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Lilje
Der Busfahrer ließ den Mann einsteigen. Im schwachen Nachtlicht sah sie einen dunklen Haarschopf und ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und ausgeprägtem Kinn. Interessiert beugte sich Lilje vor, als er direkt in ihre Richtung blickte. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Fast so, als wäre er es gewohnt, von Frauen angestarrt zu werden.
Verlegen sah sie beiseite, lehnte sich zurück und lauschte neugierig, worüber die beiden Männer sprachen. Doch sie verstand kein Wort, obwohl der Sprechrhythmus vertraut klang. Normalerweise konnte Lilje einer auf Schwedisch geführten Unterhaltung problemlos folgen, mit ihrer Familie hatte sie als Kind einige Jahre in Göteborg gelebt. Während ihres Aufenthalts wollte sie dies allerdings nach Möglichkeit verschweigen, denn so ein kleiner Vorteil war gelegentlich recht hilfreich.
Was auch immer die Männer besprochen haben mochten, sie kamen schnell zu einer Einigung. Der Spätankömmling hob seinen Koffer hinein, die Tür schloss sich zischend, und der Bus setzte sich in Bewegung. Als er an ihrem Sitz vorüberging, glaubte Lilje, seinen Blick auf sich zu spüren, und ihr Herz schlug plötzlich schneller. Der Platz neben ihr war frei. Allerdings hatte sie die dicke Winterjacke darauf ausgebreitet, als Hinweis, dass sie lieber ungestört bleiben wollte. Sollte sie sie beiseiteziehen? Bevor sie eine Entscheidung getroffen hatte, war er schon vorbei. Offensichtlich hatte er ihr Signal verstanden, aber vielleicht hatte er auch ebenso wenig Lust auf eine Unterhaltung wie sie.
Die Gespräche der Mitreisenden und das Gedudel aus den Buslautsprechern blendete Lilje mit ihrer eigenen Musik aus. Sie spürte mehr, als dass sie hörte, wie allmählich Ruhe einkehrte.
Zum Lesen war sie zu müde, und für die folgenden Tage wollte sie bewusst keine Pläne machen. Laut Jan hatte das Tourismusbüro in Jokkmokk angekündigt, ein umfangreiches Programm zusammenzustellen. Also bitte, dann würde sie sich überraschen lassen. Jan hatte diese Brita auf einer Fachmesse in Berlin kennengelernt und damit angegeben, wie locker die Schwedinnen in Sachen Erotik seien.
Lilje nahm an, dass Sprüche wie diese der Grund für den ärgerlichen Reisetausch waren. Seine Affäre mit der Chefredakteurin war noch frisch, und jemanden wie Jan ließ man nicht ohne Folgen aus den Augen.
Besser, man lässt sich mit so einem gar nicht erst ein, dachte Lilje. Jan hatte sie beim letzten Quartalstreffen in Berlin, wo der Verlag sein Büro betrieb, auch abschleppen wollen. Obwohl er charmant sein konnte, hatte sie sich nicht für ihn interessiert, und schließlich musste er wohl bei der Chefin gelandet sein. Wahrscheinlich kam sein Interesse an Lilje ohnehin nur daher, dass sich unter den Kolleginnen hartnäckig das Gerücht hielt, sie stamme aus einer wohlhabenden Familie und arbeite nur zum Zeitvertreib. Dass dies leider nur halb der Wahrheit entsprach, zeigte sich an jedem Monatsende auf ihrem Konto, aber die Leute glaubten eben, was sie glauben wollten. Sollte sich ihr Kollege neben dem Vergnügen auch die Vorteile einer Affäre versprechen, und darauf würde sie wetten, war ihre Chefin für ihn eindeutig die bessere Wahl.
Ein anderes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Benoît war auch so einer gewesen. Sie hatte ihn bei einer Reportage über den Club Med kennengelernt und sich in den sexy Barkeeper verliebt. Die Sterne hatte er ihr vom Himmel holen wollen und war sogar so weit gegangen, unter ihrem Balkon aufzutauchen, um ihr ein Ständchen zu bringen. Sie hatte natürlich geahnt, dass er es nicht ernst meinte, aber ihn schon am dritten Abend knutschend mit einer anderen zu erwischen, war dennoch ziemlich ernüchternd gewesen.
Ihre beste Freundin Ida hatte über Liljes Empörung nur gelacht. »Von One-Night-Stands solltest du dich lieber fernhalten, wenn du dich immer gleich verliebst.«
Vermutlich hat sie recht damit, dachte sie. Der französische Filou hatte ihrem Herzen einen Stich versetzt, und sosehr sie sich auch bemühte, die Liebelei auf die leichte Schulter zu nehmen, ganz gelang es ihr nicht, zu vergessen, wie verletzt sie sich gefühlt hatte. Den Rat befolgte sie seither jedenfalls, und es ging ihr nicht schlecht damit.
Weil es im Bus sonst nichts zu tun gab, sah sie zwischen den Sitzen hindurch nach vorn auf die Straße. Frisch gefallener Schnee glitzerte im Licht der Straßenbeleuchtung, doch schon bald verließen sie bewohntes Gebiet, und die Scheinwerfer auf der eisigen Piste waren die einzige Lichtquelle, sah man vom farbigen Schein der Instrumente im Cockpit des Busses ab. Wenn ihnen Fahrzeuge begegneten, wirkte die Straße zwischen den Schneebergen für einen kurzen Augenblick beunruhigend schmal. Zwei lange Stunden sollte die Fahrt dauern, hatte es in ihren spärlichen Unterlagen geheißen. Zu Beginn vertrieb sie sich die Zeit damit, die Minuten zu zählen, bis ihnen ein Fahrzeug entgegenkam. Doch bald wurden die Abstände immer länger, und sie lauschte dem gleichmäßigen Brummen des Motors. Dabei hoffte sie darauf, dass der Fahrer in der warmen Luft nicht ebenso schläfrig werden würde.
Als im Bus Unruhe entstand, erwachte sie aus ihrem Schlummer und sah hinaus. Vor ihnen fuhr ein Schneepflug durch wirbelnde Flocken, die hohe Straßenbeleuchtung reichte gerade weit genug, um helle, mit Lichterketten geschmückte Holzhäuser erkennen zu lassen.
Ob die von Weihnachten übrig geblieben waren? Oder erfüllten sie die Sehnsucht der Menschen nach Licht, die in diesen langen Nächten am Polarkreis überwältigend sein konnte, wie sie auf ihrer Islandreise eindrücklich erfahren hatte.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach Mitternacht war. Das hier musste also Jokkmokk sein. Sie streckte sich, um wach zu werden. Der letzte Schluck Wasser aus der Plastikflasche war warm und schmeckte abgestanden.
Ihr Bus bog in eine Seitenstraße ein und hielt vor einem bunt geschmückten Haus.
»Kvikkjokk Hus«, kündigte Anders an und begleitete vier Fahrgäste hinaus, um deren Koffer aus dem Bauch des Busses zu holen. Als er wieder einstieg, folgte ihm ein eisiger Luftzug. Das wiederholte sich einige Male, bis sie vor einem hellgrau gestrichenen Gebäude hielten, vor dem Fackeln im Schnee brannten. Mit den beleuchteten Fenstern wirkte es einladend, aber als die zu neuer Munterkeit erwachte Reisegruppe hier ausstieg, war sie ganz froh, in einem anderen Hotel zu wohnen. Ob das tatsächlich ein Vorteil sein würde, wusste sie natürlich noch nicht. Auf ihren beruflichen Reisen war es häufig erstaunlich, welche Unterkünfte die Leute lokaler Tourismusbüros für repräsentativ hielten. Sie war schon in normalerweise unerschwinglich luxuriösen Resorts untergebracht worden, aber auch in ziemlich schäbigen Absteigen.
»So, dann haben wir nur noch dich.« Anders kam herein, zog die Handschuhe aus und rieb sich die Hände. »Dein Hotel ist genauso schön«, sagte er mit einem Zwinkern, als ahnte er ihre Gedanken. Ruhig steuerte er den Bus durch die menschenleeren Straßen, und es dauerte nicht lange, bis sie vor einem rot gestrichenen Gebäude im typisch skandinavischen Stil hielten. Lilje schloss ihre Jacke, bevor sie ihm in die kalte Nacht hinaus folgte und zitternd darauf wartete, dass er ihren Koffer herausgab.
»Ist das deiner?«, fragte jemand auf Englisch. Erschrocken fuhr sie zusammen. Hinter ihr stand der Spätankömmling von vorhin. Er hielt ihren Schal in der Hand.
»Oh, thanks a lot! Den hätte ich glatt vergessen«, antwortete sie ihm verlegen.
Nachdem Anders sich verabschiedet hatte, bot der Mann an, ihr das Gepäck zum Haus zu tragen.
»Danke, der Koffer hat ja Rollen«, sagte sie überrascht.
»Na dann .«
Als sie das Hotel betraten, schlug ihnen trockene, warme Luft entgegen. In der Lobby war niemand zu sehen, aber nach kurzer Zeit erschien eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, an der Rezeption und lächelte den Mann an. »Guten Abend Juha, ich wusste gar nicht, dass du dieses Jahr bei uns wohnst«, begrüßte sie ihn vertraulich auf Schwedisch.
»Hej, Trixi. Das war eigentlich auch nicht geplant, aber Petter hat kurzfristig sein Haus komplett vermieten können.«
Die Rezeptionistin nickte. »Ich weiß, er ist mit der Familie auf den Campingplatz gezogen. Das machen dieses Jahr viele, mein Bruder auch«, erklärte sie leutselig, besann sich dann aber auf ihre Aufgaben. »Würdet ihr die Anmeldung bitte ausfüllen? Ihr könnt euch da hinten hinsetzen, da sind auch Stifte.« Sie legte zwei Klemmbretter auf den Tresen und rief über die Schulter: »Ich bin gleich zurück.«
Auch das noch. Sehnsüchtig warf Lilje einen Blick auf ein Schild mit der Aufschrift Toalett und einem entsprechenden Symbol. Das Einchecken konnte ja nicht so lange dauern, dachte sie, zuckte mit den Schultern und ging zu der Sitzgruppe. Der Mann namens Juha folgte ihr. Unterwegs streifte sie sich den kirschroten Thermomantel von den Schultern und zog ihre Handschuhe aus. »Ziemlich warm hier«, sagte sie, um irgendetwas zu sagen. Dabei ließ sie sich auf eine Bank fallen. Ihren Rucksack stellte sie neben sich ab und stieß dabei versehentlich ein Kissen hinunter. Ehe sie sich danach bücken konnte, hatte er es schon aufgehoben.
»Allerdings.« Er öffnete den Reißverschluss seines gepolsterten Polarparkas und bedachte Lilje mit einem kleinen Lächeln, das ihre Innentemperatur spontan weiter ansteigen ließ. Unter der Jacke, auf der sie das dezente Schafslogo einer teuren Marke erkannte, kam ein schwarzer Pullover mit Zopfmuster zum Vorschein, dazu trug er eine dunkelgraue Hose. Es war...
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