Schweitzer Fachinformationen
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Sondersammlungen
Jude gab seine Kurse in Technikdesign und Kommunikation schon so lange online, dass sich der temporäre virtuelle Seminarraum wie eine dauerhafte Einrichtung anfühlte. Alle ein, zwei Jahre schlug jemand aus dem Fachbereich Präsenzunterricht vor, aber Jude war nicht weiter überrascht, wenn der Ausnahmezustand dann doch wieder um ein Jahr verlängert wurde und sie weiter vergeblich auf eine Rückkehr zur Normalität warteten.
Sein Büro besuchte Jude nur noch selten. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten, die er regelmäßig an Eighteenth-Century Speculum schickte, brauchte er jedoch nach wie vor Bücher. Daher machte er sich an einem regnerischen Dienstag auf den Weg zum Campus, vorbei an einstmals ganz in Gold erstrahlenden, inzwischen völlig dunklen Wohntürmen. In den 90ern, als er hier studiert hatte, war der Campus üppig bewaldet gewesen. Heute stand dort sterbender Rhododendron, und vom Waldrand her rückte Brombeergestrüpp auf den Universitätsclub vor.
Jude vermisste die vertrauten Landmarken seiner eigenen Studienzeit. Trommelgruppen. Ausstellungen von Schreckensbildern. Kreidelinien, die den Meeresspiegel im Jahr 2100 markieren sollten. Einmal war er, maßlos breit, mitten auf dem Innenhof eingeschlafen, Überwachen und Strafen aufgeschlagen auf der Brust, während ringsum der Tag begann und verging. Als er sich endlich zum Bus schleppte, war es fünf Uhr, und die Sonne hatte ihm das Buch in die Haut gebrannt.
Seinen Studierenden erschien dieses vergangene Zeitalter unglaublich, ja sogar empörend, ein frivoler Lebensstil, für den sie einen entsetzlich hohen Preis zahlten. Sie dagegen strebten Abschlüsse in Katastrophenmanagement oder experimenteller Landwirtschaft an und absolvierten Praktika in den Sümpfen der ehemaligen Tundra, fest entschlossen, das zu überleben, was auf die Welt zukam. Falls es ihnen nicht gelang, sie zu retten.
Inzwischen war er daran gewöhnt, dass sie per E-Mail oder im Chat zunehmend wütende Fragen stellten: Was spielt es für eine Rolle, ob Subjekt und Verb zusammenpassen, wenn es mir um Qualitätskontrolle in einem Kernkraftwerk geht? Was bitte bedeutet mir das aristotelische Ethos, wenn ich Photovoltaik-Anlagen auf der Schnellstraße nach Fort Mac oder einen Windpark auf dem Eriesee baue? Vor zwanzig Jahren hatte er ihnen noch Vorlesungen über Standards der Kommunikation bei komplexen Infrastrukturprojekten gehalten und ihnen erklärt, dass sie ihr gesamtes Berufsleben mit Schreiben verbringen würden und es daher gründlich lernen sollten. Jetzt hatte er keine Antworten mehr zu bieten, mit denen sie etwas anfangen konnten.
Der Lichtschalter im Flur funktionierte nicht. An dem Schwarzen Brett neben seiner Bürotür hing ein Plakat für eine Vorlesung, die vor sechs Jahren stattgefunden hatte. Er hatte hingehen wollen. War aber nicht hingegangen.
Die Bibliothek hatte wundersamerweise geöffnet. Drinnen setzte er den Fuß auf die Treppe zum Freihandbereich .
»He, Sie!«
Er drehte sich um. Eine Frau zeichnete sich als Schatten gegen den hellen Eingang ab. Sie hatte beide Hände voll: Eiscremebehälter, Putzeimer, einer noch mit dem alten Logo von Canadian Tire.
»Weiter«, sagte sie und ging an ihm vorbei. »Nach oben, solange noch Zeit bleibt. An der Südwestecke sickert es schon rein. Wir werden alles von Deleuze und Guattari verlieren.«
Wortlos nahm er die Gefäße, die sie ihm in die Hände drückte, und folgte ihr. Es war lange her, dass er mit jemandem geschwatzt hatte, dem er zufällig begegnete, ein kurzes Nicken, wenn man sich über den Weg lief, das Versprechen, demnächst einen Kaffee zusammen zu trinken. Ihm wurde bewusst, dass er noch gar nichts gesagt hatte. »Sind Sie jeden Tag hier?«
»Mehr oder weniger. Was suchen Sie denn?«
»Oh.« Er musste nachdenken, den Blick auf den Stapel Eiscremebehälter in seinen Armen gerichtet. »Band sieben der Twickenham-Ausgabe von Pope.«
Es war schön, mit jemanden zu plaudern, wie es früher üblich gewesen war, bevor die Welt in diesen schrecklichen Zustand geriet, jede Begegnung Risiken barg und die jungen Leute angesichts des geballten Leids der Welt die Freude am Gespräch verloren.
»Warum tragen wir Eimer nach oben?«
Als sie das oberste Stockwerk erreichten, sah er eine zerbrochene Fensterscheibe, die jemand mit Müllsäcken und Pappe repariert hatte. Berenice. So hieß sie. Einen Doktortitel in Informationstheorie von irgendeiner großen amerikanischen Uni. Sie führte ihn in einen Winkel, wo die Decke aufgequollen war und schwarz verfärbt.
»Es hat sich vermutlich wochenlang angesammelt, und heute ist es durchgebrochen. Ich habe die ganze Nacht Eimer geleert.«
Es roch nach altem, feuchtem Papier. Unter den dumpfen, erdigen Gerüchen lag aber auch etwas Frisches. Regen. Hier drinnen hatte es noch nie nach Regen gerochen.
»PR3620.F03«, rief sie ihm über die Schulter zu.
»Natürlich.« Er stellte die Eisbehälter ab und ging an den Regalen entlang bis PR3620. Seine Schritte schienen ihm so laut, dass er vorsichtig auftrat, als könnte er Studierende stören. Dabei besuchte längst niemand mehr den sonnigen Winkel dort am anderen Ende, den mit der Bank, auf der man sich - wenn man früh genug kam - zu einem Schläfchen ausstrecken konnte. Bei den PR3600ern war es fast trocken. In dieser Ecke, fiel ihm plötzlich ein, hatte er sich einmal mit einer Freundin gestritten, sie hatten sich in lautem Flüsterton Beleidigungen an den Kopf geworfen, bis jemand, der sich auf ein Examen vorbereitete, sie gestresst zum Schweigen gebracht hatte. Die Twickenham-Ausgabe hatte überlebt, war aber vor Feuchtigkeit gewellt. Die kurze Illusion von Normalität löste sich auf. Hinter der nächsten Ecke trieben womöglich Enten zwischen den Arbeitstischen, oder die Fluchttreppe war zum Wasserfall geworden.
Berenice saß im Erdgeschoss an einem mit Papier übersäten Schreibtisch beim Fenster. Ihr Laptop leuchtete.
»Weiß denn niemand Bescheid?«, fragte er, während er die Bücher ablegte.
»Ich habe es gemeldet, aber es ist kein Geld da, und ich bin nicht mal sicher, ob es noch jemand gibt, der antworten könnte. Vermutlich stapeln sich die Nachrichten irgendwo in einem riesigen Postfach voll ungelesener Berichte über den Verfall der McPherson-Bibliothek.«
»Dann sind Sie die Einzige hier?«
»Ein paar Studierende helfen aus. Manchmal kommt auch jemand von den Fakultäten vorbei. Erinnern Sie sich an Dr. Cho? Der Milton-Experte? Als es im September so stark regnete, hat er die verstopften Abflüsse im Untergeschoss mit der Spirale traktiert. Der Ärmste war tagelang völlig durchnässt, aber er hat es geschafft. Ich hätte das nicht gekonnt.«
Er setzte sich auf den staubigen Plastikstuhl neben dem Schreibtisch. »Und was machen wir jetzt?« Er kam sich hilflos vor und merkte zugleich, dass sein Tonfall, völlig grundlos, etwas vorwurfsvoll klang.
Sie schien auf die Frage vorbereitet zu sein, und ihre Antwort war schmerzhaft ehrlich: »Die Sammlung als Ganzes lässt sich nicht erhalten. Ein paar Leute im Ruhestand wollen aushelfen. Und Studierende, die noch in der Stadt sind. Ich arbeite an einer Liste. Wir müssen alles dokumentieren, und wir brauchen einen Plan, wie wir Exemplare auf mehrere Orte verteilen. Wir sollten davon ausgehen, dass wir vieles ganz verlieren.«
»Ich könnte Ihnen mit den undichten Stellen helfen«, sagte er, als hätte er nicht genau verstanden, wovon sie sprach, »wir könnten durch die Decke nach oben steigen .«
». aber das Gebäude ist nicht zu retten.« Sie sagte es erstaunlich sanft. »Nicht wenn wir langfristig denken. Und wir sollten übers nächste Semester hinausdenken, oder auch übers nächste Jahr. Selbst wenn die Satelliten funktionieren, werden die Verbindungen immer wackliger - Sie wissen doch, was nach dem letzten Erdrutsch im Landesinneren passiert ist. Wir werden wieder Bücher brauchen, zumindest für einige Zeit. Vielleicht auf Dauer. Aber dann dürfen die Bücher nicht zu Brei geworden und auf dem Campus weggesperrt sein.«
»Und was retten wir? Außer Pope natürlich?«
»Pope. Und alles über Tierhaltung. Geographie. Geologie. Wie man Zähne zieht. Wie man einen Bauernhof führt.« Jetzt lachte sie. »Einen Einödhof!«
Jude fröstelte, aber es war kein neues Frösteln: Es begleitete ihn seit Jahren. Die Kälte war ihm unter die Haut gekrochen, als er begriffen hatte, dass die Welt, für die er geschaffen war, rings um ihn zerfiel. Und er würde mit ihr untergehen, er würde immer noch von Cafés und WLAN träumen, während sich die jungen Leute darauf einstellten, in den neuen Wäldern zu leben, die schon jetzt die verlassenen Wohnblöcke am Stadtrand überwucherten.
Im ersten Winter ihrer verschworenen Gemeinschaft fühlte Jude sich beflügelt und erschöpft zugleich. Trotz Dr. Chos Einfallsreichtum verloren sie während der Regenfälle im April das Untergeschoss und sperrten die Galerien, die alte Kompaktanlage und den Mikrofiche-Bereich dauerhaft zu.
Die Bibliothek verfiel, und die Verbindungen über die Berge nach Alberta wurden mit jedem Hochwasser und jedem Erdrutsch unzuverlässiger. Aber dann dachte er daran, wie es sich anfühlte, Kindred oder The Fleece zu lesen oder eins von tausend anderen Büchern, und eine zarte, strahlende Hoffnung erfüllte sein Herz. Er dachte an die nie digitalisierten Tonaufnahmen im Archiv in der Innenstadt, auf Meereshöhe, all die Stimmen, und fragte sich, was wohl aus ihnen werden würde; er stellte...
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