Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Irma zuckte zusammen, als Siiri schwungvoll die Wohnung betrat, mit ihrem eigenen Wohnungsschlüssel, der eigentlich gar kein Schlüssel war, sondern ein kleiner ovaler Knopf. Dieser Knopf öffnete wie von Zauberhand alle Türen im neuen Abendhain, er diente sogar als Zahlungsmittel in der Cafeteria und am voll automatisierten Selbstbedienungskiosk.
Darüber hinaus wusste dieser Knopf alles über sie, sicher weit mehr als Siiri selbst je über sich gewusst hatte. Sie musste sich auch nicht mehr ihre Sozialversicherungsnummer oder ihre Bankkarten-PIN in Erinnerung rufen, das war immerhin eine Erleichterung. Zum Öffnen der Türen musste dieser Knopf lediglich gegen einen der Kästen gehalten werden, die neuerdings die Wände auf den Fluren schmückten.
Das System schien unfehlbar zu sein - mit der kleinen Einschränkung, dass viele Bewohner von Abendhain den kleinen Knopf in regelmäßigen Abständen verloren oder verlegten. Die Gewitzten hängten ihn sich wie einen Kettenschmuck um den Hals. Siiri hatte ihren am Band ihrer Armbanduhr befestigt, und Irma zählte zu denjenigen, die ihn die meiste Zeit suchten.
Manchmal verweigerten die Kästen oder die Knöpfe ihre Mitarbeit, dann wedelte Siiri so lange mit dem Knopf vor dem Kasten herum, bis endlich das grüne Licht leuchtete und die Tür sachte aufsprang. Ab und zu vermisste Siiri die guten alten Türgriffe und Türen, die sie mit bloßen Händen hatte öffnen können.
»Genau, und denk doch mal an die armen Leutchen, deren Job es war, diese Schilder zu schreiben. Du weißt schon, die Schilder, auf denen stand, ob man die Tür aufdrücken oder zu sich hinziehen muss. Sind die jetzt alle arbeitslos? Das ist doch merkwürdig. Ist doch dumm, Geräte zu erfinden, die den Menschen ihre Arbeit wegnehmen«, sagte Irma, während sie in der Küche herumwuselte. Siiri hatte den Eindruck, dass sie ihr irgendetwas anbieten wollte, aber nicht wusste, was.
»Kuchen wäre fein«, sagte Siiri. »Oder . hast du etwa schon alles zum Frühstück gegessen?«
Irma starrte Siiri mit weit aufgerissenen Augen an und entgegnete bissig, fast wütend: »Woher weißt du denn, dass ich Kuchen gegessen habe? Ist auch das jetzt schon aller Welt bekannt? Ich werde noch verrückt hier. Meine Wand erzählt mir was von Schlafeffizienz und 78%, obwohl ich genau weiß, dass ich die ganze Nacht wach gelegen habe.«
Irma hasste den Gedanken, ständig unter Beobachtung zu stehen. Sie war überzeugt davon, dass sämtliche dieser hochtechnischen Installationen einzig diesem Zweck dienten: sie und die anderen Bewohner des Altenpflegeheims zu observieren und komplett zu durchleuchten. Auch jetzt, in diesem Moment, saß irgendwo ein Mensch, der ihnen gelangweilt bei ihren morgendlichen Beschäftigungen zusah. Vielleicht ja einer, der früher Schilder an Türen geklebt hatte oder eine der in den frühen Ruhestand entlassenen Gymnastikanimateurinnen.
Im Übrigen betonte Irma, dass die Kosten für diesen ganzen Unsinn am Ende die Alten würden tragen müssen. Wer auch sonst? Die staatlichen Förderungen dienten nur der Anschubfinanzierung, dieser Quatsch sollte allen Ernstes global vermarktet werden. Damit auch Pflegeheime in Indien und Südamerika in den Genuss von Knöpfen und Kästen kamen, zur Freude des finnischen Finanzministers.
»Du hast Kuchenkrümel in den Mundwinkeln«, sagte Siiri lächelnd, als Irma endlich einmal Atem holen musste.
»Ach so, stört dich das? Ich hole eine Serviette, hier auf dem Tisch müsste eine . warum liegt mein hübsches Tüchlein nicht auf dem Tisch, dieses rosarote mit meinem Namen, du weißt doch, das mit meinem Namen bestickte . ein Verlobungsgeschenk, feines Leinen. Ich habe ja keine Lust, die Tücher ständig in die Wäsche zu werfen, deshalb ist ihr Platz eigentlich hier auf dem Tisch. Warum musstest du jetzt eigentlich anfangen, über Kuchenkrümel zu reden? Ich wische meinen Mund einfach mit der Hand ab, siehst du? Jetzt alles gut? Wo waren wir noch mal stehen geblieben?«
Siiri verzichtete darauf, die Sache näher zu erläutern und ihr zu sagen, dass sie versehentlich auf dem Bildschirm an der Wand mit Krümeln im Gesicht erschienen war. Die Elektronik ihrer beiden Wohnungen war über irgendeinen Satelliten miteinander verbunden worden, damit sie sich kontaktieren konnten, ohne sich vom Sofa erheben zu müssen. Durchaus praktisch, dass musste man schon zugeben. Eine solche Satellitenverbindung herzustellen, war wohl in diesen Tagen eine ganz leichte Übung für gewiefte Computertechniker.
Auch Anna-Liisas Wohnung war angeschlossen worden, sodass einem virtuellen Kaffeekränzchen nichts im Wege stand. Und natürlich konnte diese Verbindung auch in ernsten Momenten ein Segen sein, für den Fall, dass die Sensoren unter dem Kopfkissen mal den Dienst verweigern und eine von ihnen gerade in diesem Moment sterben würde. Jeder Bewohner war verpflichtet worden, zwei sogenannte »Notfallfreunde« zu benennen, im Fall von Siiri waren das also Irma und Anna-Liisa. Das war im wahrsten Wortsinn »interaktive Altenpflege«.
Aber jetzt, und das war zur Abwechslung doch sehr schön, saßen Siiri und Irma ganz real, in Fleisch und Blut, an deren Frühstückstisch, in Echtzeit. Sie unterhielten sich, anknüpfend an Irmas Krümel-Malheur, darüber, dass es recht unangenehm war, an den Kinnpartien und Hälsen vieler Heimbewohner den Speiseplan der vergangenen drei Wochen ablesen zu können. Siiri fragte sich immer, warum die armen Leute das nicht bemerkten. Und seitdem es keine Pfleger mehr gab, gab es auch niemanden, der die Lätzchen bereithielt oder dafür sorgte, dass allwöchentlich einmal das Pyjama-Oberteil gewechselt wurde.
Irma erinnerte sich an ihre Cousine, die zuletzt bedauerlicherweise im Gesicht einseitig gelähmt gewesen war, sodass ihr das Essen immer seitlich aus dem Mund getropft war. Und das, obwohl sie ein riesiges Lätzchen getragen hatte. Das war immer ein wenig peinlich gewesen, besonders bei Familienfesten, die damals gelegentlich noch stattgefunden hatten. Irma schweifte ab und erzählte, zunehmend fröhlich, von ihren lustigen Cousinen und Cousins, gut gelaunte, gastfreundliche Menschen waren das gewesen, die das Kartenspielen und das Trinken geliebt hatten.
»Ach ja, gute Güte, ich habe doch ein lustiges Leben gehabt«, sagte sie und klatschte in die Hände. Dann sah sie Siiri an, unvermittelt wieder ernst. »Aber sie sind ja alle gestorben, meine fröhlichen Cousinen und Cousins.« Sie seufzte auf. »Ich habe niemanden mehr, nur noch dich, liebe Siiri.«
»Oh, du Ärmste«, sagte Siiri. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sie zumindest in diesem Moment ein eher schwacher Trost war.
Sie aßen ihren Kuchen und tranken Kaffee und schwiegen. Beide vermissten ihre Zeitung, aber sie spürten schon gar nicht mehr den Drang, sich darüber zu beschweren. Sie waren lange genug wütend darüber gewesen, dass viele Zeitungen nur noch online verfügbar waren. Sie hatten sogar bittere Briefe an den Chefredakteur der größten finnischen Tageszeitung, Helsingin Sanomat, geschrieben, und an den Konzernchef und die Geschäftsführer. Sogar nach Holland, wo aus unerfindlichen Gründen der Kundenservice saß, hatten sie eine Beschwerde gesendet, und auch der Vorsitzende des Verwaltungsrates und der Leiter der Abteilung »Gesamtgesellschaftlicher Auftrag« waren nicht verschont geblieben. Aber nur einer der Briefe war beantwortet worden, mit den Worten: »Zu Ihrem Kundenfeedback haben wir einen Twitter-Tweet erstellt unter #nachrichten #feedback #lobundbeschwerde #zufriedenekunden. Vielen Dank.«
Irma hatte auf ihrem Rechteck, diesem Tablet-Computer, natürlich Zeitungen abonniert, und jede Menge Zeug war ja angeblich in irgendwelchen Wolken verfügbar, aber sosehr sie sich auch bemühten, das Zeitunglesen machte auf dem Bildschirm einfach keinen Spaß. Das kleine Gerät wurde auch immer schmutzig, wenn man mit Kuchenkrümelfingern von einer Seite zur nächsten wischte. Und es waren ja eigentlich gar keine echten Seiten, sondern nur flimmernde Bilder, grafische Mogeleien, die so aussehen sollten, als seien sie Zeitungsseiten.
»Grafisch, das ist ein schönes Wort«, sagte Irma. »Da steckt irgendwie etwas Großes drin, etwas Massives. Grafisch wie ein Grabstein. Oder so.
»Jesus, Maria und Josef!«, schrie Irma plötzlich so laut, dass Siiri zusammenzuckte.
Hinter einem Vorhang schaute eine Ratte hervor, eine muntere, ganz lebendige Ratte, mit glänzendem Fell. Sie sah sich für einen Moment um und rannte dann zielstrebig los, auf leise trippelnden Pfötchen. Siiri und Irma schnappten nach Luft. Siiri spürte ein Stechen in der Schläfe, und Irma verschüttete Kaffee, der an ihrem blauen Kleid hinabtropfte. Als die Ratte zwischen ihren Beinen herumraste, schrien beide so ohrenbetäubend, dass das Tier umgehend wieder hinter dem Vorhang verschwand. Die Smartwand meldete sich aufgeregt zu Wort. »Der Alarm wurde ausgelöst! Kontrollieren Sie bitte umgehend den Feuermelder!«
Siiris Atmung beruhigte sich langsam. Sie hatte das Gefühl, 800 Meter rückwärtsgelaufen zu sein und zwischendurch einige Purzelbäume geschlagen zu haben. Ihr Herz pochte wild, setzte für einen beängstigend langen Moment aus und fing wieder an, heftig zu schlagen.
»Sie ist da lang gelaufen!«, schrie Irma und zeigte Richtung Küche.
»Die Gefahr ist gebannt! Keine Rauchentwicklung!«, teilte die Smartwand mit.
Irma stand auf und eilte entschlossen in die Küche. Sie rief laut und klapperte mit dem Geschirr, um der Ratte Angst zu machen, aber die war spurlos verschwunden. Siiri erhob sich mühsam von ihrem Stuhl. In ihren Ohren war...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.