Schweitzer Fachinformationen
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Unsere Lebenslage ist dadurch gekennzeichnet, dass das menschliche Leben keine einfach natürliche Vorgegebenheit oder selbstverständliche Gegebenheit mehr ist, sondern in weitestem Umfang beeinflussbar und dadurch radikal fraglich geworden ist.
Trotz bleibender Begrenzung sind die Grenzen des Lebens dem menschlichen Zugriff nicht mehr entzogen. Wir sind heute nicht nur in der Lage, durch vielfältige Möglichkeiten der Geburtenkontrolle den Beginn eines neuen Lebens selber zu planen, sondern durch biochemische Eingriffe in die Genstruktur (Genmanipulation) sogar die physischen Eigenarten und charakterlichen Eigenschaften werdenden menschlichen Lebens zu beeinflussen. Der Aufschwung der medizinischen Wissenschaft hat die Dauer und die Fähigkeit menschlichen Lebens in für vergangene Zeiten ungeahnter und unvorstellbarer Weise dem Zufall der Natur wie der scheinbaren Unabänderlichkeit des Schicksals entrissen und in die Hände ärztlicher Kunst gelegt. Namentlich die seit Dezember 1967 vorgenommenen Herztransplantationen haben Meinungen, die dieses Organ als das unauswechselbare göttliche Zentrum des menschlichen Lebens betrachteten, hinfällig werden lassen. Selbst die Möglichkeit, selber Leben zu produzieren und damit den Homunculustraum der Menschheit zu verwirklichen, scheint nicht mehr ausgeschlossen.
In einem eigentümlichen Kontrast läuft mit der fast ins Unbegrenzte wachsenden Fähigkeit, gestaltend in das Leben einzugreifen, die zunehmende Unfähigkeit parallel, den Sinn des Lebens zu begreifen. Das sinnlose und grauenhafte Morden und Sterben in den beiden Weltkriegen hat für zahllose Menschen das Widerfahrnis des Todes zur beherrschenden Lebenserfahrung werden lassen und damit in einer bis dahin unbekannten Tiefe eine radikale Krise des Lebensverständnisses heraufbeschworen. Es ist als Reflexion dieser fundamentalen Lebenskrise des 20. Jahrhunderts zu verstehen, wenn Martin Heidegger in seiner Existentialanalytik des menschlichen Daseins das Leben als ein »Sein zum Tode«1 definiert. Jene grundstürzende Verunsicherung unseres gesamten Lebensverständnisses, -verhaltens und -gefühls, der keine traditionelle Lebensphilosophie (z. B. Wilhelm Dilthey) oder idealistische Lebensverklärung Stand zu halten vermag, ist keineswegs überwunden. Vielmehr zeigt sich gegenwärtig jener »Verlust der Mitte« lediglich in anderem Gewand, wenn die einen sich blindlings ins Vergnügen stürzen, während andere sich resigniert in die Einsamkeit eines langweiligen Alltags zurückziehen. Je größer unsere Möglichkeiten zur Gestaltung des Lebens werden, desto weniger wissen wir, was wir mit ihnen anfangen und wie wir mit ihnen umgehen sollen. Wir wissen vielleicht zu viel über das Leben und verstehen zu wenig zu leben. So kommt es, dass wir uns den Zumutungen des Lebens nur allzu häufig - unsicher, orientierungslos, abgestumpft - verweigern, sei es in der historischen Distanz bürgerlicher Selbstgenügsamkeit oder durch die gnostisierende Flucht in einen christlichen, wissenschaftlichen bzw. selbstgezimmerten Elfenbeinturm oder durch die radikale Verneinung im Selbstmord.
In einer solchen Situation kann das biblische und namentlich das alttestamentliche Lebensverständnis einige wegweisende Orientierungspunkte geben, die zwar nicht die Lösung aller heutigen Lebensprobleme bedeuten - man sollte sich vor derartigen übertreibenden und unglaubwürdigen Behauptungen in Acht nehmen -, die aber dazu helfen können, sich in der Vielfalt von Lebensmöglichkeiten und dem Chaos von Lebensunfähigkeit zurechtzufinden.
Da es heute alles andere als selbstverständlich ist, das eigene oder das Leben anderer zu akzeptieren und zu achten, vielmehr Verachtung, Angst und Verneinung des Lebens um sich greifen, gehört es mehr denn je zum Evangelium der christlichen Botschaft, das natürliche Leben als gute Gabe und Geschenk des Schöpfers zu verstehen und das geschichtlich sinnentleerte oder zerrüttete, weil verschuldete Leben, das seine Existenzberechtigung verwirkt hat, als von Christus übernommenes und vergebenes Leben zu verkündigen, das durch ihn von neuem bejaht und zu Stand und Wesen gebracht wird. Es bedarf eines bewussten Glaubensaktes, das eigene und fremde Leben mit seinen Irrungen und Wirrungen anzunehmen2 und als Chance zu be- und ergreifen. Wir können heutzutage gar nicht genug von der alttestamentlichen Lebensbejahung lernen, weil sie uns am meisten fehlt. Auch die Klage über ein vergebliches, nichtiges Leben (vgl. Prediger 1,2 f.) gewinnt erst auf dem Hintergrund der bejahten Gabe (vgl. Prediger 3,12 f.) ihre Dringlichkeit und Tiefe.3 Søren Kierkegaard nennt die Verzweiflung die eigentliche Lebenssünde der Christen4 und Friedrich Nietzsches Vorwurf, den man nicht mit dem billigen Hinweis auf die Unsichtbarkeit des Glaubenslebens abtun sollte, weist in ähnliche Richtung: »Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!«5 Wenn Lebensmut und Lebensfreude Gaben des Evangeliums sind, warum leben dann so viele Christen ängstlich und verkrampft?
und ihnen generell ein christliches Begräbnis zu verweigern. Wie Jeremia (20,14 ff.) und Hiob (3,11 ff.) sich mit Selbstmordgedanken herumgetragen haben, kann ein ausweglos gewordenes Leben in einer verzweifelten Grenzsituation zu jenem verzweiflungsvollen Schritt führen (vgl. Jochen Klepper).
Es kann heute nicht mehr genügen, mit dem antiken Christentum oder einem neuzeitlichen Naturalismus das Leben als einen zeitlosen, immer wiederkehrenden Rhythmus eines ewigen »Stirb und Werde« zu verstehen oder sich mit Goethe an den Busen der holden und guten Mutter Natur zu schmiegen.7 Der Gott Israels weist sein Volk mit der Gabe des kreatürlichen Lebens in die Aufgabe der geschichtlichen Verwirklichung ein. Leben bedeutet also, einen zeitlich begrenzten, einmaligen und unumkehrbaren Weg zu gehen, der sein Ziel erreichen wie verfehlen kann. Lebenserfüllung gewinnen wir nicht in stoischer Distanz auf der Zuschauertribüne (»ohne mich«), sondern im Engagement des Interesses (interesse = dabei-, dazwischen sein) für das Leben anderer. Das konkrete Eintreten Jesu für die Befreiung des unterdrückten, verdrängten, verratenen und »lebensunwerten« Lebens versperrt den Christen die Flucht in weltabgewandte fromme Selbstgenügsamkeit oder jenseitssüchtige Schwärmerei und verpflichtet sie stattdessen zur Teilnahme an dem konkreten gegenwärtigen Leben der Zeitgeschichte. »Die Sünde taugt nicht länger als Alibi für die Verleumdung des Lebens und der Welt«.8 Jesu Sterben für das Leben seiner Feinde lässt die Menschen nicht länger »ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung [.] hingeben«,9 vielmehr ruft und befreit es zur Annahme der Zumutungen des Alltags.
Das einsame »gezeichnete Ich« Gottfried Benns kann nach biblischem Verständnis nicht als die Regel, sondern lediglich als Grenzfall des Lebens gelten. Vielmehr leben wir in der Gemeinsamkeit aller Geschöpfe, des Volkes, der Gesellschaft, der Kirche, der Familie und des Gegenübers von Mann und Frau. Damit ist die Sozialität des Lebens gegeben. Wir leben nicht als geschlossene und voneinander isolierte Monaden (Leibniz) nebeneinander, sondern in Angewiesenheit aufeinander, Offenheit füreinander und Gesellschaftlichkeit miteinander. Angesichts der heutigen Möglichkeiten, hilfreich oder zerstörend in das menschliche Leben einzugreifen, haben wir in weitaus höherem Maß als frühere Zeiten die Gestaltung und Vernichtung des Lebens für- und miteinander zu verantworten. Diese soziale Verantwortung werden wir nur in der Dankbarkeit für die Gabe des Schöpfers und in der durch Christus neu begründeten Bejahung des Lebens recht übernehmen, ertragen und zum Guten wenden können.
Zum menschlichen Leben gehören auch Leib und Geist. Dabei handelt es sich nach biblischem Verständnis nicht um zwei konkurrierende Begriffe, die auf einen griechischen Geist-Leib-Dualismus hinauslaufen, vielmehr um zwei zusammengehörige Ganzheitsaussagen über das Leben.
Asketische Negation, christlich-gnostische Abwertung sowie fromme Verdächtigung des leiblichen Lebens und seiner schöpfungsmäßigen Funktionen haben keinen Anhalt an dem Hauptstrom der biblischen Überlieferung. Warum verstehen gerade häufig die Christen so wenig, den Schrei der hungernden Völker nach »Notdurft und Nahrung des Leibes und Lebens«11 angemessen zu beantworten?
Das Johannes-Wort: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Johannes 14,6) weist die Richtung, in der der »Sinn« des Lebens zu...
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