1. Kapitel
Sommer 1979
Lina, hast du Lust, mit mir eine Runde auf dem Motorrad zu fahren?«, sagte Lina und drückte ihr Kinn an den Hals, um aus ihrer Kehle möglichst tiefe Töne zu pressen. »Und hinterher könnten wir zum Jugoslawen gehen und Cevapcici essen«, fügte sie im Bass hinzu. Dann musste sie lachen, ihre Stirnfalten glätteten sich, und ihre Stimme nahm wieder normale Tonhöhe an. »Genau das hat er gesagt.«
»Und dann frisst er wieder eine Platte für zwei Personen, weil du keinen Bissen runterkriegst, und merkt es noch nicht einmal«, kommentierte ihre Freundin Renata und gab ihr Feuer.
Lina nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch geräuschvoll aus.
»Hei, ich bin heilfroh, dass ich das Lateinabi geschafft habe. Bauer hat in den letzten Wochen ja nur noch von diesem Passionsspiel geschwafelt«, stöhnte Renata.
»Ja, er ist halt mit Leib und Seele Oberammergauer. Möglicherweise kann er nächstes Jahr sogar den Jesus spielen.« Lina merkte, wie Stolz in ihr aufstieg.
»Wie immer?«, unterbrach Pippo ihr Gespräch.
»Nein, heute nicht, ich brauche einen Fernet«, sagte Lina.
»Für mich auch«, fügte Renata hinzu, »on the rocks, bitte!«
Die Eisdiele Venezia war bis auf den letzten Tisch besetzt. Sie saßen drinnen, weil sie draußen keinen Platz bekommen hatten. Über ihnen brummte ein Ventilator, der die verrauchte Luft träge umwälzte.
»Ich sag's dir, Süße, heute bist du fällig. Zuerst will er dir ein bisschen Angst einjagen auf seiner dicken BMW und dann runter mit der Lederkluft und ab ins Kornfeld.«
»Oh mein Gott, Renata, ich bin ja so aufgeregt. Ich bin jetzt keine Schülerin mehr und er nicht mehr mein Lehrer.«
»Genau, dein Pauker kann dich jetzt schnicken, ohne vom Schuldienst suspendiert zu werden . Aber stell dir mal diese Schlagzeile vor: Der Oberammergau: Jesusdarsteller nagelt ehemalige Schülerin, das klingt auch nicht gerade kirchenkonform.«
Lina brach in schallendes Gelächter aus.
»Oder Herrgottschnitzer schneidet sich ins eigene Fleisch.«
»Hör auf«, brüllte Lina, »ich muss sonst lachen, wenn ich mit ihm schlafe.«
Pippo stellte ihnen zwei tulpenförmige, bis zum Rand gefüllte Likörgläser hin.
»Wie geht es Signora Romina?«, fragte er leise. Trotz der Hitze trug er ein schwarzes Jackett. Aber er schwitzte gewaltig, und seine dünnen schwarzen Haare klebten wie Bindfäden auf der Kopfhaut.
»Meiner Oma geht's gut«, sagte Lina, »ich soll Ihnen auch einen schönen Gruß ausrichten.«
Pippos angestrengter Gesichtsausdruck lockerte sich auf der Stelle und verwandelte sich in ein seliges Lächeln. Dann wurde er an den Nebentisch gerufen.
»Auf die Götter!« Renata hob vorsichtig ihr Glas.
»Auf den Olymp!« Lina nahm einen großen Schluck der dunklen scharfen Flüssigkeit. Sie brauchte jetzt etwas, das ihren Magen beruhigte. Sie war so aufgeregt, dass sie jetzt noch nicht mal ein Eis runterbekommen würde.
»Treffen wir uns hinterher?«, fragte Renata.
»Klar, ich ruf dich an, sobald es geht«, versprach ihr Lina und trank ihr Glas aus. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich nach hinten, hielt sich die Haare hoch, um sich etwas Abkühlung im Nacken zu verschaffen.
»Du kannst Tag und Nacht anrufen.« Renatas Blick wanderte über die Tische. »Kein einziger gescheiter Kerl hier. Ich muss nachher mal hoch zu Alberto, der schläft bestimmt noch. Kannst du mir mal sagen, warum Italiener ständig pennen? Wenn diese Italos nur nicht so verdammt gut aussehen würden!«
Lina sah auf die Uhr. Zehn vor zwei. Um zwei wollten sie sich vor seiner Garage treffen.
»Immer mit der Ruhe, Süße, lass ihn ein bisschen schmoren!«
»Und wenn er ohne mich fährt?« Lina hob das leere Glas noch mal an ihre Lippen und trank das geschmolzene Eis.
»Dann ist ihm nicht mehr zu helfen. Du bleibst jetzt noch zwanzig Minuten hier sitzen, ich spendiere uns noch einen. Pippo! Noch zwei Fernet!«, rief Renata nach draußen, wo er gerade zwei ältere Damen abkassierte.
»Und seine Freundin? Diese . Mechthild? Meinst du, er verlässt sie, wenn er mit mir geschlafen hat?«
»Vergiss Schmechthild! Allerdings kommt es schon darauf an, wie du dich anstellst«, sagte Renata und zog im schnellen Abstand mehrfach die Brauen hoch.
»Vielleicht findet er meinen Busen zu klein?«
»Dann findest du eben auch etwas zu klein an ihm.«
»Das wäre der Hammer!« Lina lachte. »Aber vielleicht ist er ja enttäuscht, dass ich keine Jungfrau mehr bin.«
»Lieber Himmel, in diesem Käsenest leben sie aber wirklich noch hinter dem Mond. Eindeutig zu viel Maria und Josef! Pass nur auf, dass Bauer demnächst nicht noch über die Donau geht.«
». besser als über den Jordan«, giggelte Lina.
Pippo stellte ihnen die Getränke hin, und Renata wartete einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Okay, dann musst du halt einfach lernen, dich wie eine Jungfrau aufzuführen. Das wirst du wohl noch hinkriegen!« Renata schloss die Augen und stöhnte: »Oh, nein, nicht, aua, aua, oh, oh, oh, guuut, meeehr!«
Ein paar Gäste drehten die Köpfe. Renata rollte mit den Augen und zog eine Grimasse.
»Auf die Liebe!«
»Auf den Sex!«
Beide nahmen einen kräftigen Schluck.
»Und das Blut?«, fragte Lina.
»Sag mal, wir sind doch nicht in Sizilien, wo sie die Laken wie Trophäen raushängen! Oder kannst du dir vorstellen, dass er morgen früh das blutverschmierte Betttuch wie die Nationalflagge auf dem Marktplatz hisst?«
Lina kicherte. Sie bückte sich, um zu seinem Fenster hochzusehen. Viel konnte sie nicht erkennen, die Markise vor der Eisdiele versperrte ihr die Sicht.
»Er hat immer so stolz erzählt, dass Schmechthild noch Jungfrau sei. Bestimmt ist es wichtig für ihn. Meine Oma hat erzählt, dass es in Sizilien viele Mädchen gab, die mit Tomatensoße getrickst hätten.« Lina zog die Schultern hoch und klemmte die Hände zwischen die Oberschenkel. Ihre Füße wippten unentwegt.
»Deine Tage hast du nicht zufällig?«
»Nein, eben nicht, bin gerade fertig damit, deshalb kann heute auch nichts passieren.«
»Okay«, sagte Renata und kratzte sich am Kopf. »Dann muss ich jetzt eben noch zu Gubi.«
»Gubi?«
»In den Supermarkt! Eine Tube Tomatenmark kaufen.«
»Oh mein Gott, nein! Renata!«
»Hör zu, Süße, nach der Nummer kleckst du einfach ein wenig davon aufs Laken.«
»Und wenn er was merkt?«
»Männer schlafen nach dem Sex eh immer ein, mach dir also keinen Kopf.« Renata schaute auf die Uhr und stand auf. »Ich bin gleich wieder da.«
Lina packte sie am Arm und versuchte, sie festzuhalten.
»Ist das dein Ernst?«
»Klar, Süße, für dich tue ich doch alles. Unter einer Bedingung: dass du mir erzählst, wie es war, und vor allem, wie er war. Ich brauche das für meine Studien.«
»Versprochen!«
»Bis gleich! Trink noch einen, du hast ja eiskalte Hände!«
Renata schlängelte sich durch die Reihen und ging nach draußen. Lina nahm noch eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Pippo kam an ihren Tisch.
»Noch was zu trinken, Signorina Lina?«
»Lieber nicht.« Ihr war schon leicht schwindelig.
Lina bückte sich noch etwas tiefer und blickte über den Marktplatz. Ihr ehemaliger Lehrer wohnte in dem Apartmenthaus direkt gegenüber. Er war zum Greifen nahe. Heute würde es geschehen, das wusste sie. Sie atmete tief durch. Bestimmt war er schon an der Garage und wartete dort auf sie. Es war bereits kurz vor zwei Uhr. Was sollte sie nur machen, wenn er gleich mit dem Motorrad hier vorbeirasen würde? Dann wäre alles umsonst gewesen. So eine Chance bekam man nur einmal im Leben.
Lina kramte ein kleines Notizheft aus dem Rucksack und blätterte darin.
Der Abiball! Dahinter waren fünf Herzen gemalt.
Zuerst hatte sie mit ein paar Jungs aus ihrer Klasse getanzt: Steckrüben-Rudi hatte bei Nights in White Satin seine Rübe an ihr rechtes Bein gedrückt, dasselbe bei Child in Time mit Schraubenzieher-Willi. Es gab immer eine langsame und eine schnelle Runde. Ausgerechnet diese beiden Samenstaububis hatten sich eine Engtanzrunde mit ihr ausgesucht. Danach wurde sie von Alberto aufgefordert, und sie hatte zu den fetzigen Rhythmen der Stones ihre langen Haare dermaßen durch die Luft gewirbelt, dass sie danach reif für eine Pause an der Bar gewesen war.
Dann war ER gekommen, Herr Bauer. Sie hatte ihn sofort erspäht, wie er sich seinen Weg durch die schwarze, zuckende Menge gebahnt und mit ein paar Leuten gesprochen hatte. Es hatte bei den Theaterproben schon mächtig geknistert, wie würde das erst sein, wenn sie gleich mit ihm tanzen würde? Flugs hatte sie sich vom Barhocker geschwungen und war in Richtung Toilette gegangen.
»Ah, Herr Bauer, hallo«, hatte sie gegen Deep Purple angebrüllt.
»Lina!«, hatte er sie begrüßt, und ein Lächeln hatte seine angestrengten Gesichtszüge entspannt.
Es hatte noch eine halbe Stunde gedauert, bis sie sich zu den Klängen von Fleetwood Macs Albatross im Takt bewegten. Es war unheimlich schwer gewesen, Abstand zu halten. Wie zwei Magnete hatten sich ihre Körper angezogen und wollten aneinanderklatschen, aber eine gewisse Scheu hielt Lina zurück. Bis sie von hinten geschubst wurde. Renata, eng an Alberto geschmiegt, hatte wohl kurz das Gleichgewicht verloren und den Rempler verursacht. Lina war an ihren Lehrer gedrückt worden und dann einfach so verblieben. Die Arme um seinen Hals geschlungen, ihren Busen an seiner Brust, mit nur zwei dünnen Stofflagen...