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THOR, GEGENWART
Da war es für ihn vorbei. Nie zuvor hatte er etwas so Unüberlegtes getan. Jetzt war er arbeitslos, und das zu einem Zeitpunkt, als seine Karriere gerade Fahrt aufgenommen hatte. Er spürte eine tiefe Erschöpfung, die ihn fast lähmte, sein Körper hatte seine Adrenalintoleranz ausgeschöpft.
Zunächst konnte Thor es gar nicht glauben: Eine Stelle auf Probezeit wurde ihm angeboten, bei einem der beliebtesten schwedischen Videoblogs. Im Rahmen seines Journalistikstudiums hatte er dort im Frühjahr ein Praktikum absolviert. Der Vlog hieß Lügenfabrik und wurde von zwei Männern namens Vincent und Adam betrieben. Sie beschäftigten sich eher auf humorvolle Art mit gesellschaftlichen Themen und machten sich über Politiker und Prominente lustig. Witze und Sticheleien gehörten zu ihrem Jargon. Die Männer vermittelten ungezwungene Spontaneität und waren ziemlich schlagfertig.
Thors Aufgabe bestand darin, mit einer Kamera durch die Stadt zu laufen und den einfachen Leuten Fragen zu stellen. Manchmal wurde er auch losgeschickt, um einen Prominenten zu interviewen, immer mit vorgegebenen und eher zynischen Fragen. Glücklicherweise war er in der Lage, zu improvisieren. Ausgewählte Filmausschnitte wurden dann veröffentlicht und von Vincent und Adam kommentiert. Mit seinen Interviews hatte Thor es geschafft, die Sendung an die Spitze der Charts zu bringen.
Auch wenn der Job nicht mehr als ein Sprungbrett zu etwas Größerem sein konnte, so war er doch ein Arbeitsplatz mit Zukunftsperspektiven. Das Massensterben von Tages- und Wochenzeitungen galt als eine unbestreitbare Tatsache, auf der anderen Seite verzeichneten aber Blogs eine wachsende Anzahl von Followern.
Während seines Praktikums hatten ihn die Kollegen scherzhaft den Praktikanten genannt, sogar live im Fernsehen. Der Praktikant war in der Stadt unterwegs oder Jetzt hat der Praktikant ein Interview mit .
Es hatte ihn eigentlich nicht gestört, schließlich war er ja tatsächlich ein Praktikant. Aber als man ihm einen Job anbot, konnte man ihn nicht mehr so nennen, und da Vincent und Adam seinen Hintergrund kannten, begannen sie, ihn immer öfter den Sekten-Typen zu nennen.
Es schien Thors Schicksal zu sein, ständig daran erinnert zu werden, dass er der Sohn des inzwischen geradezu mythischen Sektenführers Franz Oswald war, obwohl die Sekte schon vor Jahren aufgelöst worden war und Thor das alles längst hinter sich gelassen hatte.
»Du bist nicht deine Eltern. Du bist nicht für ihre Handlungen verantwortlich. Du kannst auch nicht für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.« Ja, theoretisch mochte das so sein. In der Praxis war es aber etwas anderes. Franz' Schatten schwebte ständig über ihm, ganz egal, was er tat.
Als er Vincent und Adam sanft darauf hinwies, dass er diesen Spitznamen nicht mochte, brachen die beiden in Gelächter aus. Dann arbeitest du aber am falschen Ort, mein Lieber. Hier muss man ertragen, wenn einem auf die Füße getreten wird. Paradoxerweise machten sie allerdings nie Witze über sich selbst, dachte Thor.
An dem besagten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, nagte das Geschehene auch wieder an ihm. Er stieg aus der Straßenbahn und wurde von einem strahlend blauen Sommerhimmel geblendet. Das graue Wetter von gestern hatte sich in Sonnenschein verwandelt. Es war Anfang Juli, und Göteborg zeigte sich von seiner schönsten Seite, mit vielen Menschen auf den Straßen und überfüllten Straßencafés. Trotzdem bekam Thor die Füße kaum hoch, er wollte einfach nicht zur Arbeit gehen.
Vincent und Adam dagegen waren in Topform und gerade so weit, die Sendung aufzunehmen, als er im Studio ankam. Hier schien alles modern, stilvoll und unaufdringlich zu sein. Thor sah immer bei der Aufnahme zu, normalerweise aber auf Abstand. Ihm gefiel es, seine Filmausschnitte in Echtzeit zu sehen, außerdem wollte er unbedingt engagiert wirken. Manchmal wurden auch Gäste ins Studio eingeladen, aber nicht an diesem Tag. Adam drehte sich um und schenkte Thor ein vieldeutiges Lächeln. Vincent begann die Sendung mit ein paar Witzen, dann schwenkte er die Kamera so, dass Thor im Hintergrund zu sehen war, und sagte:
»Der Sekten-Typ sieht heute aus wie etwas, das die Katze angeschleppt hat. Wahrscheinlich ist Papa Psychopath wieder auf ihn losgegangen.« Er drehte die Kamera erneut um, und die Männer lachten schallend über den Witz.
Thor senkte den Blick, damit sie nicht sehen konnten, wie sehr ihn das verletzt hatte. Während er auf den Boden starrte, setzte sich etwas in ihm in Gang, wie eine leichte Brise. Die plappernden Stimmen der Männer traten in den Hintergrund. Er konnte ihrem Gespräch schon nicht mehr folgen, das mittlerweile auch zu einem männlichen Politiker abgedriftet war, den Adam einen verweichlichten Vollpfosten nannte.
Warum verhielten sich die beiden überhaupt so widerlich? Hatten sie denn überhaupt jemals etwas Gutes getan? Wie viele Menschen hatten sie mit ihrer Art schon verletzt und gedemütigt? Plötzlich sah er alles mit großer Klarheit. Als lichte sich ein Nebel. Thor wusste, dass die Lügenfabrik von mehreren wohlhabenden Sponsoren unterstützt wurde, über die Adam und Vincent in ihrem Programm niemals ein schlechtes Wort verloren. Sie glauben allen Ernstes, sie wären über jede Korruption erhaben; dabei waren sie in Wirklichkeit doch nicht mehr als ein peinlicher Bluff. Die Überzeugung, an die er sich monatelang geklammert hatte - dass sein Job von Bedeutung war und große, gesellschaftliche Themen aufgriff -, löste sich in Rauch auf. Den Glauben an etwas zu verlieren, für das man sich so engagiert, kann äußerst schwerfallen. Aber in Thors Fall dauerte es nicht einmal eine Minute. Plötzlich klangen Vincent und Adam wie Hyänen. Sie strahlten etwas Kaltes aus. Das unangenehme Gefühl im Nacken, das er sich wahrscheinlich nur einbildete, stellte sich zeitgleich mit der Erkenntnis ein, dass er von diesen beiden Männern einfach abhängig war.
Nach der Sendung sprang er auf.
»Ich kündige«, sagte er. »Ich habe keine Lust mehr auf diesen Scheiß.«
Mit offenen Mündern starrten ihn Vincent und Adam an.
»Dieser Job ist nichts für mich, aber trotzdem - vielen Dank für die Zeit bei euch.«
Damit verließ er den Raum, bevor es zu einer Diskussion kommen konnte. Er hörte sie noch rufen: Wir machen doch nur Spaß. Aber er drehte sich nicht mehr um.
Als er seine Wohnung betrat, überkam ihn eine überwältigende Leere. Er sah in den Ganzkörperspiegel im Flur, seine Augen glänzten fiebrig. In diesem Augenblick hätte er Julia an seiner Seite gebraucht. Wenn sie verreist war, vermisste er sie so sehr, dass es fast wehtat. Wenn sie dagegen zusammen waren, fügte sich alles. Die Welt bekam schärfere Konturen. Sie waren seit über drei Jahren ein Paar, aber er hatte sich schon viel früher in sie verliebt. Liebe auf den ersten Blick sozusagen. Als wäre er von einem Virus befallen worden, so hatte sich das angefühlt. Ihre Gefühle für ihn hatten sich hingegen erst nach Jahren der Freundschaft entwickelt. Sie führten eine glückliche Beziehung. Die Leidenschaft war nicht verglommen, und die meiste Zeit über waren sie sogar unzertrennlich, wenn sie nicht gerade für einen Redaktionsjob unterwegs war, was in letzter Zeit immer häufiger vorkam. Zurzeit befand sie sich für eine Reportage in Spanien. Die Zeitschrift, für die Julia arbeitete, Aktuellt Land, hatte eine neue Abteilung eingerichtet, Aktuellt Land Ausland, und so wurde Julia von Zeit zu Zeit in verschiedene Länder geschickt. Die Aufträge verschlangen sie förmlich. Wenn sie einmal angebissen hatte, schottete sie sich praktisch von der Außenwelt ab. Seit sie als Journalistin arbeitete, ging es mit ihrer Karriere steil bergauf, obwohl sie keine journalistische Ausbildung hatte. Julia war einfach ein Naturtalent. Manchmal war es anstrengend, einen solchen Menschen zu lieben und mit ihr zusammenzuleben, weil man gleichzeitig auch ein bisschen neidisch war und dachte: Und was ist mit mir? Ich habe doch alles richtig gemacht.
Er setzte sich auf das Bett im Schlafzimmer und sah in den blauen Himmel vor dem Fenster. Die Wohnung, die er mit Julia teilte, befand sich in einem Gebäude aus der Jahrhundertwende und gehörte Thors Großmutter. Hohe Decken und viel Licht, aber leider waren sie gezwungen, von allen Zimmern aus auf Häuserfassaden zu starren. Nur im Schlafzimmer zeigte ein Fenster auf einen Park. Das Bett knarrte traurig unter seinem Gewicht, als er auf dem Rücken lag. An der Decke drehte sich eine verirrte Fliege im Kreis, als hätte sie den Gleichgewichtssinn verloren, und schien genauso verwirrt, wie Thor sich fühlte. Dieses beunruhigende Gefühl kannte er gut. Es trat immer dann auf, wenn er etwas Untypisches machte. Das war die Art und Weise, wie ihn sein Unterbewusstsein strafte. Aber auf dem Bett zu liegen und an die Decke zu starren, würde ihm jetzt auch nicht helfen.
Er setzte sich auf und rief Julia an. Sie ging sofort ans Telefon. In einem langen Satz ohne Atempause erzählte er ihr alles, was passiert war. Julia reagierte ganz anders, als er erwartet hatte.
»Ich habe dich von Anfang an vor diesen Schweinen gewarnt. Gut, dass du gekündigt hast.«
»Aber, Julia! Ich bin jetzt arbeitslos.«
Sie schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen.
»Ja, aber keine Panik. Das wird sich alles regeln.«
»Was ist, wenn ich kein gutes Zeugnis von ihnen bekomme, außerdem verdiene ich im nächsten Monat kein Geld und .«
»Ich glaube, ich habe verstanden, was du sagen...
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