»Ich sag's ja.« Mary-Ann zuckte mit den Schultern. »Merkur ist wieder rückläufig, und die ganze Elektronik spielt verrückt.«
Lou seufzte. Das war typisch, sobald etwas nicht wie geplant verlief - im Guten wie im Schlechten -?, führte Mary-Ann es auf irgendwelche Planetenkonstellationen zurück. Was passierte als Nächstes? Machte Pluto bald den doppelten Rittberger, und sie würden gezwungen sein, ihr Leben lang rückwärts zu gehen? Hoffentlich nicht.
»Na, dann muss ich meinen Zahnarzttermin wohl verschieben. Das schaffe ich jetzt auf keinen Fall mehr.«
Mary-Ann sah auf ihre Armbanduhr. »Ich könnte dich fahren. Mein nächster Kunde kommt erst um vierzehn Uhr.«
»Danke, aber ich denke, es ist besser, wenn ich direkt die Werkstatt informiere. Vielleicht ist es die Tage dann schon wieder fertig.«
»Ganz bestimmt. Der Toni macht den kleinen Fiat hier sicher schnell wieder flott.«
Das blieb zu hoffen. Denn auch wenn Lou in Obertanndorf und Umgebung stets ihr Fahrrad benutzte, war sie doch auf ihr Auto angewiesen, spätestens wenn sie zum Zahnarzt oder zu anderen Terminen nach Lindau musste.
Glücklicherweise war der Termin schnell verschoben, und seitens der Zahnarztpraxis herrschte viel Verständnis für Lous Situation. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis endlich ein Mechaniker von Tonis Topgarage, der einzigen KFZ-Werkstatt weit und breit, vor Marthas goldenem Fiat stand und den Wagen genau inspizierte. Vor Ort ließ sich jedoch weder der Schaden ausmachen noch etwas am Wagen richten, also wurde er kurzerhand abgeschleppt. Nachdem Lou alle Formalitäten geklärt hatte und der Wagen aus der Garage gerollt war, ging sie in die Glückssträhne.
Mary-Ann war bereits mit ihrem nächsten Kunden beschäftigt, und ein weiterer Herr saß in der gemütlichen Sitzecke im hinteren Bereich des Salons und schien ganz vertieft in eine Zeitschrift zu sein.
»Hallo, Herr Breuer. Schön, Sie zu sehen. Folgen Sie mir gern nach vorne zum ersten Spiegel.« Der Mann schreckte auf, rollte seine Zeitschrift zusammen und ging mit ihr durch den Salon.
»Wir können uns gern duzen. Jetzt kennen wir uns ja auch schon ein Weilchen. Ich bin der Gerd.« Das stimmte. Bisher hatte Lou den freundlichen Herrn Breuer allerdings nur dann getroffen, wenn sie in seiner Fabrik beim Lagerverkauf gewesen war. Im Dorf schien man ihn eher selten anzutreffen, als sei das kleine Obertanndorfer Industriegebiet hinter dem nördlichen Waldstück eine ganz andere Welt.
»Aber klar, gerne.« Lou rückte den Stuhl ein wenig vom Spiegel weg, damit Gerd sich setzen konnte.
Er legte seine Zeitschrift auf die Ablage vor dem Spiegel und fragte Lou nach etwas zu trinken. Nachdem sie ihn mit Kaffee und Wasser versorgt hatte, widmete Lou sich seiner Frisur, die streng genommen keine war. Der Mann trug seine dicken, welligen Haare zu einem langen Zopf gebunden.
»Also, was machen wir heute?«, fragte Lou ihren Kunden und löste das Zopfband.
»Ich würde meine Haare gern spenden ... also verkaufen. Was würde ich denn dafür bekommen, wenn ich meinen ganzen Zopf abgebe?«
Lou runzelte die Stirn und rollte mit ihrem Drehstuhl ein wenig nach vorn, um den Mann direkt anschauen zu können, anstatt mit seinem Spiegelbild zu sprechen. »Leider kann ich dir das nicht sagen, weil wir selbst nur Haare auf Spendenbasis annehmen. Wir arbeiten mit einer großartigen Organisation zusammen, die alle Haarspenden zu Perücken für krebskranke Kinder verarbeitet. Ich kann dir gern einen Flyer geben.«
»Also weißt du nicht, wie viel ich für meine Haare bekommen würde?«
Lou schüttelte den Kopf. »Leider nicht genau. Ich würde aber schätzen, dass es nicht mehr als hundertfünfzig Euro sein werden.«
Gerd Breuer räusperte sich, bevor er einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee nahm. »Dann würde ich gerne einmal nur die Spitzen schneiden. Föhnen kann ich selbst.«
»Wir bieten nur Komplettpakete an. Waschen-Schneiden-Föhnen für dreißig Euro.«
»Okay«, stammelte er. »Dann das.«
Lou wusch ihm die Haare und gab sich mit ihrer Kopfmassage extra Mühe. Vielleicht würde ihn das überzeugen, einmal öfter zum Spitzenschneiden vorbeizukommen oder sogar seine Haare doch noch zu spenden.
Zurück am Platz, widmete sich der Mann sofort wieder seiner Zeitung. »Interessierst du dich für Finanzen?«, fragte Lou, die über seine Schulter hinweg bemerkte, dass er einen Artikel über verschiedene Kreditarten las.
»Wer tut das nicht?«, fragte Gerd und sah auf.
Lou zuckte mit den Schultern. »Ich zum Beispiel.«
»Das solltest du besser, sonst geht es dir bald genauso wie mir.«
Lou ließ die Schere sinken und sah ihm durch das Spiegelbild direkt in die Augen. Ihr war klar, dass Gerd Breuer gerade mehr preisgegeben hatte, als ihm lieb war. Er räusperte sich noch einmal, bevor er weitersprach. »Sorg besser vor. Mein Tipp.«
»Geht es um Smiling Cats?«
Gerd Breuer nickte. »Ich musste Insolvenz anmelden, und wenn kein Wunder geschieht, muss ich meine Mitarbeiter zum Ende des Monats entlassen und das Werk schließen.«
Obwohl sie es nicht wollte, blieb Lou der Mund offen stehen. Das konnte doch nicht stimmen. Smiling Cats war doch nicht nur in Süddeutschland eine beliebte Katzenfuttermarke. Selbst ihre Mutter in Frankfurt hatte sie früher für ihre Katzen gekauft.
»Aber warum?«
»Diese verdammte Biozertifizierung war einfach viel zu teuer, dann noch einige Lieferengpässe. Smiling Cats war in manchen Filialen wochenlang nicht zu haben. Die Märkte haben es zum Teil ersatzlos gestrichen. Jetzt, wo ich wieder liefern kann, haben wir ein volles Lager, aber keine Abnehmer.«
»Aber da muss es doch eine Lösung geben.«
»Wenn ich eine hätte, würde ich nicht darüber nachdenken, meine Haare zu verkaufen. Obwohl ich genau weiß, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein wäre. Seit ich selbst entscheiden kann, habe ich lange Haare. Sie gehören zu mir wie mein linker Fuß. Genauso wie mein Oldtimer. Ich musste auch schon darüber nachdenken, ihn zu verkaufen ... Wahrscheinlich würde nicht mal das Geld reichen.« Er rang sich ein mattes Lächeln ab, doch Lou war zu geschockt, um es nur ansatzweise zu erwidern.
»Ich hab da eine Idee«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter Lou. Mary-Ann hatte...