Schweitzer Fachinformationen
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Als mir zum ersten Mal eine Zukunft als alte Jungfer vorhergesagt wurde, war ich sechzehn und Austauschschülerin in den USA. Wir schrieben das Jahr 1981. In der Kleinstadt an der Grenze zwischen Arizona und Kalifornien hatte noch nie jemand so eine Frisur gesehen, wie man sie zu Hause im Salon Alt Wien schnitt, und auch keine Jeans der Marke Mac Free. Außerdem war mir offenbar der Umgang mit Damenrasierern partout nicht beizubringen, und das reichte, um mich als fremde Art abzustempeln.
Als eine Freundin meiner Gastfamilie zu Besuch kam, fühlte sie sich bemüßigt, mir eine Nachhilfestunde über das Leben junger Mädchen in Amerika zu geben.
Wir saßen auf einem geblümten Sofa, und alles war schrecklich amerikanisch, von den Polyesterhosen der Frau bis zur Limonade in unseren Tupperware-Bechern. Sie hielt mir einen Vortrag, ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Erst als sie erklärte, wie ein Date mit einem amerikanischen Jungen funktionierte, wurde ich hellhörig. Händchenhalten im Kino klang super. Harmloses Rumknutschen ebenfalls. So super, dass ich nicht bemerkte, wie mein selbst ernannter Dating-Coach mich musterte und die ganze Zeit säuerlich lächelte. Oder vielmehr sah ich es, wollte es aber nicht wahrhaben. Als die Frau plötzlich innehielt, lachte und die Spur wechselte, traf es mich völlig unvorbereitet. Wie eine verbale Salve in den Hinterkopf.
»But don't you worry, honey! Nobody will ever want to date you!«
Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Schätzchen. Dich will eh niemand haben.
Die Worte bohrten sich in mich hinein und setzten sich an einer Stelle fest, wo ich sie heute noch spüre. Wie bei einer Kugel, die zu tief in das Gehirn des Verletzten eingedrungen ist. Es ist zu gefährlich, sie herauszuoperieren. Ich hätte in Tränen ausbrechen, aus dem Zimmer laufen sollen, aber der Angriff lähmte mich vollständig. Ich konnte die Worte nur in mich aufnehmen, und sie verschmolzen mit den Ansichten, die ich sowieso schon über mich hatte.
Natürlich! Das hatte ich doch schon immer gewusst. Ich war zu komisch, um jemals einen Jungen abzubekommen, immer schon gewesen. Für mich gab es keine Rettung. Nichts hatte sich geändert, nur weil ich in die USA gereist war.
Anfangs schien noch alles möglich zu sein. Auf jeden Fall ebenso möglich wie für alle anderen. Für jeden Topf gab es einen Deckel. Das war allgemein bekannt, und niemand hatte je etwas anderes behauptet. Die Frage war nur, wie und wo sie zueinanderfanden.
Der Erste, dem ich verfiel, hieß Ulf. Er trug einen braunen Rollkragenpulli und hatte die dicksten Haare von allen in meiner Spielgruppe. Manchmal, wenn mein Blick auf seine Mütze aus Haaren fiel, wurde ich von einer heftigen Lust ergriffen, die Hände darin zu vergraben, Zöpfchen zu binden und mit Schleifen und Klämmerchen zu schmücken, ihn so kräftig zu bürsten, bis er schrie. Aber die Liebe zu Ulf fand hauptsächlich in Gedanken statt. Ich hatte irgendwo gehört, dass man, wenn man richtig verliebt ist, die ganze Zeit an die auserwählte Person denkt. Man muss die Liebe ständig »im Kopf« haben. Oder noch besser, ganz tief im Gehirn, so tief in seinen Windungen, dass sie nie wieder herauskann. Ich glaubte, die Liebe finde statt, solange ich an Ulf dächte. Sobald ich nicht mehr an ihn dächte, und sei es nur ein paar Sekunden, werde die Liebe sofort aufhören.
Manchmal kam ich dieser Grenze gefährlich nahe. Wenn ich in die Kiste mit den kleinen Autos abtauchte oder wenn ich mich in die Kuschelecke zurückzog und in einem Nest aus Cordkissen vergrub, dann war ich glücklich im Spiel versunken, und Ulf entwischte aus meinen Gedanken. Kaum fiel mir das auf, bekam ich Angst - war die Liebe schon vorbei? - und musste doppelt so intensiv an ihn denken. In diesem Jahr dachte ich so viel an Ulf, dass mein Kopf sich ganz wund anfühlte, wie kaputt geträumt.
In der Grundschule lief es mit der Liebe anders. Fragezettelchen zu verteilen oder gar tatsächlich mit jemandem zu »gehen« war mir zu komplex. Ich neigte stattdessen zu Hitlisten. »Die zehn besten Jungs« war viel besser als »die zehn besten Eissorten«. Das Auswahlverfahren berauschte mich, machte mich grausam. Ich studierte die Klassenfotos mit dem Blick eines Maharadschas, auf der Jagd nach meinem Harem. Du nicht, du nicht, du nicht, du nicht. Damals wusste ich es noch nicht, aber das waren kurze Momente von Freiheit in einem Leben, in dem die Wahl nicht bei mir lag, sondern bei den Jungen.
Wann traf mich diese Erkenntnis? Vermutlich schlich sie sich im Laufe meiner Schulzeit ein. Da entstand eine Trennungslinie zwischen den Echten Mädchen und den Unechten Mädchen. Schon in der dritten, vierten Klasse werden die ersten Grenzlinien gezogen, und ich ahne bereits da, nein, ich weiß es, dass ich auf der falschen Seite stehe. Ich habe eine Zahnspange und widerspenstiges Haar, wie ein Meerschweinchen mit Wirbeln. Außerdem bin ich in den meisten Fächern schlecht, in denen Mädchen angeblich gut sind.
Am schlimmsten sind die Bastelstunden. Bei der Vorstellung von Osterküken bin ich noch freudig erregt und kann mir alles Mögliche ausdenken. Das Küken könnte einen Hut tragen. Oder Shorts mit Hosenträgern, wie die singende Trapp-Familie. Wenn ich dann mit einem unförmigen Ball aus Federn, Klebstoff und Styroporkugeln in den Händen dasitze, bin ich total frustriert. Es gibt eigenartige Kinder, die von den Erwachsenen gemocht werden, rebellische Kinder, deren Selbstständigkeit und Stärke immerzu als Ideal hochgehalten werden. Aber ich bin keine Pippi. Die Erwartungen, die in den Siebzigerjahren an ein Mädchen gestellt werden, kann ich nicht erfüllen. In den Pausen meide ich Gummitwist und Seilspringen. Am liebsten sitze ich auf einem Felsen im Wald, zusammen mit einer besten Freundin, und schaue den Begräbnissen auf dem Friedhof zu, oder ich arbeite an der gefälschten Felszeichnung, mit der wir die Archäologen der Zukunft verwirren wollen (»Was? Ein Steinzeitschiff von 1973!«, werden sie ausrufen. »Wie ist das nur möglich?«). Bei der Wahl der Kerzenmädchen für den Lucia-Umzug bringe ich nicht die nötigen Voraussetzungen mit, das weiß ich. Mit neun Jahren mache ich etwas Unerhörtes: Ich schreibe meinen eigenen Namen auf den Stimmzettel.
Der Impuls ist stark und unüberwindlich. Die Hand mit dem Stift schreibt wie von allein. Als wüsste sie bereits, wie meine Zukunft aussieht, und wollte so lange wie möglich aufschieben, was vor mir liegt. Ich versuche, meine Handschrift zu verstellen, so krakelig und hässlich wie die eines Jungen. Vielleicht denken die anderen dann, ich hätte einen heimlichen Verehrer. Jemanden, der in mir etwas sieht, was die anderen nicht sehen. Als ich meinen Zettel zusammenfalte und zu den anderen aufs Katheder lege, rauscht es in meinem Kopf vor Panik, aber ganz tief in der Panik sitzt auch eine zitternde Erwartung. Vielleicht reicht diese eine Stimme ja, um mir später einen Platz auf dem Beifahrersitz eines Mopeds der Jungen zu verschaffen.
Ich sehe es immer noch vor mir. Die Mädchennamen an der Tafel. Meiner ganz unten, mit nur einem Strich. Mein gestohlener Platz im Kreis der Begehrenswerten. Vielleicht begann da mein Leben als alte Jungfer.
Im antiken Griechenland gab es die Vorstellung, dass die ersten Menschen mit zwei Gesichtern, vier Beinen und vier Armen geboren wurden. Laut Platon war es der Gott Zeus, der die Menschen in einem Wutanfall auseinanderhieb und sie zu einer lebenslangen Jagd nach der verlorenen anderen Hälfte verurteilte. Ein paar Tausend Jahre später, als ich in der Oberstufe bin, sind solche Ideen immer noch im Schwange. Die Lehrer sprechen aufgeregt und undeutlich von dem neuen, erwachsenen Leben, das vor uns liegt. Als könnten sie es gar nicht erwarten, dieses großartige Leben mit uns zu teilen. Wann würde es bei mir anfangen? Ich strenge mich wirklich an, diese Gefühle in mir zu spüren, von denen sie die ganze Zeit reden, aber ich mache mir nur Sorgen, ich könnte etwas Falsches fühlen.
Als der Biologielehrer uns zwingt, Kondome und Verhütungsschaum genau anzuschauen und weiterzureichen, stelle ich mich so ungeschickt an, dass er ärgerlich wird. Ich soll die Tube mit dem Schaum festhalten, brüllt Lehrer Anders. Richtig fest halten! Nicht zittern, als hielte ich eine Flasche mit Gift in der Hand. Verhütungsschaum ist was ganz Normales, meint er. Genau wie Chlamydien! Petting! Vorzeitiger Samenerguss! Alles ganz normal!
Drei Jahre lang warte ich intensiv, dass die Normalität auch mich erreicht. Aber nichts passiert. Die Trennungslinie zwischen mir und den Normalen wird zu einem Abgrund. Ich bin pickelig, schüchtern, sozial unbeholfen und rutsche in der Hierarchie immer weiter nach unten. Undenkbar, dass ich mich für die Jungen in der Schule auch nur interessiere. Mit meinem niedrigen Platz in der Hackordnung besitze ich nicht das Recht, mich den Jungen zu nähern, nicht einmal in Gedanken. Deshalb lebe ich in einer Fantasie, dass der große Jemand anderswoher kommt. In meinen besten Fantasien heißt der immer Bosse und kommt aus einer größeren Stadt, meist aus Göteborg. Er ist vielleicht Tänzer und hat bereits im Alter von sechzehn gute Chancen auf eine Bühnenkarriere in Moskau - oder Bosse ist einfach nur nett und trägt einen Dufflecoat. Wenn er kommt, verwandle ich mich in diejenige, die ich eigentlich bin.
Werden wir hinters Licht geführt? Denke ich an die Jahre in der Grundschule zurück, fühlt es sich wirklich so an. Die Erwachsenen sagten damals kein Wort über die Möglichkeiten von Liebe, die es jenseits der Heteronorm gibt, und das war ja schon schlimm genug. Doch obendrein wurde Zweisamkeit als Naturgesetz dargestellt, ungefähr wie die Schwerkraft. Es klang wie ein Versprechen. Nicht so sehr von den Erwachsenen, sondern vom Leben als...
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