Kapitel 1
Ostallgäu, Ende Juli 2019
Der Regen prasselte an die Scheibe, als wären es keine Tropfen, sondern wütende Geschosse, die das Glas zum Zerbersten bringen wollten. Die Niederschläge der letzten Tage hatten den Zufahrtsweg aufgeweicht. Schlammige Pfützen füllten die Schlaglöcher in der Erde.
Seltsam. Wenn Franzi auf Reisen war, störte sie der Regen selten. Sie erinnerte sich an den warmen Schauer in den Weinbergen der Toskana. An den Wolkenbruch, der sie in Singapur überrascht hatte. Innerhalb von Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt gewesen, und es hatte ihr nichts ausgemacht. Der peitschende Sturm, der beim Campen in den Pyrenäen an der Plane ihres Zeltes gerüttelt hatte, war ihr als ein guter Grund erschienen, sich eng an ihren Begleiter zu schmiegen.
Das Treiben vor dem Fenster draußen verhieß dagegen kein Abenteuer, keine Romantik. Franzi fröstelte.
Gleich musste sie wieder hinaus, um die letzten Möbel, die ihre Eltern mitnehmen wollten, in den Transporter zu laden.
Ihr Blick verweilte noch für einen Moment auf den grünen Weiden hinter ihrem Elternhaus, die durch den Schleier des Regens dunkel und schmutzig wirkten.
Die letzte Kuh hatten die Eltern schon vor einigen Wochen verkauft, jetzt hatte auch der Hof einen Abnehmer gefunden.
Dieser war nach dem Arbeitsunfall ihres Vaters zur Last geworden, die Landwirtschaft für ihre Mutter Irina allein nicht mehr zu bewältigen.
Schweren Herzens hatten sich die Eltern entschlossen, ihr Heim zu verkaufen. Franzis Geschwister lebten in der Nähe und waren an diesem Tag gekommen, um dabei zu helfen, das Haus auszuräumen. Sie selbst hatte ihren Aufenthalt in Amsterdam abgebrochen, um ihren Eltern daheim unter die Arme zu greifen.
Daheim.
Zu Hause fühlte sie sich hier längst nicht mehr, obwohl sie zwischen ihren Reisen häufiger auf dem Hof im Ostallgäu unterschlüpfte. Meist zog es Franzi bereits nach wenigen Tagen wieder fort. In die Fremde, in der sie ihre Sehnsucht nach Abwechslung und Abenteuer stillen konnte.
Der Drang nach Freiheit meldete sich auch jetzt wieder mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust. Sie atmete tief durch, konzentrierte sich darauf, wofür sie gekommen war.
»Sieh nach, ob du etwas behalten willst, der Rest kommt in den Container.« Mit diesen Worten hatte ihre Mutter Franzi in ihr altes Kinderzimmer geschickt.
Unten polterte es. Franzi hörte ihren Bruder fluchen und die Stimme ihrer Schwester, die ihn zurechtwies. Es roch nach gerösteten Zwiebeln, die in der Pfanne für ein deftiges Mittagessen brutzelten.
Franzi ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, der ihr nun klein und beengt vorkam. Als Kind hatte sie sich darin verloren gefühlt. Die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen, hatte sie die Muster der Vorhänge betrachtet, die sich im Mondlicht in unheimliche Kreaturen verwandelten. Sie erinnerte sich, wie sie sich gezwungen hatte, die Augen zu schließen, und ängstlich den Geräuschen des Hauses gelauscht hatte, die ihr eigentlich vertraut waren - das Knacken des Gebälks, das Quietschen des kaputten Fensterladens im Wind. Wenn die Katze die Mäuse über den Dachboden jagte, drangen Laute wie von einem fernen Galopp zu ihr herunter. Damals hatte ihr Herz vor Aufregung gepocht.
Meistens war sie dann zu ihrer Schwester Sonja ins Bett gekrochen, die den nächtlichen Besuch jedes Mal mit einem Brummen kommentierte und Franzi in die Arme zog. Eingemummelt in das dicke Federbett, begleitet von Sonjas gleichmäßigen Atemzügen, war sie schnell in den erlösenden Schlaf gesunken.
Franzi musste schmunzeln. Heute wäre es sogar noch kuscheliger bei ihrer Schwester im Bett. Als Mutter von drei Kindern hatte sich die ehemals gertenschlanke Sonja ein paar Polster an den richtigen Stellen zugelegt. »Ein Notdepot für schlechte Zeiten«, beliebte sie zu scherzen. Wenn ihr die Jungs kaum Luft zum Atmen ließen, half eben nur Schokolade, verteidigte sich Sonja stets. »Du wirst schon noch sehen. Wenn du selbst Kinder hast, wirst du dich auch von deiner Kleidergröße sechsunddreißig verabschieden müssen.«
Franzi öffnete die Tür des Schranks und sah ein paar Stapel Klamotten durch, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Die Drohung ihrer Schwester kostete sie nur ein müdes Lächeln. Sie bewunderte Sonja für deren Stärke und Elan. Sie selbst empfand es als ungemein anstrengend, sich länger als eine Stunde mit ihren Neffen zu beschäftigen. Immer nörgelte einer, oder es gab Streit. Vielleicht war sie nicht dazu geschaffen, eine Mama zu sein.
Mit ihrem modernen Nomadendasein wäre ein Kind ohnehin nur schwer zu vereinbaren. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals darauf zu verzichten. Nicht, ohne einen Teil von sich selbst aufzugeben. Wahrscheinlich würde sie verrückt werden, sich eingesperrt fühlen.
Sie löste sich von ihren Gedanken und verließ das Zimmer. Darin befand sich nichts, das einen Wert für sie besaß. Im Moment hatte sie keinen festen Wohnsitz, und auf ihren Reisen wäre alles nur Ballast.
Sie nahm die erste Stufe, um sich wieder unter das arbeitende Volk im Erdgeschoss zu mischen. Etwas hielt sie zurück, ließ sie in der Bewegung erstarren.
Es war nur so ein Gefühl, dass sie noch etwas vergessen hatte.
Ihr Blick wanderte zu der Tür, hinter der die Wohnung ihrer Großmutter lag, die nun schon so viele Jahre ungenutzt war. Eine bescheidene Kammer und ein Bad mit Dusche hatten dieser vollkommen genügt, bis Alzheimer eine Rundumbetreuung nötig gemacht hatte. Vor knapp zehn Jahren war sie schließlich von ihrem Leiden erlöst worden.
Ein mulmiges Gefühl überkam Franzi, als sie die Räume betrat und ihr der Geruch ihrer Großmutter entgegenschlug.
Als wäre sie nie fortgegangen.
In dem kleinen Weihwasserbecken neben der Tür hatte sich Staub angesammelt. Ein Detail, das wohl beim Generalputz übersehen worden war. Franzi ließ die Fingerspitze über das fein säuberlich gemachte Bett gleiten. Die Nähmaschine ihrer Großmutter stand am Fenster. Franzi zog die unterste Schublade des massiven Unterschranks ruckelnd heraus. Sie waren immer noch da: eine Million bunter Knöpfe in den unterschiedlichsten Farben und Formen, gesammelt in einer großen Schüssel. Als Kind hatte sie das jedenfalls gedacht, sich fest vorgenommen, alle zu zählen. Fast sah sie ihre Großmutter schmunzelnd neben sich im Schaukelstuhl sitzen.
»Das hört sich nach einer Menge Arbeit an. Nur zu! Ich habe hier einen Berg Socken zu stopfen. Wenn wir fertig sind, mach ich uns Pudding.«
Franzi griff hinein und ließ die Knöpfe durch ihre Finger zurück in die Schale rieseln.
Wehmut überkam sie. Machte ihr die Aufgabe des Hofes doch mehr aus als gedacht?
An der Wand hing ein Foto von der kleinen Franzi. Sie musste etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als es aufgenommen worden war. Ihre dunklen Augen blitzten zornig, die Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen. Schuld war eine Haarspange gewesen, die ihr die Mutter für das Kindergartenfoto aufgezwungen hatte.
Franzi stellte fest, dass sie sich seit Kindertagen kaum verändert hatte. Ihre Gesichtszüge waren schmaler geworden, und ihr haselnussbraunes Haar trug sie immer noch schulterlang, nur kümmerte es heute niemanden mehr, ob sie sich morgens überhaupt kämmte. Manchmal entsprach sie mit ihrem Strubbel-Look sogar dem Trend, wichtig war ihr das allerdings noch nie gewesen.
Sie öffnete den niedrigen Bauernschrank, betrachtete die wenigen Kleidungsstücke darin. Es war ein sparsames Leben, das Anni geführt hatte.
Am Boden entdeckte sie das Nähkästchen, dessen Laden sich zu beiden Seiten stufenförmig ausziehen ließen. Auch damit hatte sie als Kind gespielt, es als Haus für Playmobilmännchen und Sammelfiguren aus Überraschungseiern genutzt. Ob sie eine darin vergessen hatte?
Beim Öffnen des Holzkastens wölbte sich ihr ein Bogen Papier entgegen. Eine Ecke hatte sich unterhalb der mittleren Etage verklemmt. Darauf bedacht, das Blatt nicht zu zerreißen, zog sie es heraus, und darunter kamen noch weitere Seiten zum Vorschein. Sie erkannte die Handschrift ihrer Großmutter. Noch während sie den ersten Satz las, wurde sie traurig.
Heute habe ich beim Eindecken die Löffel mit Gabeln verwechselt. Der besorgte Blick von Irina hat mir zu verstehen gegeben, dass mir so etwas in letzter Zeit häufiger passiert. Ich weiß, was das zu bedeuten hat, denn meiner Großtante mütterlicherseits ist es ebenso ergangen - auch wenn man damals noch keine Bezeichnung dafür kannte.
Das Vergessen ist nicht mehr aufzuhalten.
Vergessen. Die überwiegende Zeit meines Lebens wollte ich nichts anderes. Den Kummer. Den Schmerz. All das, was ich zurücklassen musste.
Noch ist die Alzheimerforschung nicht dahintergekommen, was genau diese Krankheit verursacht. Bestimmte Eiweißablagerungen spielen eine Rolle - so glaubt man. Ich habe eine andere Theorie:
Die Seele eines Menschen kann nur ein gewisses Maß an Leid ertragen. Ist dieses Maß voll, schaltet sich die Abwehr des Körpers ein. Wie das Immunsystem gegen Grippeerreger kämpft, verhindern andere Mechanismen den Zerfall der Seele - selbst wenn damit die Auslöschung aller Erinnerungen, die Zerstörung von Synapsen und Gehirnzellen einhergeht.
So ist es nun. Eine Entwicklung, die ich nicht aufhalten kann. Ich kenne die Verzweiflung und die Wut, so machtlos zu sein. Auch dieses Mal werde ich mich meinem Schicksal fügen.
Doch obwohl ich diesen Hof schon seit...