Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
JULIA
Sie stieg aus dem überfüllten Zug und sah ihm hinterher, wie er nach Osten weiterfuhr, in die Innenstadt. Wie so oft überkam sie das Gefühl von Einsamkeit. Tagsüber verschwand es wieder, aber in der Dämmerung packte es sie und ließ sie nicht mehr los. Es hatte einen Puls und scharfe Krallen. Und war ziemlich bedrohlich. Sie sehnte sich nach Thor und hoffte inständig, dass er schon zuhause war.
Abends meldete sich immer die Traurigkeit, die ihr neuer Job in ihr auslöste. Wie ein Nachbeben. Nach dem Abschluss der Schule mit dem Schwerpunkt Sprache hatte sie sich ins Berufsleben gestürzt. Zwei Monate hatte sie jetzt schon bei dem Webmagazin MODA gearbeitet, das hauptsächlich von jungen Karrierefrauen gelesen wurde. Nachdem sie durch Zufall erfahren hatte, dass die Redaktion eine Assistentin suchte, hatte sie sich beworben. Und irgendetwas schien sie auch richtig gemacht zu haben, denn sie boten ihr sofort den Job auf Probezeit an.
Am Anfang hatte es sich wie ein Traumjob angehört, mit einem angemessenen Einstiegsgehalt und attraktiven Zusatzleistungen wie gratis Make-up und Klamotten. Aber das war, bevor sie ihre Chefin Susanna Asker kennengelernt hatte. In kürzester Zeit bestand Julias Aufgabe nun darin, ihr wie ein Lakai nicht von der Seite zu weichen. Der Kaffee hatte noch keine Gelegenheit gehabt abzukühlen, da verlangte Susanna bereits einen neuen. Und wenn sie ihn verschüttete - was ihr wegen der ausladenden Gesten ziemlich häufig passierte -, erwartete sie, dass Julia auf dem Boden herumkrabbelte und die Pfütze wegwischte. Aber auch diese Erniedrigung hätte sie ertragen und wegstecken können, wenn nicht die Überzeugung in ihr gewachsen wäre, dass sie einfach nicht in diese Redaktion passte. Sie schminkte sich kaum. Mode interessierte sie auch immer weniger. Und in einer Arbeitsumgebung, die ausschließlich aus Frauen bestand, fühlte sie sich sowohl verloren als auch deplatziert. Sie hatte sich bei MODA beworben, weil sie schreiben wollte. Viele Themen interessierten sie, menschliche Schicksale, Klimawandel, sogar Politik fand sie spannend. Außerdem war sie von Natur aus neugierig und scheute nicht davor zurück, Fragen zu stellen. Nicht einmal die unangenehmen.
Ein kalter Wind riss an ihren Haaren und trieb ihr die Tränen in die Augen. Es fing an zu regnen, kleine messerscharfe Tropfen fielen ihr in den Nacken. Es war erst Ende August, aber der Herbst hing schon in der Luft. Sie schüttelte sich das Wasser aus den Haaren, ging die Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf. Es roch nach Thor, aber die Leere, die ihr entgegenschlug, verriet, dass er noch nicht zuhause war. Die Wohnung gehörte Thors Großmutter, die sie ihm untervermietet hatte. Als Julia ihren Job in Göteborg antrat, waren sie zusammengezogen und teilten sich die Miete.
Thor und Julia waren beide zu schnell erwachsen geworden, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Julia hatte sich immer reifer und weiter als ihre gleichaltrigen Freunde gefühlt. Sie war früh in die Pubertät gekommen und auch damit aufgezogen worden. Und dann, später, als die anderen Mädchen auch so weit waren und Julia zu hören bekam, dass sie dankbar für ihr Aussehen sein sollte, war es praktisch unmöglich, den Leuten zu klarzumachen, dass das unmöglich war. Es war schlicht und einfach zu spät. Thor hingegen hatte in der Sekte ein sehr rigides und diszipliniertes Leben geführt und war genötigt gewesen, sich früh um sich selbst zu kümmern. Während Julia in Uddevalla ihre Schule beendete, besuchte sie Thor in Göteborg so oft es ging. Seit sie sich eine Wohnung teilten, waren sie sich noch nähergekommen. Ihre Freundschaft hatte sich weiterentwickelt und eine Tiefe bekommen, die keiner von beiden so richtig greifen konnte.
Seit Julia ihn vor zwei Jahren kennengelernt hatte, hatte sich Thor sehr verändert. Physisch betrachtet war aus dem Jungen ein Mann geworden. Obwohl Thor rote Haare hatte und sein Vater pechschwarze, konnte Julia eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen. Vor allem in der Körpergröße und dem kräftigen Körperbau, aber auch die ausgeprägte Kieferpartie, die hohen Wangenknochen und die gerade Nase ergaben Übereinstimmungen. Sogar in der Art und Weise, wie er manchmal die Worte fast unerträglich deutlich aussprach, ähnelte er seinem Vater. Ansonsten aber hatten sie kaum etwas gemeinsam. Franz besaß eine Ausstrahlung, die Julia so noch bei keinem anderen Menschen erlebt hatte. Bei ihrer ersten Begegnung war ihr sofort aufgefallen, dass seine Augen im Sonnenlicht bernsteinfarben leuchteten. Er hatte den Blick eines Raubtieres, dem aber die Wärme nicht fehlte. Das war verwirrend. Seine Person und seine ganze Erscheinung hatten etwas Überirdisches. Er schien über allem zu schweben, erhöht und unbeeindruckbar.
Thor dagegen besaß eine fast unwiderstehliche Kombination aus physischer Robustheit und seelischer Verletzlichkeit. Eine schwere Kindheit und familiäre Tragödien hatten ihn schneller erwachsen werden lassen als Gleichaltrige und tiefe Spuren in seinen schönen Augen hinterlassen, die einem wesentlich älteren Menschen zu gehören schienen. Allerdings hatte sich in ihrer Beziehung ein Problem herauskristallisiert. Es gab mittlerweile eine magische Zeitspanne, die Julia seinem Blick standhalten konnte. Wenn sie diese allerdings überschritt, war sie von dem Gedanken besessen, mit ihm zu schlafen. Dann blieb sie an seinen Lippen hängen und stellte sich vor, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, oder sie warf verstohlene Blicke auf seine langen schmalen Hände.
Es war nicht so einfach. Man bricht nicht das Herz seines besten Freundes, und das würde sie, wenn sie ein Paar wären, wahrscheinlich eines Tages tun. Julia war rastlos, entwurzelt und fühlte sich meistens zu sehr viel älteren Männern hingezogen. In dem verzweifelten Versuch, den emotionalen Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, hatte sie Thor schon empfohlen, andere Mädchen zu daten. Als er aber zu Julias großer Verwunderung tatsächlich ein Mädchen kennenlernte, wurde sie wahnsinnig eifersüchtig. Sie redete hinter ihrem Rücken schlecht über sie und unternahm alles Mögliche, um die Beziehung zu zerstören. Thor durchschaute es sofort und machte sich lustig über sie. Vor kurzem hatte er tatsächlich mit der Begründung Schluss gemacht, dass er sich auf seine Noten konzentrieren wollte. Und auf ihre Freundschaft.
Julia selbst hatte zwei kurze Beziehungen mit Männern gehabt, die beide schon Ende zwanzig gewesen waren. Die Bindungen waren aber zerbrochen und hatten sie enttäuscht und voller unerfüllter Erwartungen zurückgelassen. Sie dachte an Thor und vermisste ihn, wenn sie mit anderen Typen zusammen war. Dann fragte sie sich, was er gerade tat, mit wem er Zeit verbrachte und ob er an sie dachte. Am Ende hatte sie ganz aufgehört, Männer zu treffen.
Thor war in seinem letzten Jahr vor dem Abitur und hatte vor, in Göteborg Journalismus zu studieren. Ursprünglich wollte er Lehrer werden. Dann aber hatte er von einem jungen Mann gelesen, der allein auf Weltreise gegangen war, darüber einen Dokumentarfilm gemacht und diesen medial verwertet hatte. Seitdem wollte Thor Gesellschaftsreportagen schreiben. Und ihm gelang alles, was er sich vornahm. Diese Zielstrebigkeit hatte er von seinem Vater geerbt. Auch Julia war talentiert, wenn es darum ging, sich mit Worten auszudrücken, und diese Leidenschaft verstärkte das Band zu Thor noch zusätzlich.
Sie machte im Flur Licht an, ging in Thors Zimmer und schaltete das Radio ein. In der Wohnung war es stickig, sie zog die Gardinen im Wohnzimmer auf und sah aus dem Fenster hinunter auf die Taxis, die wie wütende Wespen durch die Straßen fuhren, und auf die Passanten, die nach Hause hetzten. Der Regen hatte zugenommen. Am Himmel türmten sich dunkle Gewitterwolken. Unter dem schweren Ballast der Einsamkeit fühlte sie sich immer furchtbar alt. Als würde ihr Leben vorbei sein, noch bevor es richtig begonnen hatte. Sie legte sich aufs Sofa und umklammerte eines der Kissen. Seit sie ein kleines Mädchen war, liebte sie es, nachts etwas Weiches, Warmes in den Armen zu halten. Sie drückte ihre Nase in das Kissen und atmete den schwachen Duft des Waschmittels ein, das Thor und sie benutzten. Und plötzlich, ganz überraschend stand er im Wohnzimmer.
Er trug einen Wollpullover mit viel zu langen Ärmeln und eine ausgeblichene Jeans. Seine Haare waren nass und die Wimpern schwer von Regentropfen. Julia setzte sich auf.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie und war von ihrer durchdringenden Stimme selbst überrascht.
»Ich habe meinen Vater besucht.«
Vater. Das Wort nahm den ganzen Raum ein. Jedes Mal, wenn sie es hörte, wurde sie in die Vergangenheit katapultiert.
Thor setzte sich neben sie.
»Aha. Und wie geht es ihm?«, fragte sie.
»Hervorragend«, antwortete er und verdrehte die Augen. »Er hat den Laden dort praktisch übernommen. Die Krankenschwestern finden ihn niedlich. Er sollte sich lieber eine anständige Arbeit besorgen, aber mit seinem Blutgeld lebt er dort offensichtlich ganz gut.«
»Thor .«, sagte sie mit vorwurfsvollem Blick. »Warum gehst du da immer wieder hin? Danach bist du immer wütend .«
»Er ist doch mein Vater.«
»Ja, und?«
»Er hat mich nie im Stich gelassen, anders als meine Mutter. Er hat mir zwar immer furchtbare Angst eingejagt, aber er hat mich nie geschlagen. Manchmal hat er mich sogar verteidigt.«
»Natürlich hat er dich geschlagen.«
»Aber nicht als Kind«, betonte Thor. »Nur ein einziges Mal, und damals war er in der Funktion eines Vorgesetzten. Da war ich auch schon lange...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.